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Spielexperte Synes Ernst © cc

Der Spieler: Mit sechs Freunden im Schützengraben

Synes Ernst. Der Spieler /  «Les Poilus» handelt vom Krieg. Nicht vom Krieg der Strategen, sondern von jenem der einfachen Soldaten. Stark und eindrücklich.

Wer das kleine Spiel «Les Poilus» zur Hand nimmt, wird gleichvorgewarnt. Die Spielanleitung beginnt nämlich mit einer Absichtserklärung. Und dort heisst es: «Ein Spiel ist eine Ausdrucksform von Kultur, genau wie ein Buch oder ein Film, und zwar eine, an dem man selbst teilhat. Es gibt kein Thema, das man im Spiel nicht behandeln könnte. Allerdings gibt es Themen, die heikler sind als andere, und dazu gehören die Erlebnisse von Frontsoldaten.»

Die Schwierigkeit mit dem Thema rührt vor allem daher, dass Spiele nicht nur ein Kulturmedium sind, sondern auch ein Unterhaltungsmedium. Wie kann man sich nur zu seinem Vergnügen spielerisch mit den Widrigkeiten des Krieges auseinandersetzen, mit Tod und Schrecken, mit Massenwahnsinn, Brutalität, Gewalt und Unmenschlichkeit? Es gibt viele Menschen, die Spiele dieser Art als gewaltverherrlichend und verrohend ablehnen. Vor dem Hintergrund der leidvollen Erfahrungen des Ersten und vor allem des Zweiten Weltkriegs waren sie in Deutschland denn auch lange tabu. Der Brettspielklassiker «Risiko» etwa entging in den frühen 1980er Jahren nur dank eines sprachlichen Tricks einem Verkaufsverbot: Statt die Welt zu «erobern», galt es in der «sauberen» Fassung, sie zu «befreien». Das liessen die Jugendschutzbehörden durch, auch wenn sich am Spielsystem nichts verändert hatte.

Da hatten Verlage vor allem in den USA weniger Hemmungen. Seit den 1970er Jahren gibt es einen Markt für Konfliktsimulationsspiele, in denen die grossen Kriege der Weltgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart nachgespielt werden, mitunter auch Kriege der Zukunft, wie etwa das bekannte «Fulda Gap». Das Kriegstechnische steht hier im Mittelpunkt, der Vergleich der jeweiligen Kampfkraft der verschiedenen Gegner, Kriegsspiele aus der Perspektive von Strategen, bar jeglicher Emotionen. Solche Spiele spielt man wie Schach. Hier denkt man beim Schlagen von Figuren längst nicht mehr daran, dass hier eine Handlung simuliert wird, die in der Wirklichkeit «Töten» bedeutet.

Keine Kriegsführung von oben herab

«Les Poilus» zählt nicht zu dieser Kategorie von Spielen. Denn es thematisiert zum einen das Kriegsgeschehen aus einer ganz anderen Sicht und lässt zum andern das eigentliche Kriegshandwerk völlig ausser acht. Entscheidend ist der Wechsel der Perspektive, den die beiden Autoren Fabien Riffaud und Juan Rodriguez mit einem genialen Einfall herbeiführen: Die Spielerinnen und Spieler führen den Krieg nicht als Strategen von oben herab, sondern erleben ihn selber als Mitglied einer Gruppe von Freunden, die am 2. August 1914 den Marschbefehl bekommen haben und noch auf dem Dorfplatz beschliessen, bis zum Ende zusammenzubleiben, sei es bis zum Tod oder bis zur Rückehr in ihre Heimat.

«Ist die Freundschaft stärker als der Krieg?» heisst es fragend im Untertitel des Spiels. «Les Poilus» ist ein kooperatives Spiel. Es gibt keinen einzelnen Sieger. Man gewinnt oder verliert miteinander als Gruppe. Die Kooperation ist zwingend. Als Einzelner würde man den Kampf gegen Granaten, Gasangriffe, gegen Hunger, Wind und Wetter niemals überleben. Als Gruppe hingegen hat man durchaus eine Chance, allerdings nur, wenn das Zusammenspiel klappt und das Glück – Reihenfolge der Karten – noch ein wenig mithilft. Ganz einfach ist es nicht.

Spiel mit unheimlichem Sog

Das Erstaunliche an «Les Poilus» ist, wie schnell man als Spieler in das Geschehen hineingezogen wird. Als Gruppenchef – eine Rolle, die man der Reihe nach übernimmt – muss ich mir beispielsweise vor dem Beginn einer Mission überlegen, welche Risiken ich meinen Leuten zumuten will. Bin ich zu forsch, muss ich darauf hoffen, dass sie die nötigen Karten in der Hand haben, um die so genannten «Bedrohungen» abzuwehren. Falls nicht, ist die Mission zum Scheitern verurteilt, was auf die Moral der Truppe schlägt und die Aussicht auf ein Überleben mindert. Kooperation heisst auch, dass ich mich im richtigen Moment zurückziehe und versuche, einen Mitsoldaten zu unterstützen und ihm so zu helfen, sich etwa von seinen Traumata, Ängsten und Phobien zu befreien.

Die «Poilus» wachsen einem im Verlauf des Kriegs bzw. des Spiels ans Herz. Man fiebert mit ihnen mit, man freut sich als Spielerin oder Spieler, wenn man wieder ein paar Bedrohungen (visualisiert auf Karten) ablegen kann. Man hofft, dass die Zahl der Karten auf dem entsprechenden Stapel abnimmt und die Taube als Friedenssymbol, das unter diesem Stapel verborgen ist, möglichst bald zum Vorschein kommt. Denn es bedeutet, dass die sechs Freunde die Schrecken der Schützengräben überlebt haben. Und mit Bangen verfolgt man die Entwicklung beim Stapel mit den Karten, welche den Moralvorrat der Truppe anzeigen. Je schneller sich dieser Stapel abbaut, desto schlechter ist es um die Gruppe bestellt und desto schneller naht das bittere Ende, das Kriegerdenkmal. Ach, wie leidet man da mit!

Menschen wie du und ich

Auf den ersten Blick steht die Aufmachung von «Les Poilus» in krassem Widerspruch zur Ernsthaftigkeit des Themas. Sie ist witzig, witzig allerdings nach französischer Tradition. Gezeichnet hat die «Poilus» – die Grauen, Haarigen, wie man die Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs in Frankreich nannte – der bekannte Karikaturist Tignous, der im Januar 2015 beim Terroranschlag auf «Charlie Hebdo» ums Leben gekommen ist. An seinem Strich erkennt man seit je, dass Tignous, die Typen, die er charakterisiert, mag. Als Betrachter kann man nicht anders, als sie auch zu mögen: den verliebten Anselme Perrin, den lauten Lazare Bonticeli, den ängstlichen Felix Moreau, den hilfsbereiten Gaston Fayard, den lebensfreudigen Gustave Bidau, das Alphatier Charles Saulière. Diese sechs Freunde sind Charaktertypen aus dem Leben gegriffen, keine anonymen Krieger, sondern Menschen wie du und ich mit Namen und Gesicht.

Das ist entscheidend. Denn es bildet die Voraussetzung dafür, dass man sich im Spiel mit ihnen, den «Poilus», identifizieren kann und den Krieg aus ihrer Perspektive hautnah «miterlebt». «Les Poilus» – von der «Jury Spiel des Jahres» als Kennerspiel empfohlen – verharmlost den Krieg nicht. Im Gegenteil: Das kleine Ablegespiel mit Karten legt, ohne den Mahnfinger zu erheben, die Sinnlosigkeit von Krieg und Gewalt offen. Die politische Botschaft ist klar.

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Les Poilus: Kooperatives Kartenablegespiel für 2 bis 5 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Sweet Games. ca. Fr. 30.-


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied.

Zum Infosperber-Dossier:

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Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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