Sperberauge

Wie sich Armut anfühlt

Jürg Müller-Muralt © zvg

Jürg Müller-Muralt /  Die im Dunkeln sieht man nicht: Zwei Journalisten beleuchten das Schicksal von Armen.

Arme, Arbeitslose, IV- und Sozialhilfebezüger stehen unter Druck. Und zwar nicht nur materiell, sondern auch medial, politisch und gesellschaftlich. Spardruck und rechtspopulistische Stimmungsmache setzen eine ganze Bevölkerungsgruppe dem Generalverdacht des «Sozialschmarotzertums» aus, Missbrauchsfälle werden als übliche Praxis pauschalisiert. Mit einer latenten Aggressivität werden die Armen bekämpft statt die Armut.

In einer von der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern herausgegebenen Broschüre (Link siehe unten) geben Susanne Wenger und Walter Däpp Gegensteuer: Die beiden Medienschaffenden leuchten in sechs kurzen Porträts die Lebensrealitäten von Menschen in materiell prekären Lebenslagen aus. In skizzenhaft-knapper Sprache – und ebenso zurückhaltend und gleichzeitig ausdrucksstark illustriert von Hansueli Trachsel – lassen sie die Leute zu Wort kommen, lassen sie sie erzählen, wie sie in ihre schwierige Lage geraten sind, wie sie sich heute in ihr zurechtfinden müssen. Und wie sie beispielsweise immer wieder umziehen müssen, weil die Wohnung zu teuer wird.

Gezeigt werden keine pseudo-romantisch grundierten Bilder von «guten Armen», sondern von Menschen mit all ihren Schwierigkeiten, Ecken und Kanten. Menschen, die gezwungen sind, ihre prekäre Lage mit Eifer, Durchhaltewillen und Phantasie zu meistern und die gleichzeitig auch noch gegen Verachtung und soziale Ausgrenzung kämpfen müssen. «Die Leute denken, eine IV-Rente sei der Himmel auf Erden», sagt eine Frau, die auch weiss, wie subtil Armutsbetroffene in der reichen Schweiz ausgegrenzt werden: Etwa indem Bekannte von ihren Ferien erzählen.

Noch etwas stimmt bei einigen der Porträts nachdenklich: Wie leicht und rasch man vom scheinbar sicheren Ufer in unsichere Gewässer gelangen kann. Und es sind nicht wenige, die sich dort mit grosser Mühe über Wasser halten: Zwölf Prozent der bernischen Haushalte gelten gemäss Sozialbericht 2012 als arm oder armutsgefährdet, das sind insgesamt über 75 000 Personen.

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4 Meinungen

  • am 1.11.2013 um 15:12 Uhr
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    Gute Sache, die 2 Klassenmedizin auszuleuchten wäre auch noch eine Idee. Wer nur Grundversichert ist, eine Behinderung hat oder krank ist, kommt in keine Zusatzversicherung mehr rein. Und er kommt immer als letzter dran. Aerztemangel heisst es dann, oder dass die Swissmedic diktiert, wie ein Arzt vorzugehen hat. Zuerst werden die billigen Medikamente ausprobiert, ungeachtet der eventuellen Nieren oder Leberschäden, erst dann kommen die guten Medis dran. Ich erlebe es am eigenen Leibe. Als Halbprivat oder Privatversicherter wäre die Situation anders.

  • am 3.11.2013 um 15:29 Uhr
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    Ein grosses Problem ist auch, dass wenn man erschöpft ist, der Staat besser weiss ob das nun wirklich Erschöpfung ist oder doch eher Faulheit.
    Hat jemand eine sichere Stelle, die das Existenzminimum deckt und geht zum Arzt wegen Burnout, Erschöpfung und Aehnlichem und ihm dieser ein Arztzeugnis ausstellt und ihn krankschreibt, wird das selbstverständlich akzeptiert, ebenso ein Kuraufenthalt wenn nötig.
    Das funktionniert nicht mehr bei prekären Verhältnissen.

  • am 3.11.2013 um 18:29 Uhr
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    Liebe Maya Eldorado
    Und auch hier kann ich mit Deiner/Ihrer Argumentation sehr gut übereinstimmen. Du/Sie bringst es auf den Punkt. Danke für diesen Beitrag, Gut zu Wissen, dass es noch mehr Menschen gibt auf unserem Planeten, welche bei sich selber sind und Seele mit Verstand kombinieren. Ich gehe sogar soweit wie Marshall Rosenberg das Phänomen Faulheit in seiner gewaltfreien Kommunikation beschreibt, ein Standardwerk der Sozialpädagogik, welches die eher trockenen Werke von Schulz von Thun abzulösen beginnt. Für M. Rosenberg gibt es keine faulen Menschen. Jeder Mensch hat nebst anderem das Bedürfnis am Leben und Wirken teil zu nehmen. Jeder Mensch versucht mit bestimmten Strategien seine Bedürfnisse zu erfüllen, auch das des natürlichen Bewegungsdranges. Hinter dem was in unserer Gesellschaft als Faulheit bezeichnet wird, stecken seiner Erfahrung nach als Psychotherapeut und Soziologe immer, oft verdrängte, verletzte Bedürfnisse, welche sich lähmend auf eine Persönlichkeit auswirken können. Selbstdeklarierte sowie fremddiagnostizierte Faulheit sind letztendlich nur ein strategischer Versuch, der Frustration und Depression zu entgehen welche wie ein Raubtier in der betroffenen Person lauert. Sowohl kann es auch der Versuch sein, mit Hass die Gesellschaft, welche von ihm immer gefordert hat, aber die Person nie wirklich gefördert hat, um eben mit Hassvollem Nichtstun diese Gesellschaft zu bestrafen. Denn Hass tötet den Schmerz ab, welcher die Gesellschaft mit ihren Forderungen und uneingelösten Versprechungen bei ihm hinterlassen hat. So bestraft er die Gesellschaft mit Nichtstun, mit der Weigerung an ihr teil zu nehmen, und nur so kann er in emotionaler Sicherheit verharren. Bricht er dieses Muster, kommt der Schmerz, die Angst, die Hoffnungslosigkeit, die Aussichtslosigkeit auf eine bessere Zukunft. Es droht Psychiatrisierung, Stigmatisierung und noch mehr Einsamkeit. Denn das heilsame Mitgefühl wurde in der biologistischen Psychiatrie abgeschafft. Faulheit ist somit eine Überlebenstrategie, wohinter sich tiefste Verletzungen verbergen.
    Beatus Gubler Nonprofit Sozialprojekte http://www.streetwork.ch Basel

  • am 5.11.2013 um 00:54 Uhr
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    Es gibt eine materielle Armut. Je grösser die ist, desto mehr spürt man auch eine immer grössere soziale Armut, weil es kaum oder nicht mehr reicht am öffentlichen sozialen Leben teilzunehmen. Daraus kann eine soziale Ausgrenzung resultieren. Die wiegt für die meisten schwerer als die eigentliche Armut.
    In einem Land, wie bei uns in der Schweiz, wo alles auf materiellen Mehrwert ausgerichtet ist, spürt man das ganz fest.
    Als selbst Betroffene empfand ich die matierielle Armut nicht so schlimm. Diese Zeit war sehr spannend und lehrreich. Ich schaute das so an: Was brauch ich zum Ueberleben. Was ist das allerwichtigste was es zusätzlich zum Leben braucht. Dann reichte es manchmal sogar für etwas darüber hinaus.
    Was mich bei Mitbetroffenen erstaunte, war, dass sie vom Mittelstand ausgingen und dabei nur materielle Defizite bei sich feststellten. So hat man dann ein armes Leben mit viel Frust. Wenn man allerdings, wie ich damals, vom Ueberleben ausgeht, hat man viel Freude an dem, was darüber hinaus noch möglich ist. Dabei habe ich festgestellt, dass der Mittelstand im allgemeinen die mehr schätzen die Jammern, als die, die relativ glücklich und zufrieden sind.

    Frage: Warum hat es plötzlich nur noch 1500 Zeichen? Ich finde das schade.

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