Sprachlupe: Wo der Journalist mit der streitbaren Frage hadert
Heute muss ja alles schneller gehen. Darum hadern manche bereits, bevor ihnen ein grösserer oder kleinerer Schicksalsschlag Grund dazu gibt – sie hadern laut Medienberichten mit einem anstehenden Entscheid. Doch sie könnten ja erst mit allenfalls unguten Folgen wirklich hadern, also «unzufrieden sein und das beklagen» (dwds.de; auch «streiten» ist eine mögliche Bedeutung). Nun aber liest man etwa, dass «viele KMU mit der Unternehmensnachfolge» im Voraus hadern; eine Frau tut es, bevor sie ihrem Verehrer das Jawort gibt; wegen Trump hadert ein Reiselustiger mit seinem Vorhaben, die USA zu besuchen. Sie alle zögern, tun sich schwer – aber etliche Medienleute wählen auch dafür das Wort hadern. Wird es oft genug so verwendet, dann kommt die zusätzliche Bedeutung vielleicht in die Wörterbücher, denn diese pflegen sich nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu richten.
Bei einigen Wörtern fällt mir der falsche Gebrauch seit vielen Jahren auf, und noch in keinem Wörterbuch habe ich ihn anerkannt gefunden: launisch (launenhaft) statt launig (spassig), streitbar (streitlustig) statt strittig (umstritten), mitunter (ab und zu) statt unter anderem. Auch weitere «Wörter auf Abwegen» (2019) sind im wörterbuchmässigen Abseits geblieben: Fond (Rücksitze) statt Fonds (zweckgebundenes Kapital), Sollbruchstelle (geplant zur Schadensbegrenzung) statt Schwachstelle (ungeplant), Prinz (potenzieller Thronfolger) statt Fürst (Rang in der Adelshierarchie). Weitere damals gefundene journalistische Fehltritte sind Einzelfälle geblieben: hinfort! für hinweg!, ruchbar für anrüchig, unbotmässig für ungebührlich. Von Missbrauch gefährdet sind vor allem rar gewordene Wörter. Ganz selten wird eine verschüttete Bedeutung wiederbelebt, so bei Diskurs – in der modischen Häufung bis zum Überdruss.
Mangelernährung beim Lesefutter
Weitere «Fauxpas» sind 2023 dazugekommen, wohl ebenfalls ohne Chance auf Eingang in Wörterbücher, wie auch meine jüngsten Funde: haltlos statt unaufhaltsam, übervorteilen statt bevorteilen, eine Sache der anderen bevorzugen statt vorziehen. Häufen sich solche Missgriffe in der Journalistenzunft? Obwohl mein Medienkonsum eher abnimmt, kommt es mir so vor, und das nicht etwa, «weil früher alles besser war». Jüngere Kolleginnen und Kollegen schreiben und reden oft einfallsreicher, als es die eher formelle Pressesprache von ehedem zuliess. Aber wahrscheinlich nähren manche ihre Sprachgewohnheiten stärker aus schnelllebigen Bildschirminhalten als aus gedruckten, womöglich gar zwischen Buchdeckel gefügten Seiten.
Neulich hat eine Erhebung Aufsehen erregt, wonach die Sprachfähigkeiten von Schulkindern innert weniger Jahre abgenommen haben, vor allem bei Buben. Ein – allerdings nicht so neuer – Grund mag sein, dass sie eben weniger Bücher lesen. Bei den herangewachsenen Medienschaffenden ist mir punkto Unsicherheiten im Wortschatz freilich kein Unterschied zwischen den Geschlechtern aufgefallen.
Gelernt: Im Zweifel nachschlagen
Bei Zweifelsfällen reicht es oft, ein einziges Buch beizuziehen: den Duden (für Bedeutungsangaben online). Das hätte ich schon 2009 bei meiner ersten öffentlichen Vokabularschelte tun sollen: Ignoranz, so meinte ich damals, könne nur Unwissenheit bedeuten. Dabei war mindestens seit 2011 (ältester von archive.org erfasster Eintrag aus duden.de) auch die Bedeutung das Ignorieren verzeichnet – mit dem Vermerk «selten». Der Vermerk ist bis heute geblieben, aber das Wegsehen ist mit Ignoranz inzwischen wohl ebenso häufig gemeint wie der Wissensmangel.
Umsichtiger war ich, als mich 2021 die vermeintlich neue Verwendung von Flair für die Atmosphäre eines Ortes störte, etwa Zürichs «grossstädtisches Flair». Ich fragte mich, ob da das Flair (Gespür) fürs richtige Wort fehle. Aber ich schaute nach und musste einsehen, dass die verwickelte Geschichte des Worts beide Bedeutungen hergab. So war ich wenigstens sprachlich gewappnet, als ich jüngst nach dem Unglück in Portugal las, dass die Seilbahnen den «traditionellen Lissabonner Flair verkörpern». Sogar das Maskulinum steht für Flair als Variante im Online-Duden, wenn auch nicht im gedruckten.
Weiterführende Informationen
- Indexeinträge «Modewörter» und «Wortwahl» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwortsuche und Links nur im heruntergeladenen PDF.
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