BalkonTetouan

Blick auf die Medina von Tétouan: Ein umtriebiger Händler führt Touristen auf seine Dachterrasse. © Walter Aeschimann

«Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Haus!»

Walter Aeschimann /  In der Medina von Tétouan: Wer sich auf einen Händler einlässt, hat keine Chance zu entkommen.

Red. Walter Aeschimann ist freischaffender Historiker und Publizist. Im Oktober 2019 ist er mit dem Fahrrad und Interrail nach Spanien gereist und hat in Melilla die Grenze nach Marokko überquert. In den vergangenen Wochen war er mit dem Velo in Marokko unterwegs.


Tétouan war einst Hauptstadt der Kolonie Spanisch-Marokko.

Eigentlich wollte ich gar nichts kaufen. Nur in der Medina (Altstadt) von Tétouan herumspazieren, einen Minzentee trinken, ein Batbout (Pfannenbrot) essen, dem Markt- und Handwerks-Treiben zusehen und mich in den engen Gassen treiben lassen. Aber die Neugier war grösser als der Vorbehalt. Als ich mich auf das Angebot eingelassen hatte, war sofort klar: Hier würde ich nicht entkommen. Der Mann hatte mich in einer schmalen, mit Tüchern überdeckten Seitengasse angesprochen: «Bonjour, comment allez-vous, wie geht es Ihnen, kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Haus!» Und schon folge ich ihm ins Haus. Erst kommen wir in einen grossen Eingangsraum mit verspielten Ornamenten als Wanddekoration. Von dort führen dunkle, schmale Gänge in mehrere verwinkelte kleine Räume. Das Haus ist prachtvoller und eindrücklicher, als es von Aussen schien. Erbaut von andalusischen Händlern im 17. Jahrhundert, wie mir der Mann erklärt.

Die alte Handelsstadt Tétouan unweit der Mittelmeerküste Marokkos. (Bild: Walter Aeschimann)
Tétouan ist eine Handels-Stadt im Nordwesten von Marokko mit 400’000 Einwohnern und 15 Kilometer vom Meer entfernt. Das Klima ist gemässigt. Deshalb verbringe sogar König Mohammed VI. den Sommer hier in seiner Residenz am Meer, sagt der Mann und vergisst auch nicht zu erwähnen, dass die Medina zum Unesco-Weltkulturerbe zählt. Kurz darauf stehen wir vor einem Holzgestell mit kleinen und grossen Fläschchen, Seifen und schönen Tüchern. Er nimmt ein Fläschchen aus dem Regal und erklärt, das sei Arganöl, hergestellt von der Frauenkooperative Souk. Der Arganbaum sei einer der ältesten Bäume auf der Erde: Schon seit 80 Millionen Jahren soll er in Marokko wachsen, heute nur noch auf rund 8000 Quadratkilometern im Südwesten des Landes. Dieses Gebiet ist seit 1998 auch Unesco-Biosphären-Reservat.

Im Ladenraum seines historischen Hauses präsentiert ein Händler einheimische Produkte wie Gewürze, Öl und Seifen. (Bild: Walter Aeschimann)
Arganöl wird aus dem inneren Kern der Arganfrucht gepresst. Die Früchte können nicht gepflückt werden, weil der Baum zu viele Dornen hat. Die am Baum getrockneten und heruntergefallenen Früchte werden traditionell nur von Frauen aufgelesen. Dann werden die Früchte mit zwei Steinen aufgeschlagen und in einer Stein- oder Metallmühle zermahlen. «Alles Handarbeit und 100 Prozent biologisch», sagt der Mann und bietet mir das Fläschchen für 300 Dirham an, das sind 30 Schweizer Franken. Ich staune bei diesem Preis, winke ab und erkläre, dass ich mit dem Fahrrad unterwegs sei und keinen Ballast mit mir schleppen wolle. Er offeriert mir ein kleineres Fläschchen Duftöl für 100 Dirham.
Der erste Kunde
Erneut verzichte ich, mir wird ungemütlich und ich versuche mich höflich zu verabschieden. Jetzt ändert der Mann die Taktik, mimt den Beleidigten und wird laut. «Ich bin kein Halsabschneider und kein Betrüger!» Er holt ein grosses Buch hervor. «Sehen Sie! Hier haben sich viele zufriedene Kunden eingetragen, auch viele Schweizer.» Ich sei heute der erste Kunde, deshalb behandle er mich bevorzugt. Er schliesst grosse Türen auf. Wir gehen in die obere Etage, wo in einem Raum schöne handgewebte Teppiche liegen. In einem weiteren Raum ist Kunsthandwerk ausgestellt.

Die «Teppichetage» im Haus des Händlers. (Bild: Walter Aeschimann)
Schliesslich führt er mich zwei Etagen höher auf die Dachterrasse mit Blick über die Medina, zum Meer und zu den Bergen, «Dort hinter den Bergen liegt Chefchaouen. Auch diesen Ort müssen Sie besuchen.»
Die Sicht ist eindrücklich auf Tétouan, die ehemalige Hauptstadt der Kolonie Spanisch-Marokko. Die Kolonie entlang dem Landstreifen der Mittelmeerküste mit dem Rifgebirge bestand von 1912 bis 1956. In der Kolonie begann am 17. Juli 1936 auch der Staatsstreich des Militärs um General Francisco Franco, der zum Sturz der spanischen Regierung führte. Einzig die Militärs in Tétouan hielten loyal zur spanischen Regierung und widersetzten sich den Putschisten, die eine Revolte der Kolonialtruppen von Spanisch-Marokko zum Anlass für den Aufstand nahmen. Ausgangspunkt war Melilla. Nach der Einnahme von Tétouan und der Luftwaffenbasis Sania Ramel liquidierten die Putschisten den Hochkommissar von Spanisch-Marokko und weitere 189 Republikaner.
Wir verlassen unseren Aussichtspunkt auf dem Dach. Auf dem Weg nach unten macht mir der Mann, der mich ins Haus gelockt hat, ein neues Angebot: 300 Dirham für das Argan- und das Duftöl. Zurück im Eingangs- und Verkaufsbereich, hat der Händler gewonnen. Bei so viel Augenmerk und Engagement knicke ich schliesslich ein. Immerhin feilsche ich noch etwas um den Preis. «Das letzte Angebot. Das Argan- und das Duftöl für 200 Dirham. Zusätzlich gebe ich Ihnen ein Fläschchen Duftöl gratis.» Ich gebe ihm das Geld, wende mich zum Ausgang hin und bin nun ziemlich wirr im Kopf. Ich habe die Orientierung verloren und finde den Weg aus dem hektischen Gewusel in den Gassen nicht mehr allein.

Der Händler hat gewonnen: Der Tourist aus der Schweiz kauft schliesslich ein Fläschchen Arganöl und zwei Duftöle für 200 Dirham – rund 20 Schweizer Franken. (Bild: Walter Aeschimann)

Arganöl, das flüssige Gold aus Marokko
Im Internet lese ich später nach, dass Arganöl momentan ziemlich in Mode ist. Spitzenköche loben es als Luxus-Zutat, Gesundheits-Gurus als Wundermittel gegen Hautkrankheiten oder andere Blessuren und die Luxus-Kosmetik bietet es als Haar- und Hautpflegeöl an. Hierzulande wird der Liter für 100 Franken oder mehr angeboten – als «flüssiges Gold Marokkos». Laut «Observer», der britischen Sonntags-Zeitung, soll die zunehmende Beliebtheit von Arganöl die marokkanische Regierung veranlasst haben, die Produktion bis ins Jahr 2020 von jährlich 2500 Tonnen auf etwa 4000 Tonnen zu erhöhen. Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung schreibt, Arganöl sei kaum wertvoller als andere pflanzliche Öle und bemängelt vor allem die unkritische Vermarktung. Aus ernährungstechnischer Sicht sei der «horrende Preis» jedenfalls «nicht zu rechtfertigen».

Eine Mauer mit sieben Toren umschliesst die Altstadt von Tétouan. Seit 1997 gehört die Medina zum Weltkulturerbe der Unesco. (Bild: Walter Aeschimann)
Am Abend begrüsst mich ein Mann, als ich unentschlossen vor einem Café stehe. Ich soll in ein anderes Restaurant gehen, weiter oben beim Eingang zur Medina, das sei besser. «Ich begleite Sie. Ich habe Zeit.» Er leistet mir spontan Gesellschaft, als ich eine Bohnensuppe und einen marokkanischen Salat bestelle. Der Mann arbeitet in der Autowerkstatt um die Ecke und stellt sich als Hassan vor. Ich erzähle ihm vom Kauf des Fläschchens Arganöl. «Und? Ist auch Arganöl drin?», fragte er, bevor er den Preis wissen will. Ich hätte keine Ahnung und könne auch die Qualität nicht einschätzen. Auf jeden Fall stehe Argan auf dem schönen Etikett, das auch ein Bio-Logo schmückt. Der Mann vermutet, dass ich für Schweizer Verhältnisse wohl wenig, für marokkanische aber deutlich zu viel bezahlt hätte. Ich sage ihm, dass ich den Preis auch als Eintritt in das Haus, die schöne Führung und die elegante Performance des Händlers betrachten würde.
«Traue niemandem, wirklich niemandem»
Hassan lächelt milde und beklagt sich über die Mentalität der marokkanischen Händler. Sie würden bei Touristen nur an viel Geld denken und den einmaligen Profit suchen. Dabei sollten sie nachhaltig denken und Touristen so behandeln, dass sie wieder kommen oder zu Hause positiv über das Land berichten würden. Leider hätten die Händler in der Medina und in Marokko einen schlechten Ruf. Als ich etwas erwidern will, bittet uns ein Junge, kaum fünfzehn Jahre alt, um Geld. Hassan, der sichtlich bemüht ist, mir ein positives Bild von Marokko zu vermitteln, stellt sich drohend vor den Jungen und schickt ihn fort. Doch der bleibt ungerührt stehen und sieht Hassan trotzig an. Ein Mann am Nebentisch offeriert dem Jungen eine Suppe.
Er gebe niemals Geld, sagt Hassan. Das Geld würden sie nur für Drogen verwenden. In Tétouan sei es leicht, an Drogen zu kommen. Es gebe zahlreiche heimatlose junge Männer, fährt Hassan fort. Sie würden durch Marokko reisen, häufig festgeklammert an der Unterseite der Autobusse, lebensgefährlich nah am Asphalt. Deshalb seien sie auch so schmutzig. Die Hoffnung dieser Jungen sei, irgendwann über die Grenze nach Europa zu gelangen.
Als ich schliesslich zahlen will, verwendet sich Hassan im Restaurant für mich. Ich sei ein Freund, sagt er dem Kellner und als «Freund», so nehme ich an, habe ich den gleichen Preis bezahlt wie BewohnerInnen der Stadt Tétouan. Ich solle «niemandem, wirklich niemandem blind vertrauen», sagt der Mann zum Schluss.
Der Konsum von Haschisch, dies ist mir aufgefallen, ist in Tétouan, Nador, Al Hoceima, oder in den kleinen, verlassenen Dörfern entlang des Mittelmeeres, in denen ich jeweils Wasser, Schoko-Riegel und Bananen kaufe, fast öffentlich, ohne wirklich legal zu sein. Die Männer sitzen in den Cafés oder auf Treppenabsätzen in Seitenstrassen, stopfen sich die lange, traditionelle Pfeife, der kurze Zeit später ein süsslicher Duft von verbranntem Haschisch entströmt. Es wird nun Zeit, dass ich nach Chefchaouen aufbreche, der grössten Stadt im Rifgebirge. Ins Zentrum der Haschischproduktion für Europa.

Schmale, kurvenreiche Ausfallstrasse: Wenn Lastwagen nahen, steigt man als Velofahrer besser vom Rad. (Bild: Walter Aeschimann)
Auf dem Weg dorthin passiert folgendes. Ausserhalb von Tétouan, als die Strasse ansteigt und schmaler wird, kommt mir ein Mountainbiker entgegen. Der einzige, den ich bislang gesehen habe, einen Velotouristen habe ich keinen angetroffen. Der Biker grüsst mich freudig – und ist wohl einen Moment unachtsam. Er ist schon an mir vorbei, da höre ich hinter mir einen dumpfen Knall. Ein Autofahrer hat ihm gnadenlos den Weg abgeschnitten. Der Biker ist seitlich ins Auto geknallt und liegt im Staub. Selber bin ich von Tétouan nach Chefchaouen mehrmals vom Rad gestiegen. Ich wich von der Strasse jeweils auf den mit Abfall und Scherben durchsetzen Schotterrand aus, wenn ich von hinten einen Lastwagen herannahen hörte, von vorne einen kommen sah und keiner der Chauffeure vom Gaspedal ging. Sie hätten mich nicht kreuzen können, ohne mich zu gefährden.

Mit dem Velo in Marokko:


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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3 Meinungen

  • am 30.10.2019 um 14:15 Uhr
    Permalink

    Vielleicht könnte Herr Aeschimann uns Leser aufzeigen, warum Marokkaner in der Schweiz um Asyl bitten, obwohl in diesem Land kein Krieg herrscht und es möglich ist, das Land mit dem Fahrrad zu bereisen. Mich würde es auf jeden Fall interessieren.

  • am 31.10.2019 um 23:37 Uhr
    Permalink

    @Hans Rudolf Knecht. Weil es noch andere Gründe gibt zu flüchten ? Ich empfehle mal die Genfer Flüchtlingskonventionen zu lesen.

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 2.11.2019 um 15:41 Uhr
    Permalink

    Ich war 1968 in Tetuan und wurde am Bus-Bahnhof von einem «fliegenden» Händler «gekidnapped». Die Jellabah habe ich damals nicht gekauft, aber das kleine Hotel in der Stadtmitte, das der «Händler» mir gefunden hatte, war perfekt. Sogar das Busticket nach Tanger für den nächsten Tag, welches ich «unvernünftigerweise» vorbezahlt hatte, hat er mir am morgen quasi ans Bett geliefert und mich rechtzeitig zum Bus gebracht.

    Ich war wohl selbst erstaunt über die Falschheit der aus Europa mitgebrachten Klischees über «arabische Strassenhändeler». Am Ende der Fahrt nach Tanger habe ich aber überrascht festgestellt, dass ich die lokale Musik nachsummte. Diese Anti-Klischee-Erfahrung hat mich seither über ein halbes Jahrhundert positiv begleitet. Von Tanger nach Tripolis «el gharb», von Tripolis «es-shark» über Kahira nach Dar-es-Salam.

    Meine Woche in einer Familie am Bab el Oued in Fez, war übrigens damals eine besondere Erfahrung traditioneller Gastfreundschaft. Dank eines Sierra-Leone-Kollegen aus Oxford, den ich in der wanzenverseuchten Jugendherberge in Tanger getroffen hatte. Aber das ist wohl eine andere Geschichte.

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