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Der Krieg trennt viele vorher intakte Ehen. Scheidungen sind in der Ukraine relativ einfach. © advokat-family

Ukraine: Der Krieg zerstört viele intakte Ehen

Pascal Derungs /  Fast nur Frauen und Kinder konnten auswandern. Bei Scheidungen verlieren die Männer meistens das Sorgerecht für ihre Kinder.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Millionen von Familien auseinandergerissen. Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende von Paaren haben sich bereits gerichtlich getrennt. Das Land erleide, so die ukrainische Psychotherapeutin Anna Trofymenko, eine «Scheidungsepidemie». 

Es könnte eine der weitreichendsten sozialen Folgen des Krieges sein, schrieb der internationale Korrespondent Jeffrey Gettleman am 25. Juli 2023 in der «New York Times». Es werde die Familienstrukturen und die Bevölkerungs-Entwicklung im Land sowie die Art und Weise, wie Familien sich bilden und wie Kinder erzogen werden, auf lange Jahre hinaus prägen und belasten.

Krieg und Flucht untergraben die Fundamente von Ehen 

Jeder grössere Konflikt treibt Menschen in die Flucht. Aber in der Ukraine war etwas von Anfang an anders. Präsident Selensky verabschiedete gleich nach Beginn des russischen Einmarsches ein Dekret, das Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren mit wenigen Ausnahmen die Ausreise verbietet. Die Absicht war, eine möglichst grosse Reserve für die Kampftruppen im Land zu behalten. Doch es führte auch zu einem höchst einseitigen Exodus der weiblichen Bevölkerung, bilanziert Gettleman. 

Der NYT-Korrespondent interviewte Dutzende ukrainische Männer und Frauen darüber, wie sich der Krieg auf ihre Beziehung ausgewirkt hat, sowie Eheberater, Richter, Psychotherapeuten und Scheidungsanwälte. Sein Befund ist dramatisch. So tragisch die Umstände und Ursachen sind: Es scheint, dass dieser Krieg bei den Ukrainerinnen eine Art Emanzipationslawine ausgelöst hat.

Scheidungen leicht gemacht

Neunzig Prozent der acht Millionen ukrainischen Flüchtlinge sind Frauen und Kinder, und viele Frauen, ob verheiratet oder nicht, hätten nicht vor, in ihre Heimat zurückzukehren, berichtet Gettleman. Sie zögen es vor, sich ein neues sesshaftes Leben ausserhalb der Ukraine aufzubauen. Einige hätten die Chance ergriffen, missbräuchlichen Beziehungen in der Ukraine zu entkommen. Denn das Gesetz, das Männer daran hindert, das Land zu verlassen, habe ihnen einen sicheren Raum in Ländern wie Polen oder Deutschland geboten, von wo aus sie unbehelligt die Scheidung einreichen könnten, über welche sie vielleicht schon länger nachgedacht hätten. Denn die Ukraine erlaubt es, sich aus Tausenden von Kilometern Entfernung scheiden zu lassen. Die Leute müssten nur Heiratsurkunden, Geburtsurkunden, Passscans und Steuerdokumente einschicken.

Aber dasselbe Gesetz habe den vielen Männern, deren Kinder mit den Müttern geflüchtet sind, viel Schmerz bereitet. Für sie gebe es auf lange Sicht keine Möglichkeit, ins Ausland zu reisen, um sie zu sehen. 

Der Krieg wirft existenzielle Sinnfragen auf

Nach Einschätzungen ukrainischer Psychiater, Scheidungsanwälte, Dating-Gurus, Gerichtsbediensteter und Richter sei der Grund für die aktuell hohe Scheidungsrate in der Ukraine nicht so sehr der beträchtliche kriegsbedingte Stress, sondern das enorme Ausmass der Trennung.

Psychotherapeutin Trofymenko erläuterte dem Reporter, dass Menschen, wenn sie von ihren Gemeinschaften getrennt sind, anfangen würden, alles neu zu bewerten. «Die Leute fangen an, Fragen zu stellen», sagte sie. «Zum Beispiel: Ist diese Person, mit der ich so viele Jahre meines Lebens verbracht habe, immer noch die richtige Person für mich, wenn ich nicht mehr weiss, wer ich bin?»

Das Prinzip des gemeinsamen Sorgerechts ist ausgehebelt

Besonders kompliziert ist für viele ukrainische Paare jetzt die Sorgerechtsfrage. Wenn sich eine Nation nicht im Krieg befindet, wäre es für eine Frau schwierig, das Land mit einem Kind ohne die Zustimmung des Vaters zu verlassen. Aber jetzt herrscht Krieg. Was tun Richter, wenn eine Frau mit einem Kind das Land verlassen hat und sich das Paar trennt und der Mann in der Ukraine festsitzt, aber das Kind sehen möchte, fragt Gettleman.

«Ich kann der Frau nicht befehlen, mit dem Kind zurückzukommen, nicht bei der Gefahr täglicher Raketenangriffe», erklärte ihm eine Richterin in Kiew, Ivanna Yerosova. Und sie sagte, sie habe nicht die Macht, Männern die Erlaubnis zu erteilen, die Grenzen der Ukraine zu überqueren, um ihre Kinder im Ausland zu besuchen.

Die Gerichte könnten Mütter im Ausland lediglich anweisen, ihren Kindern zu erlauben, mit ihren Vätern per Videochat zu kommunizieren, schreibt Gettleman. Erst wenn der Krieg vorbei sei, so die Richterin Yerosowa, sei der Weg frei für neue Scheidungsvereinbarungen, die das Recht eines Vaters festlegen, das Kind zu sehen, wo auch immer es sich befindet.

Die offiziellen Zahlen verschleiern das Ausmass der Ehekrisen

Nach Angaben des ukrainischen Justizministeriums sank die Zahl der Scheidungen von 29’587 im Jahr 2021 auf 17’893 im Jahr 2022. Die von Gettleman befragten Experten sagen jedoch, dass diese Daten irreführend seien. Der Krieg habe alle Aspekte des ukrainischen Gerichtssystems stark behindert. Richter, Psychologen und Scheidungsanwälte würden alle erklären, dass die Zahl der Paare, die sich trennen und bald geschieden werden, aktuell stark zunehme.

Die Trennungen werden viele offene Wunden hinterlassen

Die Folgen so vieler Trennungen in einem Land dürften weitreichend sein. Ukrainische Demografen beginnen bereits, die Auswirkungen zu modellieren, zusammen mit den Flüchtlingsströmen und Kriegsopfern. «Wir prognostizieren, dass die Bevölkerung weiter zurückgehen wird», zitiert Gettleman den  Demograf an der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Oleksandr Hladun. Seit den 1990er Jahren habe die Ukraine stetig an Menschen verloren: von 52 Millionen im Jahr 1991 auf 38 Millionen. In den nächsten 15 Jahren, so würden Experten prognostizieren, werde die Bevölkerung auf 30 Millionen sinken.

Die Geschichte einer vorher intakten Familie

Aus den Dutzenden seiner Interviews beschreibt Jeffrey Gettleman beispielhaft die Geschichte von Andrii Shapovalov, 51, und Tetiana Shapovalova, 50. Sie waren fast 30 Jahre verheiratet, zogen zwei Söhne gross und verfolgten Karrieren, die ihnen etwas bedeuteten: er als Psychotherapeut, der mit Drogenabhängigen arbeitete, sie als Führungskraft bei einer grossen Eiscremefirma. 

Nach dem Auszug der Söhne starteten sie in Dnipro, einer aufstrebenden Stadt in der Zentralukraine, einen neuen gemeinsamen Lebensabschnitt. Doch ihre Wege hätten sich am ersten Tag, als Raketen in Dnipro einschlugen, getrennt. Tetiana flüchtete aus dem Land, während Andrii im verwaisten Elternhaus zurückblieb. 

Sie würden, wie so viele ukrainische Männer und Frauen, den Krieg ganz unterschiedlich erleben, sagt Gettleman. Tetiana sei in Finnland in eine ganz neue Welt geworfen worden, habe eine andere Gesellschaft und eine neue Sprache entdeckte und – ein Schock für Andrii – einen neuen Gefährten gefunden. Dort sei ihr klar geworden, dass sie nicht mehr nach Hause zurückkehren wollte. Die Flucht in ein neues Land habe sie in eine neue Gemütsverfassung versetzt. Andrii fand sich an der Front wieder, wo er depressive Soldaten beriet und zum ersten Mal seit seiner Jugend allein lebte. Es war ihm gesetzlich verboten, seine Frau zu besuchen.

Infosperber zitiert im Folgenden aus den veröffentlichten Interviewpassagen. Beide erzählten Gettleman, dass sie sich ohne den Krieg nicht hätten scheiden lassen. 

Tetiana Shapovalova: «Das hätte ich nie gemacht. Es war ein klassischer Fall, bei dem man das Problem erst sieht, wenn man ausserhalb des Problems ist.»

Andrii Shapovalov: «Hundertprozentig wären wir immer noch verheiratet. Aber ich ärgere mich immer noch über mich selbst, dass ich es zugelassen habe, dass ich nichts tun konnte, um sie bei mir zu behalten

Tetiana: «Plötzlich hatte ich etwas Freizeit, in der ich nicht mehr zur Arbeit gehen oder mich um meine Eltern kümmern musste. Und dann wurde mir eines Moments überraschend klar: Ich vermisse mein Zuhause nicht. Ich will nicht zurück. Ich meine, es ist nicht so, dass ich meine Eltern oder meinen Mann nicht liebe. Ich dachte nicht an eine Scheidung. Mir wurde einfach klar, dass ich für mich sein wollte.»

Andrii: «Die ersten Wochen waren wirklich hart. Nach all den Jahren, allein aufzuwachen, in einem kalten Bett, ohne jemanden, der auf dich wartet. Und es war nicht nur die Entfernung. Es war diese Abwesenheit des Glaubens an morgen. Ich wusste nicht, ob die russischen Truppen uns holen würden oder nicht. Ich wusste nicht, ob ich noch am Leben sein würde oder nicht. Aber es verging keine Nacht, in der ich nicht von ihr träumte

Ein paar Wochen nach Beginn ihres Lebens als Flüchtling habe Tetiana einen Finnen kennengelernt. Sie sagte, es sei sehr schwierig gewesen, dies mit Andrij anzusprechen. Sie habe ihn angerufen und gesagt: «Ich möchte unsere Beziehung nicht fortsetzen. Ich will einen neuen Ort, eine neue Beziehung, ein neues Alles. Ich will ein neues Leben

Andrii: «Ich war überrascht, ja, absolut. Ich weigerte mich, es zu glauben. Ich dachte, es sei ein Flirt und dass es enden würde. Aber eines Nachts Ende Mai rief ich sie an und schrieb ihr den ganzen Tag eine SMS, und sie antwortete nicht auf meine Anrufe. Ich war die ganze Nacht wach. Und dann verstand ich: Sie ist mit einem anderen Mann zusammen. Schliesslich schickte ich ihr eine Nachricht, in der stand: Ich verstehe alles.»

Tetiana: «Er hoffte, dass ich meine Meinung ändern würde. Im August rief ich ihn erneut an und bat ihn um Hilfe. Er stimmte zu, die Scheidung einzureichen, weil er in der Ukraine war, und ich unterschrieb die Papiere hier in Finnland und schickte sie mit dem Bus

Da ihre Söhne erwachsen sind, hatten Andrii und Tetiana keine Sorgerechtsstreitigkeiten. Sie seien tatsächlich nicht in Streitigkeiten geraten über ihr Haus oder ihr übriges gemeinsame Vermögen, nachdem sie sich auf eine Trennung geeinigt hatten, berichtet Gettleman.

Tetiana: «Seit letztem August lebe ich mit jemand anderem zusammen. Mein Leben blüht auf. Mir fehlt nichts. Vielleicht ist es ein Trauma, vielleicht ist es nicht logisch, aber ich möchte wirklich nicht in die Ukraine zurückkehren und all die Veränderungen sehen. Ich weiss nicht warum, aber ich weine überhaupt nicht. Vielleicht brennt es später durch mich hindurch


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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