Velos, wie man sie noch nie sah
«Seien Sie vorsichtig! Das ist ein sehr sportliches Modell», schärft mir der Konstrukteur vor der Probefahrt mit dem vierrädrigen E-Pedelec ein. Es hat zwei (!) Batterien und einen kleinen Hebel am Lenker, der beim Anfahren Schub gibt. Ich zische ab wie eine Rakete. Ein Heidenspass.
Die Teststrecke auf dem grossen Gelände einer ehemaligen Textilfabrik im badischen Lauchringen führt zuerst in einer Schikane durch die Messehalle, dann hinaus ins Freie und um die Halle herum. Dort biege ich kurz ab auf eine abschüssige, holprige Wiese. Die vier Räder halten auch längs und quer zum Hang stabilen Bodenkontakt.

Dutzende von verschiedenen Modellen
Jeweils im Frühling findet die «Spezi» statt, die internationale Spezialrad-Messe. Als Laie kommt man dort aus dem Staunen nicht mehr heraus: Liegevelos, Dreiräder, Falträder, hochmoderne «Seifenkisten» – im Fachjargon «Velomobil» –, Reha-Vehikel, Velos mit Wohnwagen, Parallel-Tandems, Rollstuhlfahrräder, Cargobikes – viele mit Unterstützung durch einen Elektromotor – grosse Trottinette, vor die Hundefans einen Zughund spannen können, und anderes mehr waren Ende April dort zu sehen.

Glückliche Gesichter überall
Rings um die Velos: viele glückliche Gesichter. Auf keiner anderen Messe, die ich je besucht habe, war die Stimmung besser als hier. Denn die grossen und kleinen Besucher dürfen diese speziellen Gefährte testen. An die «Spezi» kommen auch viele Menschen mit Behinderung. Sie interessieren sich zum Beispiel für Tandems, bei denen ein behinderter Beifahrer mitfahren kann, für Sitzvelos, bei denen hinten einer tritt und der andere vorn transportiert wird oder für Liegevelos, die sie mit den Armen antreiben können.

Für Menschen mit Behinderung individuell angefertigt
Nur schon das Betrachten der Velo-Parade, die über das Messegelände zirkuliert, macht Freude. Noch besser ist die Selbsterfahrung. Diesmal teste ich ein E-Liege-Dreirad: zwei Räder vorn und eines hinten. Super-bequem und kippsicher, wie sich am kleinen Grasabhang zeigt. Mit der gekoppelten Handbremse lassen sich beide Vorderräder zugleich bremsen. Sehr praktisch, vor allem für Menschen mit einer Behinderung. Für sie kann das Velo auch mit Einhandsteuerung geliefert werden. So haben sie den Motor, die Gangschaltung, das Licht, auf Wunsch auch Blinker, einhändig im Griff. Viele Anbieter hier gehen auf individuelle Bedürfnisse ein und bauen das Velo so zusammen, dass es für die Käuferin passt. Das allerdings hat seinen Preis: Solche E-Trikes kosten umgerechnet 10’000 Franken und mehr.


Mit Scheibenwischer und Blinker unterwegs
In der Hochpreisliga fahren auch die E-Liegevelos mit Glasfaser-Epoxid-Kabine – Hingucker, sogar von innen: Display-Anzeige, Blinker, Nebelleuchten, Scheibenwischer, kleiner Kofferraum. Beim Fahren zieht es allerdings ein wenig herein. Denn diese Velos sind nach unten offen.

Wohnwagen fürs Velo
«Wir haben unglaublichen Andrang», sagt der Verkäufer des «Alpencamper» ein paar Stände weiter. Dieser in der Schweiz gebaute Wohnwagen wird ans Velo angehängt. Mit einer Breite von 97 Zentimetern erfüllt er die Vorgaben der Schweizer Verkehrsregel-Verordnung.
Das leichteste Modell – ohne Innenverkleidung und zum weiteren Selbstausbau – wiegt nur 39 Kilo. Das Basismodell für zwei Personen hat eine (seitlich herausziehbare) Liegefläche von 1,40 x 1,95 Meter und ist ab 52 Kilo zu haben. Mit einem Handgriff – der Verkäufer führt es vor – wird aus einem Teil des Betts ein Tisch. Auf Wunsch erhält man den Alpencamper zum Beispiel mit LED-Innenbeleuchtung, dieselbetriebener Standheizung oder Solardach. Preis: ab rund 6000 Franken.



Ein wichtiger Punkt bei diesen Anhängern ist das Gewicht, jedenfalls auf Schweizer Strassen. Denn «das Betriebsgewicht [also Velo plus Anhänger– Anm. d. Red.] darf höchstens 80 Kilo betragen», steht in der hiesigen Verkehrsregel-Verordnung. Bei einem E-Bike mit Gepäck und Anhänger kann das knapp werden. Andere Länder erlauben mehr.
Im Velomobil mit 50 km/h unterwegs
An den Ständen und am Rand der Messe fachsimpeln Velofreaks. Mehrere Männer knien um bunte Velomobile, die an Seifenkisten von früher erinnern, damit aber natürlich überhaupt nicht zu vergleichen sind. Einer prüft den millimetergenauen Schluss der Einsteigeluke. Ein anderer bastelt etwas am Heck.

Das effizienteste Fortbewegungsmittel
«Velomobile sind die effizienteste Fahrzeugkategorie. Damit können selbst Untrainierte auf ebener Strecke 50 km/h erreichen, ohne Elektromotor. Diese Szene wächst stark», sagt Gabriel Wolf, einer der Organisatoren der «Spezi» und selbst Liegerad-Hersteller.

Wettbewerb für Tüftler
Für die Kinder wirkt ein kleines, separates Testgelände mit höchst originell zusammengeschweissten Gefährten wie ein Magnet: Dort gibt es zum Beispiel ein Velo, bei dem sich der Sitz mit jeder Pedalbewegung auf und ab bewegt. Die Energie bei der Abwärtsbewegung wird für den Antrieb genützt, die Aufwärtsbewegung des Sattels muss man «erstrampeln».
Bei einem anderen Velo befindet sich die Radachse nicht im Zentrum, sondern etwas versetzt, so dass das Rad eine Unwucht hat. Bei jeder Umdrehung «eiert» es – dem Fahrer scheint es zu gefallen. Er grinst übers ganze Gesicht. Überholt wird er von einer jungen Frau auf einem Hochrad-Unikat, bei dem man sich fragt, wie es der Teenager geschafft hat, in den Sattel zu kommen. «Ganz schön schwierig», presst ein erwachsener Pedalist daneben auf einem Liliput-Velo noch hervor – und kippt um.

Prämierter Tüftler
Zur Messe gehört auch das «Erfindungslabor». Dort präsentieren Tüftler ihre Neuigkeiten, Prototypen oder Lösungen für Probleme, denen behinderte Menschen gegenüberstehen. Das Publikum wählt den Sieger. Diesmal gewann der Franzose Denis Lautier. Er tüftelt seit Jahrzehnten und erfand das «Step-Trike», ein dreirädriges Liegevelo mit einem Trittantrieb. Die Füsse pedalen dabei nicht im Kreis wie sonst, sondern sie treten wie auf einem Stepper und setzen das Velo damit – ziemlich flott – in Bewegung. Das «Step-Trike» eignet sich auch als Reha-Velo oder für Menschen mit nur einem Bein.

Wenn sich die Räder in die Kurve legen
Inzwischen ist der Tag fast vorbei, die zweitägige Messe neigt sich ihrem Ende zu. Ich teste noch ein letztes «Spezi»-Liegevelo, bei dem sich anstatt der Pedalistin jeweils der Rahmen und die Räder selbst mit rund 30 Grad Neigung «in die Kurve legen». Ein völlig neues, ungewohntes Fahrgefühl.
«Spezi», ich komme wieder!

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Sehr schöne Präsentation, besten Dank. Eine Frage: Sind alle beschriebenen Modelle in der Schweiz als Velo zugelassen, mit gelber Nummer oder ohne?