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Einmal mehr: Schwedische Polizisten bei der Spurensicherung. © ARD Weltspiegel

In Schweden tobt ein Kinderkrieg

Pascal Sigg /  Fast täglich sterben Minderjährige durch Gleichaltrige. Das milde Strafrecht und die freie Schulwahl stehen in der Kritik.

Mindestens sieben Tote allein in den letzten beiden Wochen: In Uppsala und Stockholm dreht eine Gewaltsspirale. Besonders an ihr sind Intensität und Akteure. So viel tödliche Gewalt in so kurzer Zeit. Und dass Täter und Opfer so jung sind. 15-Jährige werden verhaftet, ein 13-Jähriger wurde kürzlich erschossen.

Dass Schweden so stark von der Gewalt betroffen ist, verwundert hingegen weniger. Schiessereien kamen auch vorher wöchentlich vor. Kein anderes europäisches Land verzeichnet so viele Todesfälle durch Schusswaffen wie Schweden. Gemäss einem Bericht des schwedischen Rates für Verbrechensvorbeugung (Brottsförebyggande Rådet – BRÅ) von 2021 ist vor allem der Trend beunruhigend: Kein anderes Land in der Studie zeigt vergleichbare Anstiege. In den meisten anderen Ländern sinken die Zahlen der Fälle tödlicher Gewalt allgemein und tödlicher Gewalt mit Schusswaffen im Speziellen. Der Trend zeigt zudem, dass in Schweden die Opfer meist junge Männer unter 30 sind.

Fürs Jahr 2022 existiert kein Vergleichsbericht. Doch Schweden alleine verzeichnete 61 Fälle von tödlicher Gewalt durch Schusswaffen. Dänemark und Norwegen je 4. Finnland 2. Die Schweiz kam auf 11 Fälle (2021: 8).

Immer mehr Tote, immer jüngere Täter

Besonders an Schweden ist: Die allermeisten Morde finden in bestimmten Quartieren und im Rahmen organisierten Drogenhandels in Gang-Netzwerken statt. Die allermeisten Täter haben Migrationshintergrund, aber die Einwanderung lässt sich nicht als alleiniger Grund heranziehen. Zwischen 2000 und 2003 lag Schweden nämlich am anderen Ende der Statistik – trotz vergleichsweise hoher Einwanderung. Und andere europäische Länder mit hoher Einwanderung wie Frankreich oder Deutschland kennen das Problem nicht.

Alarmierend ist zudem ein weiterer Trend: Die Täter werden immer jünger. Die Zahl der Strafverfahren gegen 15- bis 17-Jährige ist wieder so hoch wie seit 2019 nicht mehr. Im ersten Halbjahr 2023 wurden 42 minderjährige Teenager eines Mordversuchs verdächtigt. Im gesamten 2022 waren es noch 38.

Ein fataler Zwischenzustand

Hauptgrund für die Gewalt sind nach Ansicht vieler Experten wie dem Journalisten Diamant Salihu tiefe Identitätkrisen als Folge gescheiterter Integration. Die Kinder aus geflüchteten Familien haben keine Perspektive innerhalb der schwedischen Gesellschaft. «Sie wachsen in einer Gesellschaft auf, in der sich viele ihrer Eltern nicht etablieren konnten. Gleichzeitig begegnet den Kindern in der schwedischen Mehrheitsgesellschaft grosses Misstrauen, bezogen etwa auf ihre Religion oder Aussehen. Sie landen in einem Zwischenzustand. In den Gesprächen, die ich geführt habe, berichteten viele, dass sie nirgendwo wirklich dazugehören.»

Die Netzwerke – anscheinend keine Gangs mit klarer Hierarchie – bieten Orientierung, schnelles Geld und Status. Die Gruppen in den Vororten der Grossstädte würden um Drogen kämpfen, sagt Carin Götblad, die ranghöchste Polizistin Stockholms. Bereits 2010 hatte sie in einem Bericht gewarnt, dass 5000 Kinder auf dem Weg in schwere Kriminalität seien, weil sie die falschen Vorbilder hätten und bereits mildere Verbrechen begangen hätten. Vor allem der Kokainhandel sei eine wichtige Ursache. «Viel Kokain kommt direkt aus Südamerika nach Schweden und wird von hier nach Europa verkauft. Es hält diese Konflikte am Leben», sagte Götblad kürzlich dem Guardian.

Schulsystem fördert Segregation

Viele machen auch das schwedische Schulsystem teilweise verantwortlich. In Schweden herrscht freie Schulwahl, jedes Kind erhält einen Gutschein und wählt selber, welcher Schule es das Geld bezahlen will. 1992 führte die Regierung unter Carl Bildt die sogenannte Freischulreform durch. Allerdings erhielten Privatschulen bis 1997 erst 85 Prozent des Schulgelds eines Kindes, während öffentliche Schulen die vollen Kosten erstattet erhielten.

Für öffentliche Schulen in Quartieren mit sozialen Problemen bedeutet dies: Wer weniger Probleme will, wechselt die Schule. Dies hat in den letzten Jahren die Segregation verstärkt. 2020 schlug ein Bericht im Auftrag der schwedischen Regierung vor, öffentlichen Schulen mehr Schulgeld zukommen zu lassen, um diese Entwicklung zu mindern. Dies wurde allerdings zuletzt abgelehnt.

Ein weiterer Bericht des Brottsförebyggande Rådet hielt vor wenigen Monaten fest: Jugendliche, die in eine sozial stärker herausgeforderte Schule gehen, riskieren eher, kriminell zu werden.

Status und Zugehörigkeit

Hinzu kommt, dass Schweden ein eher mildes Jugendstrafrecht kennt. Es sei bekannt, dass die Gangs bewusst Minderjährige einsetzen, um einen Mord zu begehen, weil ihnen keine lange Gefängnisstrafe drohe, sagte zum Beispiel Thomas Bälte, Staatsanwalt aus Uppsala gegenüber Sveriges Radio. Journalist Salihu sagte vor wenigen Tagen dem schwedischen Fernsehsender SVT, die Gangs würden die Jugendlichen mittlerweile im ganzen Land rekrutieren. Sie suchten auch besonders in Jugendheimen nach «verlorenen, identitätslosen jungen Personen, die bereit sind Gewalttaten auszuüben». Er sehe auch Beispiele von Kindern aus der Mittelklasse mit ethnisch schwedischem Hintergrund, die sich aktiv diesem Milieu zuwenden, weil die Anziehungskraft so stark ist.

Privatschulfilz mit rechtsextremen Einflüssen

Schwedens Mitte-Rechts-Regierung will dagegen vor allem die Repression verstärken und junge Straftäter härter bestrafen. Am Schulsystem will sie bisher nichts verändern. Wohl auch weil die personellen Verflechtungen zahlreich sind. Viele ranghohe Politiker haben oder hatten Posten in Privatschulkonzernen inne. Kürzlich wurde zudem bekannt, dass die Gründer des Schulkonzerns Internationella Engelska Skolan, welcher jährlich über drei Milliarden Kronen (ca. 250 Millionen Franken) Schulgeld umsetzt, rechtsextreme Medien finanzierten. Jimmie Åkesson, Parteichef der rechtsextremen Schwedendemokraten macht derweil pauschal die Zuwanderung für die Gewalt verantwortlich. Er sagte vor wenigen Tagen: «100 Prozent der Gewalt hat nur mit Migration zu tun.»


Arte:Re: Bandenkriminalität in Schweden (märz 2022)

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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

Eine Meinung zu

  • am 25.09.2023 um 10:07 Uhr
    Permalink

    Danke für diesen Bericht. Wie bei fast allem zeigt sich, dass ein Problem immer mehr als eine Ursache hat, ausser man bewirtschaftet es.
    Bleibt zu erwähnen, dass auch Schweden seit Jahrzehnten ein Problem mit Rechtsextremisten und Neonazis hat. Ich erinnere an den Polizistenmord.

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