Kommentar

An Leib und Leben gefährdet – aber kein Visum für die Schweiz

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Ein verfolgtes afghanisches Ehepaar stellt einen Antrag für ein humanitäres Visum. Doch die Schweiz mauert.

Das afghanische Ehepaar Fardeen Samim und Nilofar Sahibi ist auf der Flucht. Taliban und andere islamistische Extremisten verfolgen sie. Der Mann, Fardeen Samim, 27 Jahre alt, hat im Kabuler Landwirtschaftsministerium für ein Projekt gearbeitet, das vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) unterstützt wurde und dem Ziel diente, den Opiumanbau auch in talibanregierten Provinzen zu reduzieren. Und da, beim geldbringenden Opiumhandel, verstehen die Taliban keinen Spass. Mehreren Anschlägen von Taliban-Anhängern entkam Fardeen mit knapper Not, teils aus Zufall, teils dank eines kugelsicheren Autos. Er trägt an Schulter, Nacken und Wirbelsäule Schäden davon.

Die Frau, Nilofar Sahibi, 25 Jahre alt, hat für Projekte von USAID und Weltbank gearbeitet, die das Ziel hatten, Frauen für lokale Politik und für Geschäftstätigkeiten zu befähigen. Ihre Frauen-Empowerment-Projekte waren z.T. in von Taliban beherrschten Hochrisikogebieten angesiedelt. Da sie dafür in Ausbildungsgängen und auf Videokassetten auftrat, ist sie eine öffentliche Person. Und hier, bei der Unterdrückung der Frauen, verstehen die Taliban keinen Spass. Sie suchen Nilofar. Und als ein Onkel von Nilofar bei dieser Suche nach der jungen Frau im Weg stand, wurde er erschossen.

Fardeens Geschwister und Eltern leben in der Schweiz, sein Vater lebt hier seit 20 Jahren. Fardeen stellte also einen Antrag auf ein humanitäres Visum für die Schweiz. Dieser Antrag wurde am 8. Dezember 2021 abgelehnt. Wie war das möglich?

Ja, wie war das möglich?

Eine erste Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Geschichte des humanitären Visums für die Schweiz: Im September 2012 kappten Bundesrat und Parlament einen wichtigen legalen Fluchtweg, indem sie die Möglichkeit, bei Schweizer Botschaften im Ausland Asylgesuche einzureichen, abschafften. Als Ersatz propagierten sie das humanitäre Visum gem. Art. 4 Abs. 2 VEV. Wer «im Herkunftsstaat unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet ist», sollte in die Schweiz kommen dürfen, um, in aller Regel, hier dann ein Asylverfahren zu durchlaufen.

Überblickt man die zehnjährige Praxis der Gewährung und Verweigerung von humanitären Visa, so muss man von einer Geschichte wachsender Brutalisierung sprechen. Die Schweiz erweist sich als Vorreiterin der Entwicklung, den legalen Zugang zu internationalem Schutz mehr und mehr einzuschränken. Das normalerweise diplomatisch zurückhaltende Rote Kreuz hat kürzlich in einem ungewöhnlich bitteren Papier begründet, warum es sich aus der Beratung für Antragstellende auf Erteilung humanitärer Visa resigniert zurückzieht. Auch die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht beschrieb die Schweizer Praxis in einem Bericht von 2019.

Die Entwicklung ist, knapp zusammengefasst, folgende:

  • Die Anforderungen bezüglich Profil und Gefährdung sind ständig gestiegen.
  • Die Anforderungen hinsichtlich Beweismittel und Dokumentation wurden ins Unerfüllbare gesteigert.
  • Der Schweizbezug muss neuerdings ganz eng und aktuell sein.
  • Die Entscheidungskriterien des SEM (Staatssekretariat für Migration) werden immer unberechenbarer.
  • Die Entscheide erfolgen oft als Standardantworten.

Die Folge: Die Zahl der Anträge steigt, die Zahl der erteilten Visa sinkt. Die Zahl der Anträge lag für die Jahre 2019 und 2021 bei über 2 000 bzw. über 3 000. Gleichzeitig aber sank die Zahl der erteilten Visa von 210 im Jahre 2012 auf 66 im Jahre 2020. Für das letzte Jahr weiss man bisher nur, dass – gerade wegen der afghanischen Tragödie – die Zahl der Anträge nochmals massiv zugenommen, die Zahl der Visaerteilungen aber erneut abgenommen hat.

Der erste Grund also, warum Fardeen und Nilofar der Eintritt in die Schweiz verwehrt wurde, hat wohl nichts mit dem Schicksal der beiden Verfolgten zu tun, sondern mit der Entscheidung von Vertretern eines kleinen Herrenvolkes, sich das Elend der Welt verstärkt vom Leib zu halten.

Bürokratische Ablehnung

Überhaupt dokumentiert der schweizerische Ablehnungsbescheid vom 8. Dezember 2021 einen bürokratischen Vorgang, der kaum Notiz nimmt von den Betroffenen. Die existenziell wichtige Entscheidung kommt als dürftiges Formblatt daher. Auf das, was die Antragstellenden vorbrachten, wird nicht eingegangen. Die auf den konkreten Fall bezogene Bearbeitung besteht aus drei Kreuzen. Das erste Kreuzchen steht an der Rubrik: «You are staying in a safe third country». Mit dem zweiten und dritten Kreuzchen wird behauptet, die beiden seien nicht unmittelbar, ernsthaft und konkret gefährdet. Das SEM erklärt Infosperber auf Anfrage, dass es sich aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes zum konkreten Einzelfall nicht äussern könne.

Richtig ist: Im November letzten Jahres gelang dem Paar Samim/Sahibi die Flucht nach Pakistan. Dort leben sie unter prekären Verhältnissen. Ihre Bankkonten in Afghanistan sind gesperrt, ihr Aufenthalt in Pakistan ist zeitlich begrenzt, derzeit bis zum 9. Januar. «Safe» ist das Land für sie nicht. Taliban- und andere islamistische Extremistengruppen haben ein Interesse daran, Fardeen zu beseitigen, denn er ist ein bestens (u.a. in London) ausgebildeter Finanzexperte und weiss wohl einfach zu viel. Als Compliance-Beauftragter von Banken und Telekommunikationsunternehmen hat er Einblicke in Finanznetzwerke und Korruptionsaffären von Taliban und Islamisten gewonnen.

Durch Überfälle und Plünderungen der beiden Büros von Fardeen und Nilofar haben sich die Taliban in den Besitz zahlreicher Dokumente und Daten gebracht, die sie gegen das Paar verwenden könnten. Der Arm der Taliban reicht durchaus bis nach Pakistan. Und solange das Paar in der Region lebt, sind auch ihre Verwandten und Bekannten gefährdet. Nilofars Familie ist zuletzt im September 2021 bedroht und misshandelt worden, ihr Bruder wurde in Geiselhaft genommen, weil die Taliban Angaben über den Aufenthaltsort von Fardeen und Nilofar erpressen wollten. Fardeens Familie sind Tadschiken aus dem Panjschir-Tal, einem Brennpunkt des Widerstands gegen die Taliban. Der in der Schweiz lebende Vater, ehemaliger Regisseur, hat einen Film über den Anführer dieses Widerstands, General Ahamad Shah Masoud, gedreht.

Besteht Hoffnung?

Unter den zahlreichen Anträgen von AfghanInnen auf humanitäre Visa ist der Fall des Paars Samim/Sahibi einer der dringendsten, wichtigsten und bestbegründeten. Gegen die Ablehnung ihres Antrags auf ein humanitäres Visum für die Schweiz läuft derzeit eine Einsprache, deren Erfolgschancen durch politische und journalistische Unterstützung vergrössert werden könnte. Auskünfte und Recherchehilfen erteilen gerne die Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz und Fardeens Schwester Yalda Samim. Der Fall ist nicht hoffnungslos, denn eine Ablehnung der Einsprache würde eine direkte Verantwortung des Staatssekretariats für Migration (SEM) ergeben. In diesem speziellen Fall ist die Sachlage sehr klar dokumentiert. Falls die Einreise in die Schweiz definitiv verweigert würde und dem Paar etwas zustiesse, müssten die Angestellten und Verantwortlichen des SEM mit Folgen rechnen: moralischen und juristischen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Felix Schneider ist gelegentlicher Mitarbeiter des „solinetz“ („Solidaritätsnetz Region Basel für Menschen ohne gesicherten Aufenthalt“).
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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7 Meinungen

  • am 9.01.2022 um 11:21 Uhr
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    Bei der Berichterstattung über «Coronademos» wird, deutlicher in Deutschland, aber auch in der Schweiz, auf die Anwesenheit von rechtsgerichteten Gruppen hingewiesen. Die sind nach meiner Erfahrung tatsächlich als Minderheit, aber lautstark Teil dieser Demos. Während nun die «Antifa» und ein grosser Teil der Presse sich von dieser Nebelpetarde blenden lässt und sich an der «Pandemie» abarbeitet, haben sich diese rechtsgerichteten Gruppen längst an für sie wichtigen Stellen, z.B. im Asylwesen breit gemacht.
    Dieser beunruhigende Gedanke sei hier als These zur Diskussion gestellt.

  • am 9.01.2022 um 11:27 Uhr
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    unterstützt wurde und dem Ziel diente, den Opiumanbau auch in talibanregierten Provinzen zu reduzieren. Und da, beim geldbringenden Opiumhandel, verstehen die Taliban keinen Spass.

    Ich weis ja nicht, woher Felix Schneider seine Informationen hat, denn diese Aussage ist falsch. Es ist doch genau umgekehrt. Unter dem Taliban wurde die Opium Produktion in Afghanistan gegen null gefahren. Erst der werte-Westlich Überfall auf Afghanistan, der 20 Jahre andauerte, schob den Opiumanbau in unvorstellbare Höhen.

  • am 9.01.2022 um 13:04 Uhr
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    Es ist ja bezeichnend für die Schweiz, dass hier ehemalige Nazigrössen Wohnrecht bekamen und sogar eingebürgert wurden. Liegt es eventuell daran, dass es darunter wohlhabende Millionarios gibt, die sogar die rechtsnationale Deutsche AfD unterstützen. Traurig aber wahr.

  • am 9.01.2022 um 13:56 Uhr
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    Da Asyl in Europa inklusive Schweiz nicht mehr auf Botschaften beantragt werden kann, sterben jedes Jahr tausende Flüchtlinge im Mittelmeer (mehr als einmal Tiananmen pro Jahr). Da kommt diese Geschichte leider keineswegs überraschend.
    Warum eine ehemalige US Agentin für USAID nicht in den USA aufgenommen werden sollte, ist mir nicht klar, aber zumindest bei UNO Vertretern sollte das eigentlich diskussionslos sein. Das moralische Mäntelchen des Westens wird immer dünner.

    • am 10.01.2022 um 19:53 Uhr
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      Herr Buchmann, dazu braucht es kein weiterer Kommentar.
      Genau sie waren im Dienst der USA, somit ganz klar.
      Wer hat das Land an die Wand gefahren ? Sicher nicht die Schweiz.

      • am 11.01.2022 um 10:31 Uhr
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        Ich warte auf den Tag wo sich die Schweiz jemals von den USA distanziert, oder gar Menschenrechte thematisiert bei einem Staatsbesuch.

        Item, Asyl sollte nicht nur von den Verursachern gewährt werden.

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