Kommentar

Der Spieler: Die Geburt eines Klassikers

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Vor 20 Jahren hatte die Jury «Spiel des Jahres» keine andere Wahl: Zu «Siedler von Catan» gab es weit und breit keine Konkurrenz.

Nach dem Auffahrtswochenende gibt die Jury «Spiel des Jahres» traditionellerweise die Anwärter für die weltweit begehrtesten Auszeichnungen im Bereich der Gesellschaftsspiele bekannt. Während ich diesen Beitrag für den «Infosperber» schreibe, brüten und diskutieren meine Kolleginnen und Kollegen in einem Hotel in Deutschland über das aktuelle Angebot, wägen die Vorteile und Nachteile ab und stellen dann die Listen der nominierten und empfohlenen Spiele zusammen. Wo und in welchem Hotel sie derzeit tagen, verrate ich im Interesse der Unabhängigkeit der Jury nicht. Ich will ja nicht, dass ein nervös-neugieriger Verlagsmanager plötzlich am Ort des geheimen Tuns auftaucht. Wie das in den 1980er Jahren einmal der Fall war, als beim Eintreffen der einzelnen Jurymitglieder in ihrem Hotel in Bad Homburg der für seine Unverfrorenheit bekannte Chef eines Verlages bei Kaffee und Kuchen auf der Terrasse sass. Rein zufällig.

Ich beneide die Jury nicht um ihre Aufgabe. Aus einer Auswahl von mehreren hundert Neuheiten jene zwei Dutzend Titel auswählen, die künftig als Botschafter für das Spiel auftreten sollen, ist kein Schleck. Denn die Spiele wollen alle mehrmals und in unterschiedlichem Umfeld gespielt sein – ein ungeheurer Zeitaufwand. Ich habe diese Zeit nicht mehr, und ich will auch nicht mehr die Verantwortung tragen, die man als Mitglied der Jury angesichts der mächtigen Position von «Spiel des Jahres» unweigerlich hat.

Offenes Rennen

Die Entscheidfindung dürfte an der diesjährigen Klausurtagung besonders schwierig sein. Das Rennen ist völlig offen. Wer sich ein wenig die Mühe nimmt und die diversen Blogs und einschlägigen Webseiten zum Thema Spiel durchforstet, stellt rasch fest, dass es wohl eine Reihe von Kandidaten gibt, aber weder eindeutige Favoriten noch Titelanwärter. Für alle, die solche unklaren Ausgangslagen lieben, wunderbar, für jene aber, von denen bis Montag ein Ergebnis erwartet wird, vermutlich ein Graus. Ich weiss es nicht, ich habe im Vorfeld der Klausur mit niemandem von der Jury darüber gesprochen.

Da trifft es sich gut, 20 Jahre zurückzublättern und über die Klausurtagung von 1995 zu berichten. Damals war die Situation ganz anders. Es gab einen klaren Favoriten: «Die Siedler von Catan». Klaus Teuber und der Kosmos Verlag hatten das Spiel ein paar Monate zuvor an der Nürnberger Spielwarenmesse präsentiert. Es schlug wie eine Bombe ein. Nicht nur wegen des an «Lion King» erinnernden Covers. Inhalt und Form bildeten (und bilden heute noch) bei diesem Spiel eine vollkommene Einheit. Mit dem Thema spricht das Spiel das urmenschliche Bedürfnis an, Unbekanntes zu entdecken, zu ordnen und zu gestalten. Nicht ganz allein auf sich gestellt, sondern in Kooperation mit andern, aber durchaus auch in Konkurrenz. Geschickt sorgt der Würfel mit seinem Glücksfaktor für eine gewisse Nivellierung. Taktikbolzer werden auf diese Weise zurückgebunden, was «Siedler von Catan» zu einem idealen Familienspiel macht, bei dem verschiedene Generationen am Tisch sitzen. Unterstützt wird dieser Charakter durch die Tatsache, dass hier niemand brutal rausgeschmissen wird. Auf diesen Aspekt ist auch zurückzuführen, dass Frauen dieses Spiel von Anfang an sehr geschätzt haben.

Wegweisende Spielanleitung

Ein Trumpf war, dass die Redaktion um Reiner Müller die Spielanleitung so zu gestalten wusste, dass man das in den «Siedlern» steckende Potenzial schon ab der ersten Partie aufnehmen und erkennen konnte, das Zusammenspiel von Kommunikation, Kooperation, Taktik, Verhandeln, Risikomanagement und zielstrebigem Egoismus. Diese wegweisende redaktionelle Leistung war eine der Wurzeln des Erfolgs.

In der Branche gab es wohl einige Zweifel, ob sich «Die Siedler von Catan» als «Spiel des Jahres» eignen würden. Zu schwierig, am Publikum vorbei, waren Stimmen zu hören. Ob in ehrlicher Sorge oder einfach aus Konkurrenzgründen, das bleibe dahingestellt. Für das breite Publikum und die Spielekritik war jedoch klar: Der Preisträger 1995 konnte nur «Die Siedler von Catan» heissen. Doch selbst wenn der äussere Erwartungsdruck riesig war und die Meinungen gemacht schienen – der Entscheid musste erst noch getroffen werden. Ich selbst hatte mir als damaligem Jury-Vorsitzender noch die Frage gestellt, was passieren würde, sollte sich das auf Eigenständigkeit bedachte Gremium plötzlich widerborstig zeigen und sich weigern, mit dem Strom zu schwimmen und das zu entscheiden, was alle von ihm erwarteten. Als die Klausur begann, hatte ich weder die Antwort noch einen Plan B.

Nun, wir kamen recht schnell zum bekannten Ergebnis. Jury-Mitglied Wieland Herold in seinem lesenswerten Rückblick auf der Homepage von «Spiel des Jahres»: «Dieses Spiel nicht auszuzeichnen, hätte die Jury für ihre Aufgabe disqualifiziert!» Bei der Bekanntgabe des Preisträgers bemerkte ich beiläufig, der Entscheid der Jury sei einstimmig gewesen. An und für sich ist das Stimmenverhältnis bei der Wahl zum «Spiel des Jahres» geheim, aber damals, angesichts der aussergewöhnlichen Vorgeschichte und des aussergewöhnlichen Preisträgers erlaubte ich mir, eine Ausnahme von der Regel zu machen. Was auch prompt von den anwesenden Medienschaffenden aufgenommen wurde mit der Nachfrage, ob denn das bei den früheren Entscheidungen nicht der Fall gewesen sei. «Kein Kommentar», lautete meine Antwort.

Eine eigene Catan-Welt

Seit 1995 begeistern «Die Siedler von Catan» weltweit Millionen von Spielenden. Klaus Teubers Siedlungs- und Handelsspiel hat sich innert kürzester Zeit zu einem millionenfach verkauften Klassiker entwickelt, über den sogar das sonst nicht unbedingt spielaffine Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» berichtete. Ungewöhnlich auch, dass das Spiel als Vorlage für einen Roman diente. Normalerweise ist es so, dass Spiele literarische Themen aufnehmen, wie zum Beispiel «Herr der Ringe» oder «In 80 Tagen um die Welt». Seit Februar trägt die eigene Siedler-Welt, welche Verlag und Autor in den vergangenen 20 Jahren mit Variationen und Weiterentwicklungen der genialen Grundidee geschaffen haben, sogar einen eigenen Namen: «Catan».

Den Kolleginnen und Kollegen von der Jury «Spiel des Jahres» wünsche ich einen guten Entscheid. Das Fehlen eines eindeutigen Favoriten hat auch etwas Gutes: Die Spannung vor der Bekanntgabe des Ergebnisses ist tausendmal grösser.

—-
Catan. Das Spiel: Siedlungs- und Handelsspiel von Klaus Teuber für 3 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Spieldauer ca. 70 Minuten. Kosmos (Vertrieb Schweiz: Lemaco SA, Ecublens), ca. Fr. 35.-


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

Eine Meinung zu

  • am 20.05.2015 um 22:31 Uhr
    Permalink

    Sie riskieren, dass man Sie als «Spieler», «Amateur» und «Zeitverschwender» einstufen wird, wie Professor Varoufakis im Artikel oben.

    MfG
    Werner T. Meyer

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...