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Umverteilung gab es schon immer: Ein Briefträger zahlt 1948 an der Haustüre erstmals eine AHV-Rente aus. © SRF

Wie «Umverteilung» zum Unwort gemacht wird

Werner Vontobel /  Marktwirtschaft ohne Umverteilung geht gar nicht. Die Chefökomen des NZZ und des Tages-Anzeigers sehen das anders.

Zunächst zur Vorgeschichte: In einem offenen Brief hatten sich die Alt-Bundesräte Couchepin, Ogi, Schneider-Ammann, Deiss und Leuthard gegen die 13. AHV-Rente ausgesprochen. Daraufhin bot der Tages-Anzeiger dem Mitautor Pascal Couchepin die Gelegenheit, die Abstimmungsempfehlung zu begründen. Das Interview erschien auch in anderen Zeitungen des Konzerns.

Dies wiederum veranlasste die einst für die AHV zuständige Ex-Bundesrätin Ruth Dreifuss dazu, Tamedia zu bitten, ihre gegenteilige Meinung ebenfalls in einem Interview begründen zu dürfen.

Dreifuss› Steilpass

Vom Tages-Anzeiger beziehungsweise dessen Chefökonom Armin Müller bekam die Ex-Bundesrätin den Vorwurf zu hören, sie sei eine heimliche Umverteilerin: «Also: Die Umverteilung ist der wahre, linke Kern der Initiative. Allerdings verschleiern die Gewerkschaften diesen, indem sie von den bemitleidenswerten Rentnerinnen und Rentnern sprechen. Das ist intransparent und demokratisch fragwürdig.» Ende Zitat.

Wenige Tage zuvor hatte auch der Chefökonom der Neuen Zürcher Zeitung, Hansueli Schöchli, die angeblich geheimen Umverteilungspläne der Linken, schon im Titel eines langen Leitartikels enthüllt: «Wie die Umverteilungsmaschine AHV funktioniert – das unbequeme Geheimnis des Sozialwerks.» Im Lauftext ist dann vier Mal von «versteckter» Umverteilung die Rede. Etwa hier: «Und das Schönste daran: Die massiven Subventionen für die Rentner sind versteckt, so dass sich die Begünstigten einreden können, ihre Rente «voll verdient» zu haben.»

Es braucht Umverteilung

Ist Umverteilung also etwas, wofür man sich schämen muss und man nur heimlich betreiben kann? Noch nicht. Zumindest Ruth Dreifuss sieht darin kein Problem. Sie antwortete: «Die Umverteilung war schon immer das Wesen der AHV und ist absolut systemkonform.»

Das gilt auch für das System der arbeitsteiligen Marktwirtschaft insgesamt. Diese beruht nämlich darauf, dass die Teilnehmer bereit sind, das Risiko einzugehen, sich auf eine ganze enge Tätigkeit oder Fähigkeit zu spezialisieren. Auf die Gefahr hin, dass es dafür vielleicht schon morgen keine genügende Nachfrage mehr gibt.

Mehr noch, die Mitglieder der Marktgesellschaft riskieren auch, dass die Anforderungen des Arbeitsmarktes an ihre Mobilität und Flexibilität die Risikogemeinschaft der Familie, der Sippe und der Nachbarschafft schwächt. Ein solcher Gesellschaftsvertrag ist nur dann akzeptabel, wenn die Marktrisiken durch einen gut ausgebauten Sozialstaat abgefedert werden. Sozialstaat heisst auch Umverteilung. Wer den Sozialstaat in Frage stellt, entzieht der Marktwirtschaft die Akzeptanz.

Dass die Chef-Ökonomen keine Umverteilung mögen, hängt auch mit dem falsch verstandenen Begriff der Produktivität zusammen. Die Ökonomen können nicht messen, was jemand mit seiner Arbeit zum gemeinsamen Topf, dem BIP, beiträgt. Sie können nur beobachten, was man oder frau oder ganze Branchen dafür kassieren. Wenn also etwa die Pharma-Industrie mangels Konkurrenz Preise verlangen kann, die weit über den Kosten liegen, sieht der Ökonom einfach nur eine hohe Produktivität.

So gesehen entsprechen die 16 Millionen Franken Lohn, die Novartis-Chef Narasimhan letztes Jahr kassiert hat, per definitionem seinem Beitrag an das BIP. Und so gesehen hat die Sonntags-Zeitung die verquere Logik auf ihrer Seite, wenn sie auf der Titelseite sagt, der Novartis-Boss werde von der AHV «geschröpft». Umgekehrt sollen sich Arbeitnehmer in Branchen mit geringer Wertabschöpfung gefälligst nicht einreden, ihre Rente «voll verdient» zu haben.

Vas Narasimhan (1,4 Millionen Franken), Sergio Ermotti (1,1 Millionen), Ulf Mark Schneider und Thomas Schinker (je 0,8 Millionen) sowie Magdalena Martullo-Blocher (0,1 Millionen Franken) – die Liste der von der Sonntags-Zeitung bemitleideten «geschröpften» AHV-Opfer zeigt es: Der Markt verteilt seine Beute sehr einseitig. Dabei geht es hier nur um die Löhne, die Kapitalerträge kommen noch dazu. Bei Martullo-Blocher sind es jährlich rund 100 Millionen Franken.

Hunger für die einen, Luxusgüter für die anderen

Ein entsprechendes Bild zeigt auch die Einkommens-Statistik der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Danach geht gut die Hälfte der (deklarierten) Markteinkommen an das oberste Fünftel, und unter dem Tisch streitet sich das ärmste Fünftel um Brosamen von 2,3 Prozent. Ohne Umverteilung wäre die Wirtschaft vor allem damit beschäftigt, die Verhungerten zu beerdigen, die Unterernährten zu pflegen und Luxusgüter für die Oberklasse herzustellen.

Ein dritter grober Denkfehler der Kritiker betrifft die Umverteilung von Jung zu Alt, von den Aktiven zu den Rentnern. Die Kritiker gehen offenbar davon aus, dass eine solche nur im Umlageverfahren der AHV stattfindet, während im BVG alle für sich selbst sparen und im Alter ihre eigenen Reserven aufbrauchen. Da ist zwar privatwirtschaftlich richtig, aber volkswirtschaftlich falsch. Es werden ja keine physischen, sondern bloss finanzielle Reserven aufgebaut. Damit können die künftigen Rentner Produkte und Dienstleistungen kaufen, die – natürlich – von den künftigen Aktiven produziert werden müssen. Da gibt es keinen Unterschied zur AHV.

Pensionskassen-Gelder führen zu höheren Mieten

So wie sich die Lage aktuell präsentiert, belastet das Kapitaldeckungssystem die Aktiven sogar viel stärker als die AHV. Der Grund: Zusammen mit dem Vorbezug für Wohneigentum wird fast ein Drittel der Pensionskassen-Gelder in Wohneigentum investiert. Nicht zuletzt deshalb ist der Marktwert des privaten Immobilienbesitzes Jahr für Jahr um gut 100 Milliarden Franken gestiegen. Theoretisch könnte die Klasse der Rentner allein mit diesem Zugewinn sämtliche Regale in der Migros und im Coop leerkaufen und die Aktiven aushungern. Praktisch müssen sich die «Büetzer» wegen der hohen Mieten einschränken.

Kapitaldeckung oder Umlage? Es gibt wichtigere Fragen. Etwa die, ob man die Umverteilung nicht mit einer gleichmässigeren Verteilung der Einkommen begrenzen sollte. Zum Beispiel mit Mindestlöhnen, von denen man leben kann. Oder die Frage, wovon denn die Lebensqualität wirklich abhängt: Vor allem von der Kaufkraft, oder auch vom guten Gefühl, in einer egalitären Gesellschaft zu leben, in der auch «mein» Beizer, «meine» Putzhilfe und «meine» Migros-Kassiererin in unserem Quartier wohnen und ihre Kinder in unsere Schulen schicken kann.


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10 Meinungen

  • am 22.02.2024 um 13:28 Uhr
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    An dieser Stelle mal ein grosses, dickes Dankeschön an Werner Vontobel; eine der sehr wenigen Stimmen, die sich mit Fachkompetenz der medialen Übermacht der HSG-Absolventen und ihrer Freunde mit den dicken Autos entgegenstellen.
    Ich gehöre zur stillen Leserschaft und schreibe eigentlich nie Kommentare, aber es muss einmal gesagt sein 🙂
    Dass Sie sich dem ganzen Schwachsinn der Kapitalistenriege aussetzen, deren egozentrisches, langweiliges und tristes Gelaber Tag für Tag auf einen einprasselt und einen resignieren lassen will, finde ich bewundernswert.
    Sorry für die Lobhudelei und noch einmal: DANKE!

    • am 26.02.2024 um 11:36 Uhr
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      Herr Remy Vuillemin besten Dank für Ihren Kommentar, dem ich vollumfänglich zustimme.
      Herzliche Grüsse
      Klaus Meyenhofer

  • am 22.02.2024 um 13:43 Uhr
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    Danke für diesen wohltuenden Beitrag u. a. zum aktuellen medial-ideologischen Kampf gegen eine faire, wenigstens annähernd existenzsichernde AHV! In der Tat ist kapitalschwachen Personen die Selbstbehauptung im marktwirtschaftlichen Wettbewerb um Erwerbseinkommen nur zumutbar, wenn die Existenzbasis im Fall des Misserfolgs sowie in allen Lebenslagen und -phasen, in denen das Mittun auf dem Arbeitsmarkt den Individuen nicht möglich ist (Kindheit, Alter, Behinderung) sozialstaatlich abgesichert ist. Ein tragfähiger Sozialstaat steht deshalb nicht im Gegensatz zur marktwirtschaftlichen Leistungserwartung an die Menschen, sondern ist vielmehr deren Voraussetzung. FLEXICURITY nennen die Skandinavier diese faire und gemeinwohldienliche Verbindung von verlangter individueller Flexibilität und sozialer Sicherheit. Dies nicht sehen zu wollen, ist in aller Regel nur Ausdruck des Egoismus von Privilegierten.

  • am 22.02.2024 um 14:03 Uhr
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    Nun ja, die Umverteilung läuft, und zwar immer wie geschmierter, mindestens seit den 1980er Jahren (Reagan, Thatcher & Co.!), nämlich von unten nach oben. Siehe z.B. Thomas Piketty: «Das Kapital im 21. Jahrhundert», 2014.
    Glaub wohl, dass die Apologeten des Grosskapitals bei der NZZ und dem TA und sonstwo unter «Umverteilung» ausschliesslich Umverteilung von oben nach unten verstanden haben wollen; in Anbetracht des Geschäftsmodells dieser ehemals seriösen Zeitungen wäre alles andere erstaunlich.

  • billo
    am 22.02.2024 um 14:51 Uhr
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    Auf den Punkt gebracht, danke, Werner Vontobel!
    Das Grundproblem der Altersvorsorge besteht tatsächlich in den extremen und zunehmenden individuellen (und klassenmässigen!) Unterschieden bei Arbeitseinkommen und Vermögen. Würde jeder Mensch durch seine Arbeit wenigstens so viel verdienen, dass er finanziell sorglos Kinder aufziehen und in Rente gehen kann, wäre die ganze Streiterei müssig.

  • am 22.02.2024 um 15:23 Uhr
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    Sehr geehrter Herr Vontobel
    Danke für Ihren aufschlussreichen und interessanten Artikel !
    Leider wird das, was Sie da schreiben , von viel zu wenig Leuten gelesen, und so wird die Angstmacher-Kampagne der Gegner, die von praktisch allen grossen Schweizer Zeitungen (vor allem NZZ) jeden Tag Ganz-Seiten-weise unterstützt wird, einmal mehr ein nur allzu berechtigtes soziales Anliegen zu Fall bringen.
    Aber noch bleibt ein Funken Hoffnung – die ja bekanntlich zuletzt stirbt –,
    dass endlich mal eine Initiative durchkommt, die etwas für die Schwächsten bringen wird. Und sie wird die «armen, armen Reichen» (siehe SZ Tagesanzeiger) ganz sicher nicht arm machen !

  • am 22.02.2024 um 18:57 Uhr
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    Gerade die Altbundesräte könnten ja das Beispiel geben und auf ihre Rente verzichten, viele von ihnen hätten wohl dadurch nicht am Hungertuch zu knabbern, aber scheinbar war und ist es immer noch einfacher bei den Anderen zu sparen. Den Pensionierten mit der 13 AHV ein bisschen Luft zu geben, ist kein Luxus, sondern ein Akt der Vernunft und Würde, dies dürfte auch die Kassen von Gemeinden und Kantonen entlasten und somit würden auch die Jüngeren davon indirekt profitieren. Mir scheint, die Gegner der Initiative haben zwar keine guten Argumente, versuchen dies aber durch mediale Präsenz zu verdecken.

  • am 23.02.2024 um 08:57 Uhr
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    «Umverteilung» kann sich auf den liberalen Philosophen John Rawls beziehen, der in seiner Gerechtigkeitstheorie (1975) ausgeführt hat, dass in einer Gesellschaft mit Ungleichheiten – die haben wir – immer und zuerst die Situation der Benachteiligten verbessert werden muss. Das können wir am 3. März konkret tun.

  • am 25.02.2024 um 00:15 Uhr
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    Kapitaldeckung oder Umlage ist schon wichtig. Die Pensionskassen sind ein perfides Verschleierungssystem. Es erodiert das Klassenbewusstsein der Lohnabhängigen, indem es sie zu Zwangskapitalisten macht und in einen Interessenskonflikt bringt. Sie müssen plötzlich ein Interesse an geringen Löhnen, Entlassungen und überhöhten Mieten haben, damit ihre PK rentabel und ihre Altersvorsorge gesichert ist (nach all dem, was die Versicherer für sich abzwacken).
    Unter den in groteske Höhen steigenden Immobilienpreisen leiden nicht allein die Mieter, denn (wie an anderer Stelle zu lesen war) vom Wert und Wertzuwachs einer selbstbewohnten (vielleicht nach Erreichen des Pensionsalters ererbten) Wohnstatt kann man sich in der Realität kein Brot kaufen. Man zahlt aber immer höhere Steuern. Nicht bloss auf dem angeblich wachsenden Vermögen, sondern auch auf dem ‹Eigenmietwert›, also auf Einkommen, das man gar nie erzielt hat. (Wer Miete zahlt, konnte sein restliches Einkommen für anderes verwenden.)

  • am 26.02.2024 um 11:25 Uhr
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    1. Kritisch über Umverteilung schreiben sollte nur dürfen, wer einigermassen kritisch über Verteilung schreibt. Allein die fragwürdige Verteilung ist der Grund, Umverteilung überhaupt zu thematisieren.
    2. Wer kritisch über Umverteilung schreibt, sollte das nicht selektiv tun dürfen. Von Schöchli zum Beispiel, für den «Umverteilung» der Unbegriff schlechthin zu sein scheint, habe ich zum Beispiel noch nie etwas gelesen über die Umverteilungseffekte steigender Bodenpreise zugunsten Bodenbesitzern, oder von der Umverteilung von Menschen mit wenig Schulbildung und geringerer Lebenserwartung zugunsten von Menschen mit höherer Schulbildung und höherer Lebenserwartung.

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