Sprachlupe: Blatten – ein Fanal, aber kein fataler Ortsname
«Wir haben das Dorf heute verloren, aber das Herz nicht.» Das sagte Gemeindepräsident Matthias Bellwald wenige Stunden nachdem Berg und Gletscher Blatten verschüttet hatten. Auch den Namen hat das Dorf nicht verloren, er ist vielmehr zum Fanal für die steigenden Gefahren in Berggebieten geworden. Nomen est omen, könnte man meinen, wenn man an abrutschende Felsplatten denkt: Im Namen liegt ein Vorzeichen, hier ein «Feuerzeichen, Warnzeichen» (wie dwds.de Fanal herleitet). Für die Katastrophe im Lötschental trifft indes diese Namensdeutung nicht zu.
Zwar kommt Blatten tatsächlich von (meist felsigen) Platten, und solche dürften auch bei den auslösenden Felsstürzen am Kleinen Nesthorn eine Rolle gespielt haben – aber es sind nicht sie, denen das Dorf seinen Namen verdankt, gemäss Ortsnamen.ch seit dem 15. Jahrhundert beurkundet. Es müssen unter der Ortschaft gelegene Platten sein, denn damals wie heute im Dialekt lautet der volle Name «uff där Blattun». Verhiesse Blatten stets Gefahr, wäre das fürs Wallis fatal, also verhängnisvoll, denn der Name ist sehr häufig anzutreffen. Er steht oft in Zusammensetzungen und vor allem in Flurbezeichnungen, aber nur einmal für eine Gemeinde – und auch das nur, weil der im oberen Lötschental kursierende Fusionsgedanke bisher durch engere Zusammenarbeit der vier Gemeinden aufgefangen wurde, die zusammen rund 1500 Einwohner zählen.
Orts- und Flurnamenbuch gratis abholbar
Im kürzlich bei Narr/Francke erschienenen «Oberwalliser Orts- und Flurnamenbuch» steht dazu: «Blatta kommt rund 600 mal in den Namen vor. Es ist zu stellen zu schweizerdeutsch Blatten, Platten, walliserdeutsch Blatta, Blattä (Goms) Blattu f. ‘Fläche auf einem Berggipfel, Felsplateau, Fels-, Bergterrasse’, nur noch in Namen, ‘breiter, flacher Fels, (blossliegende) Felsplatte, Felswand’, ‘Steinplatte, roh oder zugehauen, auch künstlich hergestellt (z. B. auf Stützen ruhende Steinplatte (Kornspeicher), …» Nur beiläufig und theoretisch wird erwähnt, dass zuweilen auch ein Pflanzenblatt Namenspatron sein könnte. Indes: «Die Topografie des Oberwallis führt dazu, dass sehr viele Felsflächen freiliegen und benannt werden können.»
Der ehemalige Berner Professor Iwar Werlen zeichnet als Herausgeber des vierbändigen Handbuchs mit 1135 Seiten. Als E-Buch (PDF) ist das Werk dank Förderern löblicherweise im Rahmen von Open Access erschienen, also gratis erhältlich. Es lädt zum Stöbern ein, etwa wenn man einen Ausflug ins Wallis vorbereitet oder mit namenskundlichen Rätseln aus den Ferien zurückkommt. Oder eben jetzt, wo viele Gedanken ums Lötschental kreisen, wenn auch wegen dringenderer Anliegen als Orts- und Flurnamen.
Wo auch die Wissenschaft rätselt
Dennoch sei ein sprachlicher Blick ins geplagte Tal gestattet, das mir Googles KI ungerührt als «Berglusttal» anpreist. Für seinen Fluss Lonza führt das Namenbuch «eine Ableitung von kelt. loudon ‘Blei’ zu *Loudantia ‘Bleibach’ als Ausgangspunkt an, die sowohl zu Lonza wie zu Lötschen führen soll». Die mit dem Sternchen markierte Hypothese wird gleich wieder verworfen: «Es ist allerdings schwer zu verstehen, warum hier Blei eine Rolle spielt (auch wenn es im Lötschental Bleigruben gegeben hat)». Eine weitere Vermutung für Lötschen (Leuccina ‘rivière claire, brillante [heller, glänzender Bach]’) ist laut dem Buch «sehr spekulativ» und «der öfters angeführte Zusammenhang mit dem Flussnamen Lütschine lässt sich schwer nachweisen» (vgl. Berner Ortsnamenbuch). Fazit: «Bessere Lösungen liegen aber bisher nicht vor.»
Ähnlich rätselhaft ist der Ortsname Kippel, besser belegt dagegen die «grüne» lateinisch-französische Herkunft vert für Ferden. Leicht zu erraten ist, was der vierte Gemeindename im Tal bedeutet, Wiler. Trotzdem lohnt sich der Blick ins Buch, das die Gemeinden handlich am Anfang aufführt: «Der Name Wiler (gespr. ts Wilär) ist im Oberwallis auch sonst als Flurname belegt, vor allem im Goms. Er ist zurückzuführen auf schwdt. Wīler m., ahd. wīlāri, mhd. wīler ‘kleine Ansiedlung, Weiler, einzelnes Gehöft’, frühe Entlehnung aus rom. villāre ‘Gehöft, Vorwerk, Gutshof’, einem substantivierten Neutrum des lat. Adj. VĪLLARIS ‘zum Landhaus, Landhof gehörig’.» So sind wir via Schweizerdeutsch sowie Mittel- und Althochdeutsch zur lateinischen Villa gelangt. Da ist der Gedankensprung zu den Ferienhäusern nicht weit, die nun als Notwohnungen dienen sollen.
Weiterführende Informationen
- Land und Leute prägen die Sprache (Wallissertitsch lässt die Besiedlung des Berggebiets hörbar werden, D. G. im «Sprachspiegel» 2/2014)
- Internet-Ressourcen zu Schweizer Ortsnamen
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