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Gleichlange Spiesse? Nur 63 Prozent aller Flüchtlingskinder besuchten 2018 eine Primarschule. © UNHCR

Flüchtlingskinder: keine Bildung, keine Chance

D. Gschweng /  Nur ein Viertel aller Flüchtlingskinder bekommt mehr als eine Primarschulausbildung. Eine Hypothek, die sich kaum aufholen lässt.

Bildung ist ein Recht, das unterschiedslos alle Kinder haben – haben sollten. Aber nur 63 Prozent aller Flüchtlinge im Primarschulalter besuchen laut dem UN-Flüchtlingskommissar UNHCR eine Schule. Mit zunehmendem Alter wird Bildung noch knapper. Nur ein knappes Viertel kann eine weiterführende Schule besuchen, verglichen mit vier Fünfteln aller Kinder weltweit. Lediglich drei Prozent haben die Möglichkeit, eine Hochschulausbildung zu beginnen.

Der UNHCR sieht eine Hypothek wachsen, die sich nicht mehr korrigieren lässt. Etwa die Hälfte aller Geflohenen weltweit sind unter 18 Jahre alt, schätzungsweise 3,7 Millionen Kinder im Schulalter bekommen keine ausreichende Schulbildung. Treffen wird diese Bildungslücke die Länder, in denen die Kinder leben, oder aber ihre Heimatländer, falls sie dorthin zurückkehren. Denn es gibt ein Leben nach der Flucht.

Bildung ist kein Luxus

Wer flieht, muss sich zunächst um das Nötigste sorgen, Bildung erscheint dabei als Luxus. Das ist ein Irrtum. Die Zukunftsaussichten von Flüchtlingskindern werden ohne Schulausbildung laufend schlechter. Je älter sie werden, desto schwieriger wird es, das Versäumte nachzuholen. Und wer einmal unterbrochen hat, fängt wahrscheinlich nicht wieder damit an.

Je weniger ausgebildet geflohene Kinder sind, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr Leben lang sozial am untersten Ende der Gesellschaft leben, sehr jung verheiratet werden oder auf andere Weise Opfer von Verstössen gegen die Menschenrechte werden. Die Gesellschaft, in der sie leben, können sie damit nur wenig unterstützen.

Ohne Bildung wenig Perspektive

Welche Folgen es hat, wenn Kinder die Schule zu früh verlassen, zeigen zum Beispiel Statistiken aus Jordanien. Im Nachbarland Syriens, das eines der wenigen stabilen Länder im Nahen Osten ist, leben nach Zahlen der Vereinten Nationen 655’000 syrische Flüchtlinge. Nach Schätzungen der jordanischen Regierung sind es allerdings bis zu doppelt so viele. Viele syrische Familien sitzen in Flüchtlingslagern oder leben anderswie in prekären Verhältnissen. Einige werden in Jordanien bleiben, wenn der Krieg einmal endet – aus politischen Gründen oder weil sie in Syrien ohnehin alles verloren haben.

Jordanien bemüht sich nach Kräften, syrischen Geflohenen Lehrer und Schulen zur Verfügung zu stellen. Primar- und Sekundarschulen in Jordanien sind gratis, die Amtssprache ist Arabisch. Trotzdem waren 2016 nur 70 Prozent der sechsjährigen syrischen Mädchen und 80 Prozent der gleichaltrigen syrischen Knaben an einer jordanischen Schule angemeldet.


Syrische Kinder gingen 2016 in Jordanien weit seltener zur Schule als gleichaltrige Einheimische. («The Wellbeing of Syrian Refugees: Shifting from Humanitarian to Developmental Response in Jordan», Caroline Gould Krafft, 2018)

Bei den etwa 10-Jährigen sah es besser aus, viele (80 bis 90 Prozent) besuchten die Schule, mit zunehmendem Alter nahm die Beteiligung am Schulunterricht jedoch drastisch ab, mit 16 gingen noch etwa zwei Fünftel der jungen syrischen Männer und die Hälfte der heranwachsenden Frauen zur Schule.

Bei einer Zählung im Jahr 2016 konnten mindestens 20 Prozent der geflohenen Syrerinnen und Syrer in Jordanien unter 22 Jahren nicht lesen und schreiben. Ihre Familien kommen aber aus einem Land, in dem vor der Syrienkrise fast alle Kinder eine Primar- und fast drei Viertel eine weiterführende Schule besuchten.


Mehr als 20 Prozent aller syrischen Flüchtlinge in Jordanien unter 22 konnten gemäss einer Untersuchung im Jahr 2016 nicht lesen und schreiben. («Syrian Refugees in Jordan: Demografphics, Livelihoods, Education and Health», Caroline Gould Krafft, 2018)

«Human Rights Watch» hat mit Flüchtlingen in Jordanien gesprochen, deren Kinder die Schule verlassen haben. Sie nennen vielfältige Gründe dafür, warum ihre Kinder nicht weiter die Schule besuchen. Der naheliegendste Grund ist Armut: Die Familien brauchen die kindliche Arbeitskraft oder sie können mit dem Unterricht verbundene Kosten wie Transportkosten zur Schule nicht bezahlen. Die Kinder bleiben zu Hause oder müssen arbeiten.

Viele Eltern beklagen bürokratische Hindernisse: An die Realitäten der Flucht sind Schulen oft schlecht angepasst. Fehlende Geburtsurkunden, Zeugnisse oder andere Bildungsnachweise sind ein Hindernis auf dem Weg zur Schulbank.

Einige bemängeln die Qualität des Unterrichts: Lehrer sind oft Hilfskräfte oder nicht dafür ausgebildet, mit traumatisierten Kindern umzugehen. Schwierigkeiten gibt es auch bei Kindern mit Behinderungen, auf die Schulen nicht eingerichtet sind. Das fängt damit an, dass Kinder mit körperlichen Einschränkungen den Schulweg oder Wege innerhalb der Schule oft nicht bewältigen können. Dabei würde gerade Bildung ihnen helfen, zukünftig ein selbständiges Leben zu führen.

Dabei geht es Kindern in Jordanien noch vergleichsweise gut. In der Türkei, die weltweit am meisten syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, besuchen nach Daten von «Human Rights Watch» nur 13 Prozent aller Kinder im Sekundarschulalter eine Schule, in Kamerun sechs Prozent, im Libanon fünf Prozent. Für Mädchen sind die Chancen auf Bildung dabei generell schlechter als für Knaben.

Flüchtlinge in den wohlhabenden Ländern und der Schweiz

Kinder, die in ein wohlhabendes Land mit gut ausgebautem Bildungssystem migrieren, haben bessere Möglichkeiten. Aber auch dort ist nicht alles so, wie es sein sollte. Kinder in australischen Lagern haben zum Beispiel nur eingeschränkten Zugang zu Bildung. Der UNHCR bemängelt auch den Unterricht von Migranten in Sonderklassen, weil er die Integration bremst. Der Weltbildungsbericht 2019 lobte laut «swissinfo» vor einem Jahr allerdings Sonderklassen für Flüchtlingskinder mit unsicherer Bleibeperspektive in Zürich.

Insgesamt sprechen sich Menschenrechtsorganisationen dafür aus, der Schulbildung geflohener Kinder über das Primarschulalter hinaus dringend mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Nicht nur deshalb, weil Bildung ihr universelles Recht ist. Die Gefahr, dass eine «verlorene Generation» heranwächst, die aus Millionen ehemaliger Flüchtlinge besteht, ist gross.

Der «Global Education Report 2020» wird sich dem Thema Inklusion widmen: dem Recht, dazuzugehören.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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Eine Meinung zu

  • am 19.01.2020 um 16:38 Uhr
    Permalink

    Ein trauriger Bericht, der jeden, der noch menschliche Gefühle verspürt, entsetzen muss. Das Geld, das für die Schulbildung der Kinder benötigt wird, ist schliesslich vorhanden, nur ist es nicht in den richtigen Händen. Diesen Zustand können nur die Völker Europas vereint ändern. Im übrigen hat Jordaneinen insgesamt 873,000 Flüchtlinge, 89 pro tausend Einwohner, die weltweit zweithöchste Anzahl. In der Schweiz wären das 763,000 Flüchtlinge! Die Anzahl betroffener Kinder könnten auch wir nicht in unsere Schulen aufnehmen. Doch das Problem steht uns bevor, wenn wir gegen den Auswirkungen des Klimawandels nicht rechtzeitig vorsorgen. Bevor es zu spät ist muss sich der Wille des Volkes auch in diesem Bereich durchsetzen.

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