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Der Seziertisch im Elsässer KZ Natzweiler-Struthof. © Marc Huber

Der schreckliche Professor

Philipp Probst /  Einer der grausamsten Nazi-Ärzte war der deutsch-schweizerische Doppelbürger August Hirt. 1942 begann er mit Menschenversuchen.

Zwei Entscheidungen hatten für das Elsass fatale Folgen und machten aus der schönen Gegend eine Stätte der grausamsten und menschenverachtendsten Verbrechen. Erstens beschlossen die Nazis, die Universität Strassburg neu zu eröffnen und zweitens bauten sie in Natzweiler ein Konzentrationslager.

Einer der mörderischsten Lager

Es sind Auschwitz, Mauthausen, Bergen-Belsen und andere Orte, die heute als Symbole und Mahnmale der Massenvernichtungen stehen. Natzweiler-Struthof wird oft vergessen. Doch der französische Historiker Robert Steegmann schreibt in seinem Buch: «Natzweiler war eines der mörderischsten Lager des KZ-Systems.» Denn die Todesrate lag bei 40 Prozent. Das ist gleich hoch wie beispielsweise in Bergen-Belsen.

August Hirt, Sohn eines Schweizer Kaufmanns

Doch anders als in den Vernichtungslagern war im Elsass der Massenmord nicht systematisch. Die Menschen krepierten an der harten Arbeit, den katastrophalen Lebensbedingungen, den Todesmärschen – und den medizinischen Versuchen. Dabei hat sich vor allem ein Mann inszeniert: August Hirt, Sohn eines Schweizer Kaufmanns, geboren 1898 in Mannheim, im Ersten Weltkrieg verwundet. Ein Durchschuss des Oberkiefers zeichnete fortan sein Gesicht.

Später studierte er Medizin, wurde Arzt, Professor. Und er wurde Mitglied der SS, der NSDAP, war Oberarzt der Wehrmacht im Westfeldzug. Seine grosse Stunde schlug Ende 1941, als er Leiter des Anatomischen Instituts der neugegründeten Reichsuniversität in Strassburg wurde. Es war nicht nur sein Traum, sondern auch jener der ganzen nationalsozialistischen Führungsriege, in Strassburg eine deutsche Universität zu installieren. Denn schliesslich hatte hier einst Goethe studiert.

Studien mit Senfgas

Hirt kam vom KZ Dachau nach Strassburg und arbeitete vorerst noch mit Tierversuchen. Er erforschte vor allem die chemische Waffe Senfgas, auch Yperit genannt. Die ölige und ätzende Flüssigkeit zerstört als Kampfgas die Bronchien der Menschen. Die Wehrmacht befürchtete, dass die Alliierten Senfgas einsetzen würden. Ein weiterer Grund für die intensiven Forschungen war, dass Adolf Hitler in seiner Hetzschrift «Mein Kampf» behauptet hatte, im Ersten Weltkrieg selbst Opfer eines Senfgas-Angriffs geworden zu sein.

Auch Hirt kam an der Uni mit Yperit in Kontakt. Er musste sich einer Lungenbehandlung unterziehen. Dies verzögerte seine weitere Forschungsarbeit. Und auch sein mörderisches Treiben im KZ Natzweiler.

Ein KZ im Elsass – zur Schaffung von «Normalität»

Die Nazis wollten nach dem erfolgreichen Frankreichfeldzug 1940 auch im Elsass ein Konzentrationslager mit diversen Aussenlagern bauen und damit «Normalität» schaffen, wie Historiker Steegmann schreibt: Die bestehenden Lager erwiesen sich punkto Terrorverbreitung als äusserst erfolgreich.

Das Dorf Natzweiler bot sich wegen dem rosa Granit des Mont Louise an. Denn auf diesen Granit waren die Bauherren der Nazis zur Erschaffung des tausendjährigen Reiches besonders scharf. Den Abbau dieses Granits betrachtete Heinrich Himmer als ideale Beschäftigung für Gefangene, denn der SS-Chef hatte bereits 1937 geäussert, Inhaftierte hätten Sklavenseelen.

Die ersten Häftlinge trafen am 21. und 23. Mai 1941 im Elsass ein. Sie wurden im Tanzsaal des Hotel Struthof untergebracht. Sie waren es, die das KZ Natzweiler bauen mussten. Wann es in Betrieb genommen wurde, konnte auch Historiker Robert Steegmann nicht genau eruieren.

19 000 bis 22 000 Tote

Fest steht, dass im Jahr 1942 rund 1460 Häftlinge eintrafen. Die meisten davon stammten aus den Lagern Buchenwald und Dachau. Noch im gleichen Jahr wurde das erste Aussenlager in Obernai errichtet. 1943 und 1944 kamen weitere Aussenlager dazu. Rund 52 000 Menschen wurden im Natzweiler-Komplex interniert. Davon starben 19 000 bis 20 000, andere Quellen gehen von bis zu 22 000 aus. Aber auch diese Schätzung sei «wahrscheinlich bei Weitem zu niedrig», wie Historiker Steegmann festhält.

Das grausame Sterben

Leben und Sterben im Stammlager Natzweiler lagen nur schon deshalb nahe beieinander, weil das KZ an einem Hang errichtet wurde. Allein das Laufen mit den Holzschuhen, die regelrecht als Folterinstrumente eingesetzt wurden, war in Natzweiler ein einziges Martyrium. «Als Gefangener in Natzweiler-Struthof musste man ständig Stufen hinaufsteigen, die besonders hoch waren», berichtete ein Überlebender.

«Nach gewisser Zeit besassen viele Häftlinge nicht mehr genügend Kraft, um die Beine so zu heben, wie man das normalerweise tut. So bewegten sie sich auf seltsame Weise voran: Vor jeder Stufe nahmen sie Schwung, ergriffen ein Bein unterhalb des Knies und hoben es hoch, um den Fuss auf die nächste Stufe zu stellen.» Völlige Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung und tägliche Aggression der Wächter gaben vielen Menschen den Rest.

Das KZ hatte auch eine Gaskammer

Der Hang des Todes war zuvor ein äusserst beliebtes Ausflugsziel der Elsässer gewesen. Hier wurde sogar Wintersport betrieben. Die Gaststätte «Le Struthof» existierte seit 1829. Im Jahre 1906 wurde am gleichen Ort das Hotel gebaut, das 1936 renoviert, 1940 von den Deutschen beschlagnahmt und 1943 mit einem Raum ausgestattet wurde, der als Synonym der Nazi-Verbrechen steht: der Gaskammer.

Die Gaskammer wurde nicht zur Massenvernichtung gebaut, obwohl es eine Anweisung von höchster Ebene des Nazi-Regimes war. Sie diente zur «Forschung» und zu «Versuchen». Sie lieferte Menschenmaterial für den perversen Professor August Hirt.

1942 kam der Auftrag zu Menschenversuchen

Anfang des Jahres 1942, also genau vor 70 Jahren, erhielt Hirt von Reichsführer SS Heinrich Himmler die Erlaubnis, Menschenversuche mit Senfgas zu machen. Da Hirt zu dieser Zeit wegen seinem eigenen Senfgasunfall noch immer in der Klinik war, schickte ihm Himmler Orangen, Äpfel und Zitronen. Auf dass Hirt schnell gesund werden würde. Zudem beförderte Himmler den Doktor zum Hauptsturmbannführer, nahm ihn in die Waffen SS und in seinen persönlichen Stab auf.

Der Professor sollte durch nichts von seinen Forschungen abgelenkt werden. Da es noch einige administrative Streitereien gab, wurde es schliesslich 25. November 1943, 18 Uhr, wie Buchautor Steegmann detailliert festhält. Dann wurden die ersten 15 Häftlinge mit Senfgas «behandelt», das heisst, es wurden ihnen mehrere Tropfen auf den Arm geträufelt. «Etwa zehn Stunden danach traten Verbrennungen auf, die sich auf den ganzen Körper ausdehnten», schildert ein Überlebender.

«Überall, wo ein Senfgastropfen den Körper berührt hatte, entstanden Verbrennungen. Manche von ihnen wurden sogar teilweise blind. Sie litten schrecklich, auf unerträgliche Weise. Man konnte kaum in ihrer Nähe bleiben. Sie wurden täglich fotografiert, vor allem die verbrannten Stellen; nach fünf bis sechs Tagen starb der erste von ihnen.»

Prof. Hirt wollte eine jüdische Schädelsammlung

Der ehrgeizige Nazi-Arzt hatte aber noch einen weiteren Plan, um sich endgültig ein Denkmal zu setzen, wie er hoffte: Er wollte eine Schädelsammlung von Juden anlegen. Natürlich aus rein wissenschaftlichen Gründen, wie er Heinrich Himmel in einem Brief im Februar 1942 versicherte. Dank dem Krieg im Osten habe man nun endlich die Gelegenheit dazu.

«In den jüdisch-bolschewistischen Kommissaren, die ein widerliches, aber charakteristisches Untermenschentum verkörpern, haben wir die Möglichkeit, ein greifbares Dokument zu erwerben, indem wie uns ihre Schädel sichern», schrieb er dem Reichsführer SS. Und lieferte auch gleich eine detaillierte Anleitung, wie ihm die Köpfe geliefert werden sollen.

Auswahl der Opfer in Auschwitz

Doch so einfach war das nicht. Hirt erhielt keine fixfertigen Schädel, er musste die Drecksarbeit selber machen. Was ihm aber offensichtlich keine Mühe bereitete. Himmler und auch SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann unterstützten ihn. Da im April 1943 die Gaskammer im KZ Natzweiler einsatzbereit war, schickte Hirt einen Gehilfen nach Auschwitz, um im dortigen KZ geeignete Personen auszusuchen. 87 trafen Anfang August in Natzweiler ein.

Deren Vergasung führte der Herr Wissenschaftler natürlich nicht persönlich durch, aber er gab dem Kommandanten Josef Kramer genaue Anweisungen. Bei der späteren Vernehmung des Lagerkommandanten Kramer gab dieser zu Protokoll: «Nach diesem Gespräch gab er mir eine Flasche, die ungefähr ¼ Liter Salze enthielt, die, ich glaube, Cyanhydratsalze waren. Der Professor sagte mir, welche ungefähre Dosis ich zu nehmen hätte, um die Insassen, die von Ausschwitz kommen sollten, (…), zu vergiften.»

Der gehorsame Kommandant erfüllte die Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit des Professors. Er zögerte auch nicht, als die nackten Menschen in der Gaskammer «zu brüllen» anfingen, wie er zu Protokoll gab. Dieses endet mit der Aussage: «Ich habe bei der Ausführung dieser Dinge kein Gefühl gehabt, weil ich den Befehl erhalten habe, diese Insassen auf diese Weise zu töten (…). Übrigens bin ich auf diese Weise erzogen worden.»

Eine Frau hatte sich gewehrt, die Gaskammer zu betreten. Sie wurde erschossen. Deshalb wurden statt 87 nur 86 Leichen zu Professor Hirt an die Uni Strassburg gekarrt und präpariert. Doch dieser hatte plötzlich das Interesse daran verloren. Oder bekam er es mit der Angst zu tun? Buchautor Robert Steegmann schreibt: «Niemand weiss, warum Hirt die Leichen nicht anrührte.»

Hirt raubte das Zahngold und tauchte unter

Kurz vor dem Angriff der Alliierten griff sich der mörderische Professor das Zahngold und tauchte unter. Er hatte aber die Frechheit, 1945 nochmals aufzutauchen. Weil die englische Zeitung «Daily Mail» von seinen Verbrechen berichtete hatte, erwiderte er in einem Schreiben, er habe weder Menschenversuche durchgeführt, noch sei die Gaskammer eine Gaskammer gewesen, sondern ein Entlausungsraum. Er beging am 2. Juni 1945 in Schönenbach, dem heutigen Schluchsee im Schwarzwald, Selbstmord.

Die Schweiz fahndete bis 1959 nach Hirt

Seine Frau und sein Sohn waren bereits 1944 bei einem Bombenangriff auf Strassburg ums Leben gekommen. Dennoch herrschte lange Zeit Unklarheit über Hirts Schicksal. Laut dem Buch «Die Namen der Nummern» und der gleichlautenden Website, wurde Hirt im August 1945 in Genf gesichtet. Doch dies war offensichtlich eine Fehlinformation.

Am 23. Dezember 1953 wurde er in Abwesenheit von einem Militärgericht im französischen Metz zum Tode verurteilt. Die Schweizerische Bundesanwaltschaft – Hirt war ja immer noch deutsch-schweizerischer Doppelbürger – soll bis Ende 1959 nach ihm gefahndet haben.

Neben Hirt waren auch noch zwei andere Professoren der Uni Strassburg an Experimenten beteiligt. Sie konnten gefangen genommen werden und wurden zu Zwangsarbeit verurteilt, kamen aber 1955 im Rahmen einer Amnestie frei.

»Die Vorgänge sind rationell kaum fassbar»

Bei der Untersuchung der Taten von August Hirt und Co. «stösst der Historiker an die Grenzen des Erklärbaren », schreibt Robert Steegmann in seinem Buch. «Denn Vorgänge wie diese sind rationell kaum fassbar. (…) Angesichts der unfassbaren Verbrechen jeder ausgewiesenen Koryphäen ihres Fachs kann sich der Historiker fast nur noch auf die Kerntätigkeit seines Berufes zurückziehen und Fakten zusammenstellen.»

Das Leiden im Elsass dauerte bis in die letzten Kriegsstunden an. Zwar bedeutete der Einmarsch der Amerikaner am 23. November 1944 in Natzweiler die erste Befreiung eines KZ durch die Westalliierten. Doch die Soldaten fanden ein praktisch leeres Lager vor. Und auch die diversen Aussenlager räumten die Deutschen rechtzeitig und systematisch: Die Gefangenen wurden in durchorganisierten Transporten nach Dachau und in andere KZ verlagert, viele musste sich gar zu Fuss auf den Weg machen. Wie viele Menschen auf diesen Todesmärschen an Erschöpfung, Hunger, Kälte oder durch Erschiessungen starben, lässt sich nicht mehr genau eruieren.

Das KZ Natzweiler Struthof ist heute eine Gedenkstätte. Die Wunden des Krieges und der Greueltaten sind verheilt.
Sind sie es wirklich?


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Keine

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5 Meinungen

  • am 11.03.2012 um 16:04 Uhr
    Permalink

    Da will ein Kleverer sein Buch besser verkaufen und schreibt hier einen Artikel mit dem Hinweis auf sein Werk im Buchhandel.
    Ich empfinde die Veröffentlichung von Beiträgen dieser Art, bei Infosperber, kontraproduktiv und war eben drauf und dran, mich bei der Redaktion, zum Erhalt des Newsletters, abzumelden.
    So schrecklich diese Naziepoche auch war und so wichtig es ist, sich über diese üble Vergangenheit im Klaren zu sein, so deplatziert ist aber auch solcher Werbeballast bei http://www.Infosperber.ch.
    hanswitzig.lima-city.de

  • am 12.03.2012 um 11:10 Uhr
    Permalink

    Sehr geehrter Herr Witzig
    Vielen Dank für den Eintrag. Ich darf Ihnen versichern, dass mein Artikel nichts mit Werbung zu tun hat. Ich habe die Gedenkstätte besucht, dazu recherchiert und zudem das Buch von Herrn Steegmann gekauft und gelesen. Der Artikel ist eine hundertprozentig journalistische Arbeit. Wie bereits unter dem Text angegeben, habe ich keinerlei Verbindungen zu Herrn Steegmann oder zu den Verantwortlichen der Gedenkstätte.
    Herzlichst
    Philipp Probst, Autor und Journalist.

  • am 12.03.2012 um 15:41 Uhr
    Permalink

    Sehr geehrter Herr Probst
    Wenn das so ist, möchte ich Sie um Entschuldigung bitten, denn ich kann mich auf keinerlei Beweise stützen, bei der Annahme, dass Sie als Herrn Steegmanns Strohmann gewirkt haben sollten.
    Anderseits bin ich nach wie vor der Auffassung, dass Ihr Beitrag als „INFO“ sehr wertvoll ist, doch am „SPERBER“ ziemlich krass vorbei schiesst.
    Ich jedenfalls, würde es begrüssen, wenn Infosperber nicht durch themenfremde Artikel unnötig aufgebläht wird und meine, dass Ihr kostbarer Beitrag unter einem passenden Titel wesentlich wertvollere Dienste leisten könnte. Doch wo, zur Zeit, eine geeignete Platzierung zu finden ist, weiss ich in der Tat auch nicht. Tut mir leid.
    Herzlich
    hanswitzig

  • am 16.03.2012 um 10:13 Uhr
    Permalink

    Sehr geehrter Herr Probst
    Vielen Dank für Ihren interessanten Artikel. Ich habe nicht gewusst, dass es auch im Elsass ein KZ gab. Geschichtliches sollte immer Platz finden, so schrecklich die Zeiten auch waren, oder eben gerade darum. Damit es nie vergessen wird …

  • am 16.03.2012 um 12:16 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank, Frau Steinger-Sörensen
    Ja, das KZ ist nicht so bekannt. Die Kriegszeiten haben im Elsass tiefe Wunden hinterlassen. Und verheilt sind sie teilweise bis heute nicht. Das Elässisch ist fast ausgestorben, dieser herrliche Sprachmix! Erst seit ein paar Jahren gibt es Leute, die sich dafür stark machen …
    Philipp Probst

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