Stapel_Hunderternoten

Abzuklären, wer Anspruch auf eine Rente oder Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung hat, kostet einen Haufen Geld. Es gäbe Alternativen. © Depositphotos

Bürokratie in der IV: 98 Millionen für medizinische Gutachten

Andres Eberhard /  Mit IV-Gutachten kassieren manche Ärzte mehr als ein Bundesrat. Das zeigen neue Zahlen, die Infosperber exklusiv vorliegen.

Wer ist zu krank, um einer Erwerbsarbeit nachzugehen? Wem kann noch welche Erwerbsarbeit zugemutet werden? Und wer braucht Unterstützung in Form von Eingliederungsmassnahmen? Diese Fragen beschäftigen die Beamten der Invalidenversicherung täglich – 2021 meldeten sich über 18’000 Menschen mit gesundheitlichen Problemen bei der IV an. 248’000 beziehen derzeit mindestens eine IV-Teilrente.

Für die medizinische Abklärung bestellen die kantonalen IV-Stellen bei externen, juristisch geschulten Ärzten Gutachten. Auf diese Gutachten stützen sich die Sozialbehörden bei ihren Entscheiden.

Mit Verweis auf das Öffentlichkeitsgesetz hat Infosperber vom Bundesamt für Sozialversicherungen Zahlen erhalten: Im Jahr 2021 gab die Sozialversicherung über 98 Millionen Franken allein für solche Gutachten aus.

Entwicklung einer Gutachter-Industrie

Von diesen knapp hundert Millionen profitierten folgende spezialisierte Gutachter-Firmen ganz besonders: Am meisten Geld erhielt die Estimed AG aus Baar mit 5,8 Millionen Franken, dicht gefolgt von der SMAB aus Bern (5,5 Millionen) sowie ABI aus Basel und Medexperts aus St. Gallen (je 5,3 Millionen). Auch die Cemedex S.A. aus Fribourg (4,8 Millionen), die SMAB aus St. Gallen (4,5 Millionen) und die PMEDA aus Zürich (4,1 Millionen) machten ein gutes Geschäft.

Es handelt sich bei diesen Firmen allesamt um Begutachtungsinstitute, die sich auf das Verfassen solcher Gutachten spezialisiert haben. Diese Gutachter-Industrie wurde notwendig, weil es für die Abklärung komplexer Leiden Ärzte aus unterschiedlichen Fachgebieten sowie juristisch geschultes Personal braucht.

In den genannten Begutachtungsinstituten arbeiten Ärzte aus unterschiedlichen Fachdisziplinen sowie Juristen. Deshalb können sie solche Abklärungen aus einer Hand «polydisziplinär» anbieten.

Umstrittene PMEDA gehörte zu den Topverdienern

Solch lukrative Aufträge für polydisziplinäre Gutachten werden seit 2012 nach dem «Zufallsprinzip» vergeben. Für jeden einzelnen IV-Abklärungsfall können sich Gutachterfirmen bewerben, worauf ein Algorithmus, der die Kapazitäten der Firmen berücksichtigt, entscheidet. Ein solches System wurde eingeführt, nachdem Betroffenenvertreter der IV vorgeworfen hatten, jene Firmen zu bevorzugen, die besonders häufig im Sinne der finanziell angeschlagenen Versicherung entscheiden (also Rentenanträge eher ablehnen).

Allerdings wurde publik, dass einzelne Firmen diesem Zufallsprinzip etwas nachhalfen. So ist der Besitzer der Gutachteninstitute ZIMB (Umsatz 2021: 2,1 Millionen Franken) und GA eins (1,5 Millionen Franken) auch persönlicher Treuhänder des Eigentümers der ABI. Besitzt eine Person mehrere Gutachter-Firmen, hat sie folglich auch bessere Chancen, bei der Vergabe zum Zug zu kommen. Zudem landen die meisten Aufträge ohnehin bei den grössten Firmen, da nur diese über genügend Kapazitäten verfügen. IV-Abklärungen sind ein Massengeschäft.

Aus den vom Bund überlieferten Daten sticht das Unternehmen PMEDA heraus, gegen welches mehrere Strafverfahren hängig sind und das deswegen heftig in der Kritik steht. Trotz des Verdachts von Gefälligkeitsgutachten für die IV macht die Firma, die dem Arzt Henning Mast gehört, offensichtlich nach wie vor ein gutes Geschäft – 2021 waren es 4,1 Millionen Franken.

Dies ist paradoxerweise gerade wegen der erwähnten Zufallsvergabe möglich, da die IV-Stellen nicht selber bestimmen können, wer den Auftrag erhält, solange die bestehenden Verträge gültig sind. Bundesrat Alain Berset hielt kürzlich eine Sistierung des Vertrags mit der PMEDA für «nicht angezeigt». Erst im Hinblick auf die neue Zulassung sei eine erneute Überprüfung geplant. Diese ist schon bald fällig, da die Verträge im Juni 2023 auslaufen.

Über eine halbe Million pro Jahr

In weniger komplexen Fällen, in denen ein Facharzt für die medizinische Abklärung genügt, vergeben die IV-Stellen Aufträge nach wie vor freihändig. Ein einziger Basler Arzt stellte so binnen eines Jahres Rechnungen in der Höhe von 603’000 Franken an die IV, wie die Zahlen des Bundes zeigen. Damit erhielt er mehr als ein Bundesrat (454’000 Franken pro Jahr). Nicht enthalten sind ausserdem allfällige Aufträge von anderen Auftraggebern. Ein Westschweizer Arzt liess sich gar 1,3 Millionen Franken auszahlen, wobei es möglich ist, dass er als Unternehmer weiteres Personal beschäftigt.

Insgesamt zehn Ärzte nahmen im Jahr 2021 über 400’000 Franken ein. Diese zehn Topverdiener allein strichen rund einen Sechstel des Geldes ein, das der Bund für solche sogenannten monodisziplinäre Gutachten insgesamt aufwendete.

Abhängig von Aufträgen für Gutachten

Vertreter von behinderten Menschen erachten es als problematisch, dass die IV–Stellen bei solchen monodisziplinären Gutachten nach wie vor hauptsächlich selbst bestimmen, wer den Auftrag erhält. Denn die finanziell angeschlagene Versicherung müsste eigentlich systembedingt an «strengen» Gutachtern, welche Rentenanträge ablehnen, interessiert sein. Umgekehrt verleihen die neuen Zahlen der Vermutung Aufwind, dass einige Ärzte nicht unabhängig urteilen können, wenn sie fast ausschliesslich für die IV tätig und damit finanziell von ihr abhängig sind. Solche Befangenheit zu beweisen, ist indes schwierig – das Bundesgericht hat bislang jegliche derartigen Versuche von Betroffenenanwälten zurückgewiesen.

Die Vorwürfe von Falsch- beziehungsweise Gefälligkeitsgutachten für die IV sind indes nicht neu. Auf politischen Druck hin verbesserte sich die Situation für Betroffene per Anfang dieses Jahres. Unter anderem müssen zwingend Tonaufnahmen der Gutachter-Gespräche angefertigt werden. Ausserdem können sich Betroffene gegen einen von der IV vorgeschlagenen Gutachter wehren. Behindertenorganisationen geht dies allerdings zu wenig weit.

Viel Aufwand für Bürokratie, Anwalts- und Gerichtskosten

Die neuen Zahlen zeigen aber auch: Rund um die IV ist – genauso wie bei anderen Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe – eine riesige Bürokratie entstanden. Denn neben den 98 Millionen Franken für die Gutachten gibt der Staat auch viel Geld für Anwalts- und Gerichtskosten aus, weil sich sehr viele Betroffene gegen abschlägige Entscheide der IV wehren.

Um die Bürokratie zu stoppen und ein faires Verfahren zu ermöglichen fordert der Thinktank «Denknetz» schon länger eine allgemeine Erwerbsversicherung. Diese würde verhindern, dass Betroffene zwischen den Kassen hin- und hergeschoben werden. Derzeit landen viele, die von der IV abgelehnt wurden, bei der Sozialhilfe, wie das Bundesamt für Sozialversicherungen vor zwei Jahren nach jahrelangem Schulterzucken zähneknirschend zugeben musste. Eine Allgemeinversicherung, so die Idee, würde das System entschlacken und damit auch die aufwändigen und teuren medizinischen Abklärungen überflüssig machen. Von diesen profitieren zurzeit vor allem private Ärzte und Firmen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Senioren Paar.monkeybusiness.Depositphotos

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4 Meinungen

  • am 18.10.2022 um 11:12 Uhr
    Permalink

    Sparsamkeit sieht anders aus.
    Leidvoll aus 8 Jahren Kampf um eine kleine IV Rente hatte ich das zweifelhafte Vergnügen mit diesen Gutachtern. Die begutachteten sogar ohne einen untersucht zu haben……
    Aber Hauptsache das politische Sparziel erreichen und das Geld lieber an die Gutachter als an die Versicherten geben…

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 18.10.2022 um 14:07 Uhr
    Permalink

    Interessante Analyse. Besten Dank.

  • am 18.10.2022 um 14:44 Uhr
    Permalink

    1) Artikel: » Solche Befangenheit zu beweisen, ist indes schwierig – das Bundesgericht hat bislang jegliche derartigen Versuche von Betroffenenanwälten zurückgewiesen. »

    Kann mir da jemand einen BGer angeben oder gar einen BGE? Denn üblicherweise genügt für eine Ausstandspflicht der «Anschein der Befangenheit». Das dürfte hier gegeben sein, es gibt ja gute Argumente und auch Indizien, die auf eine Befangenheit einiger Gutacher hinweisen. Jetzt sind diese IV-Gutachter zwar Private und nicht der Staat, aber eben doch eng mit ihm verflochten. Mich würde die genaue juristische Auseinandersetzung mit der Ausstandspflicht in solchen Fällen interessieren.

    2) Das mit den Tonaufnahmen kann auch aus dem Grund problematisch sein, dass die «bösartigen» Gutachter nun genau wissen, was sie sagen dürfen und auch müssen, um letztlich so zu entscheiden wie immer. Es dürfte aufgrund einer Interessenabwägung auch ohne diese neue Norm erlaubt sein, diese Gespräche als Betroffener aufzuzeichnen.

    • Portrait_Andres.Eberhard
      am 18.10.2022 um 19:55 Uhr
      Permalink

      Guten Tag. Sie sprechen einen entscheidenden Punkt an. Trotz der Indizien (einige Anwälte sammelten auch Zahlen, die zeigen, dass gewisse Gutachter und Gutachterinstitute tatsächlich öfter Renten ablehnen als andere) hat das Bundesgericht selbst den Anschein der Befangenheit stets verneint. Mir bekannt ist der Fall 9C_232/2020.

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