Der Kopf schielt zum Fastfood, der Körper aber bräuchte Fisch
Ob ich meine Tochter dazu überreden könnte, mehr Fisch zu essen, wenn ich ihr sage, dass dann möglicherweise ihre Schulnoten besser werden? Klingt unwahrscheinlich, doch genau das besagt eine Studie, die nachweist, dass Kinder ihre kognitive Leistung steigern können, wenn sie alle zwei Wochen eine kleine Portion Fisch, nämlich 112 Gramm, konsumieren. Die Wahrscheinlichkeit für eine bessere Note in Mathe lag bei 16 Prozent, in Deutsch bei 19 Prozent. Fisch ist voll wertvoller langkettiger, mehrfach ungesättigter Fettsäuren, die einen positiven Einfluss auf unser Gehirn haben. Doch wie verheissungsvoll auch immer der Einfluss von Omega-3-Fettsäuren auf die Schulleistung ist, meine Tochter bevorzugt Burger mit Ketchup und Mayo.
Genau darin liegt die Krux. Der Kopf schielt zum Fastfood, der Körper aber bräuchte den Fisch. Burger & Co., Ketchup und Mayonnaise gehören zu den hochverarbeiteten industriell hergestellten Lebensmitteln. Eine Ernährung, auf die unser Körper eigentlich gar nicht eingestellt ist. «Biologisch und genetisch ist unser Körper auf dem Stand des Neolithikums», sagt Nicole Bender, Professorin für klinische Evolutionsmedizin an der UZH. Dieser Mismatch kann uns ganz schön zu schaffen machen.
Moderne Ernährung überfordert den Körper
Die Ernährung spielte bei der Entwicklung von den Hominoiden bis zum Menschen eine wichtige Rolle. Während gut fünf bis sieben Millionen Jahren hat sich das Genom des Menschen an sich verändernde Umweltbedingungen angepasst, vom späten Miozän bis ins Neolithikum, von den Vormenschen über die nomadischen Jäger und Sammler bis zu den sesshaften Hirten und Bauern vor etwa 7000 Jahren. Im Gegensatz dazu dauerte der Weg zur modernen Food-Welt keinen Wimpernschlag: Von der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zum heutigen Hightech-Food sind es gerade mal knapp 200 Jahre. Wie bloss soll da unser Körper mithalten? «Genetische Veränderungen brauchen Zeit», sagt Bender. Diese hatte unser Körper nicht, deshalb überfordert ihn die moderne Ernährung.
Ursache der Zivilisationskrankheiten
Das Ungleichgewicht zwischen unserer genetischen Ausstattung und der modernen Umwelt ist verantwortlich für viele Zivilisationskrankheiten. Dazu gehören Herz-Kreislauf- oder Stoffwechsel-Erkrankungen wie Diabetes oder Adipositas, Autoimmunkrankheiten, gewisse Krebsarten sowie psychische Störungen. Die moderne Ernährung konfrontiert unseren Körper mit hochverarbeiteten Lebensmitteln, in denen nicht nur Nährstoffe fehlen, sondern die auch angereichert sind mit zugesetztem Zucker, Salz, schlechten Fetten und körperfremden Zusatzstoffen. Die Rohstoffe für diese Produkte sind oft von schlechter Qualität.
Hinzu kommt, dass wir uns im Vergleich zu unseren Vorfahren kaum bewegen. Nach einem langen Arbeitstag greift man gerne nach der Fertigpizza in der Convenience-Food-Vitrine oder lässt sich den Burger von der Food-Delivery nach Hause bringen. Die Evolutionsbiologin nickt lächelnd: Der Körper will Energie sparen.
Nur brauchen wir heute zwischen (Home-)Office, Serienabend auf dem Sofa und Snacks aus der Mikrowelle nicht mehr so viel Energie wie unsere Vorfahren, die noch nach wilden Tieren jagten oder sich später auf dem Feld abrackerten. Heute jagen wir bestenfalls noch im Teamsport dem Ball nach oder stemmen statt Kartoffelsäcke Gewichte im Gym. Zur Belohnung gibt es einen Energydrink.
Grosse Gehirne brauchen Energie
Dabei hat es die Natur gut mit uns gemeint. «Heute kämpfen wir angesichts des Überflusses an kalorienreicher Nahrung gegen Übergewicht und Fetteinlagerungen», sagt Bender. «Der Bedarf an Fett war ursprünglich allerdings eine sinnvolle evolutive Einrichtung.»
Als vor über einer Million Jahren das menschliche Gehirn grösser wurde, wuchs auch der Energiebedarf entsprechend. Tatsächlich speichern Menschen aussergewöhnlich viel Fett im Körper. Eine schlanke Frau hat einen Fettanteil von 20 Prozent, eine Schimpansin hingegen hat nur 5 Prozent Körperfett. «Man vermutet», so Bender, «dass der hohe Fettanteil im menschlichen Körper mit der Versorgung des grossen Gehirns zu tun hat.»
Es muss gewährleistet sein, dass während einer Schwangerschaft und der Stillzeit genug Fettreserven da sind, um für die Gehirnentwicklung des Säuglings zu sorgen, erklärt die Evolutionsbiologin. Im Vergleich zu den Primaten hat der Mensch ein extrem energiehungriges Gehirn, das bei Erwachsenen 20 bis 25 Prozent, bei Säuglingen gar 60 Prozent des Grundumsatzes beansprucht.
Eine weitere Hypothese besagt, dass die Fettreserven im Körper über ernährungskarge Zeiten hinweghelfen sollen. Das würde erklären, weshalb auch die Männer Fettreserven anlegen, wenn auch etwas weniger als die Frauen. Diese physische Disposition haben wir auch heute noch.
Für die Evolution des menschlichen Gehirns war die Versorgung mit Energie entscheidend. Dazu gehört der Übergang vom Pflanzen- zum Allesesser, wie Nicole Bender erklärt. Dieser geschah bereits bei den Vormenschen. Anfangs assen unsere Vorfahren noch rohes Fleisch, Insekten, Muscheln, Fische, vermutlich auch Aas, bald wurden auch grössere Tiere gejagt.
Dann kam das Feuer ins Spiel. Erste Kochversuche kann man beim Homo erectus nachweisen. Damit wurde die Nahrung leichter verdaulich. Fleisch ist viel energiedichter als pflanzliche Nahrung. «So wurde das Gehirn zunehmend mit essenziellen Amino- und Fettsäuren versorgt, welche die kognitive Entwicklung förderten», führt die Evolutionsmedizinerin aus.
Tierische Proteine sind zudem einfacher umzuwandeln als pflanzliche, weil sie mit den menschlichen Proteinen verwandt sind. Alle Aminosäuren, die wir brauchen, sind in tierischen Proteinen bereits enthalten. Dadurch ist die Verwertung viel einfacher.
Vegane Ernährung
Pflanzliche Proteine hingegen stimmen nicht mit unseren überein, die Aminosäuren sind unterschiedlich verteilt. «Deshalb ist es so wichtig, dass bei der veganen Ernährung unterschiedliche Gemüse, Hülsenfrüchte, Nüsse, Getreide usw. kombiniert werden», sagt Bender. Vitamin B12 allerdings gibt es ausschliesslich in tierischen Nahrungsmitteln. Wer sich vegan ernährt, kommt also nicht umhin, dieses unter anderem für die Blutbildung, den Energiestoffwechsel und die Nervenzellenfunktion essenzielle Vitamin zu ergänzen. So empfiehlt es auch die Vegane Gesellschaft Schweiz. Ansonsten kann es mit der Zeit zu gefährlichen Mangelerscheinungen kommen bis hin zu Blutarmut und Lähmungen.
Die Umstellung auf die omnivore Ernährungsweise hatte auch anatomische Konsequenzen. Wenn Sie das nächste Mal einem Schimpansen gegenüberstehen – beispielsweise im Zoo – vergleichen Sie Ihren Bauch mit dem Ihres Gegenübers. Vermutlich wird der Bauch des Affen grösser sein als Ihrer. Das hängt mit den Verdauungsorganen zusammen. Diejenigen von Menschenaffen sind nämlich viel grösser als die unsrigen. Der Mensch hat wegen der einfacheren Verdauung einen deutlich kürzeren Dickdarm und einen längeren Dünndarm als andere Menschenaffen.
Auch der Kiefer hat sich zurückgebildet. Brauchten die Urmenschen noch einen kräftigen Kiefer und scharfe Zähne, um die harten Wildpflanzen zu zermalmen, sitzt unser schmales Kinn elegant auf dem Schwanenhals und verspeist das zarte Filet mit ein paar vornehmen Bissen.
Die Weisheitszähne sind noch ein Relikt aus alter Zeit. Sie stehen zuweilen sinnlos schräg in den dunklen Ecken unserer Mundhöhle oder quälen uns, weil zu wenig Platz da ist. «Es könnte sein, dass die Weisheitszähne in ferner Zukunft ganz verschwinden», sagt Nicole Bender. Sie sind gewissermassen ein aktuell beobachtbares Zeichen des evolutionären Prozesses.
Milch nicht mehr nur für Säuglinge
Die im Neolithikum entstehende Agrikultur vor 7000 Jahren gab der Evolution einen weiteren entscheidenden Schub. Die Menschen wurden sesshaft, Wildpflanzen wurden domestiziert, Tiere wurden zu Nutztieren, deren Milch und Fleisch man verwertete. «Es ist noch nicht lange her, dass wir als Erwachsene Milch überhaupt konsumieren können», sagt Bender. Eigentlich ist der Milchkonsum den Säuglingen vorbehalten, wie man bei den Säugetieren beobachten kann. Die Produktion des Enzyms, das für die Milchverdauung zuständig ist, wird nach den ersten Lebensjahren eingestellt.
Der Mensch allerdings begann spätestens seit dem Neolithikum regelmässig Milch zu trinken. Tatsächlich sind bei Menschen gewisser Regionen – darunter Europa, der Nahe Osten und gewisse Regionen Afrikas – Mutationen des Enzyms nachweisbar, die die Milchverdauung auch im Erwachsenenalter unterstützen.
In anderen Regionen, beispielsweise in Asien, ist dieses Enzym noch selten. «Das ist Evolution-in-Process», erklärt Bender. «Dieses mutierte Enzym ist immer noch dabei, sich auszubreiten.» Doch auch in unseren Breitengraden ist zu beobachten, dass die Fähigkeit, Laktose zu verdauen, unterschiedlich ausgeprägt ist. Im Alter kann sie gar abnehmen.
Grosse Mengen an Kohlenhydrate
Ein weiterer evolutiver Aspekt der aufkommenden Agrikultur war der enorm wachsende Konsum an stärkehaltigen Nahrungsmitteln. Dank der domestizierten Pflanzen, die in der Landwirtschaft kultiviert wurden, kamen Getreide, Gerste, Kartoffeln, Reis, Mais auf den Tisch oder wurden weiterverarbeitet zu Brot, Brei, Fladen und anderem. Nun wurden in grossen Mengen Kohlenhydrate verspeist.
Da war der Magen gefordert und die Verdauung passte sich entsprechend an. «Das ist eine der jüngsten genetischen Veränderungen, die auch unsere heutige Ernährungsweise prägt», erklärt Nicole Bender. Aus diesem Grund mahnt die Evolutionsmedizinerin bei den populären Low-Carb-Diäten, mit denen man durchaus abnehmen kann, zur Vorsicht. Das Problem sei die reduzierte Ballaststoffaufnahme, erklärt Bender. Ballaststoffe sind für die Darmgesundheit unumgänglich. Diese fehlen in der modernen Nahrung zum Teil.
Pasta und Brot können zwar verführerisch sein, viele Menschen klagen aber nach deren Genuss über einen schweren Bauch. «Wenn von Glutenunverträglichkeit die Rede ist, hängt das oft mit dem hochgezüchteten Weizen zusammen, der stark glutenhaltig ist und Beschwerden auslösen kann», erklärt Bender. Für die effizientere Produktion von Brot werden viele Zusatzstoffe verwendet. Unser Magen ist nicht vorbereitet auf solche industriell verarbeiteten Lebensmittel.
Müsste man sich denn ernähren wie in der Steinzeit, so, wie es die Paläo-Diät vorschlägt? Nicole Bender schüttelt den Kopf. Diese Diät sei zu fleischlastig. Eine pflanzenbasierte Ernährung mit viel Gemüse, Obst, dazu Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte und Nüsse, kombiniert mit einem gemässigten Konsum an tierischen Proteinen, Fleisch und Fisch entspricht noch heute den Bedürfnissen unseres Körpers. Das deckt sich mit den Empfehlungen der Lebensmittelpyramide des Bundesamts für Gesundheit, bei der Bender für das Kapitel Milch und Milchprodukte zuständig ist. Idealerweise soll man mit frischen, möglichst unverarbeiteten Produkten Mahlzeiten selber zubereiten und dabei lokal produzierte Produkte in Bioqualität bevorzugen.
Was tut mir gut?
«Wichtiger als alle Empfehlungen ist aber die Selbstwahrnehmung», sagt Bender. Die physiologischen Bedürfnisse sind nämlich individuell. Ihr Geheimtipp ist «mindful eating». Bevor wir von den vielen Verlockungen der Ernährungsindustrie verführt werden, etwas zu wollen, was uns eigentlich nicht entspricht, sollten wir uns auf unsere inneren Bedürfnisse konzentrieren. Habe ich wirklich Hunger? Wann habe ich genug und bin satt? Was genau tut mir gut? Das sind die drei Fragen, die man sich beim Essen stellen sollte, so die Evolutionsmedizinerin.
Und wenn dann der Burger doch wieder mal in der Convience-Theke winkt? Für einmal nicht zugreifen. Oder wenn schon, dann gleich selber mit frischen Zutaten zubereiten. Schmeckt sowieso besser.
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Dieser Beitrag erschien im Magazin der Universität Zürich 4/25.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.










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