1848 Paulskirche Parlament.Prussian Picture Archive

Nationalversammlung in der Paulskirche im Jahr 1848 © PrussianPictureArchive

Der Obrigkeitsstaat wird poliert, der Demokratieanfang nicht

Heribert Prantl /  Das Berliner Schloss – Symbol des Preussenstaats – ist rekonstruiert. Nicht aber der Plenarsaal von 1848 in der Paulskirche.

Waren Sie schon einmal in der Frankfurter Paulskirche? Wenn ja, dann waren Sie wahrscheinlich so enttäuscht wie ich. Wenn nein, dann warne ich Sie vorsichtshalber. Es handelt sich um einen historischen Ort, dem man seine Historie ausgetrieben hat. Die Paulskirche ist ein zentraler Ort der deutschen Demokratie, an dem man davon nichts sieht und wenig davon spürt. Jede Ritterburg hat mehr Aura als diese Stätte, die gern als die Wiege der deutschen Demokratie bezeichnet wird. Diesem Ort fehlt die Aura der Authentizität. 

Man sieht nichts mehr von dem Plenarsaal, in dem vor 175 Jahren die Nationalversammlung, das erste deutsche Parlament, getagt hat. Man sieht nichts mehr von dem Interieur, in dem über die Zukunft Deutschlands gerungen und gestritten wurde. Man sieht nichts mehr von der gewaltigen Galerie, auf der zwölfhundert Zuhörerinnen und Zuschauer für Stimmung sorgten. Sie brachten, wie es ein Zeitgenosse formulierte, «Leben in die Bude. Es wurde aus Leibeskräften applaudiert und gezischt.» Man kann sich das nicht mehr vorstellen, weil die im Zweiten Weltkrieg ausgebrannte Stätte beim Wiederaufbau 1948 völlig umgestaltet wurde. Man kann in einem «Grund-Plan» von damals studieren, welche Abgeordneten auf welchem der nummerierten Plätze sassen: Der grossartige, später von kaiserlichen Militärs in Wien erschossene Redner Robert Blum auf Platz Nummer 5 in der ersten Reihe; der berühmte Germanist und Märchensammler Jacob Grimm auf einem gesonderten Sitz, unmittelbar gegenüber der Rednertribüne und dem Präsidium. Dort machte er am 4. Juli 1848 den bekenntnishaften Vorschlag, den künftigen «Grundrechten des deutschen Volkes» den folgenden ersten, wunderbar kräftig-poetischen Artikel voranzustellen: «Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.» 

Es wäre schön, wenn der alte Parlamentsbau rekonstruiert worden wäre – um, wie es die frühere Kulturstaatsministerin Monika Grütters sich gewünscht hatte, Demokratiegeschichte «sinnlich erfahrbar zu machen». Eine Expertenkommission hat sich vor ein paar Wochen gegen eine solche Rekonstruktion ausgesprochen. Das ist enttäuschend. Demokratie gilt ja oft als eine glanzlose Staatsform, als eine Staatsform ohne Magie. Das wird der Demokratiegeschichte nicht gerecht. Die Geschichte der Volksherrschaft ist verrückt und verzagt, sie ist voller Umwege und Irrwege. Die Paulskirche ist ein Symbol dafür – eigentlich. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird sich zum Jahrestag mühen, die Ereignisse bei einer Festveranstaltung in einer grossen Rede in der Paulskirche auferstehen zu lassen. Es wird ihm kaum gelingen. Warum nicht? Der Originalort des Parlaments von 1848 ist durch den Nachkriegsumbau von 1948 nicht mehr erkennbar. Er sieht so aus, als sollte er die Vorurteile gegen die Demokratie bestätigen: Glanzlos, geschichtslos, ohne Magie. Und das soll nun offenbar auch so bleiben. 

Das Berliner Stadtschloss, das Monument des preussischen Obrigkeitsstaats, ist rekonstruiert und wieder aufgebaut worden. Man kann sich also anschauen, von wo aus der preussische König 1848 auf die demokratischen Bürger hat schiessen lassen. Wie der Plenarsaal der Nationalversammlung von 1848 ausgeschaut hat, das zeigen nur alte Bilder. Die Wiederbelebung dieses authentischen Orts der frühen deutschen Demokratie ist nicht versucht worden. Dafür aber hat die Wiederbelebung des authentischen Orts des preussischen Obrigkeitsstaats geklappt. Welch traurige Symbolik! 

Stolz sein auf die Nationalversammlung von 1848 dürfen wir trotzdem. Die Paulskirche ist ein erinnerungspolitisch unerlöster Ort der Demokratie. Hoffentlich kommt die Erlösung noch.

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien am 14. Mai 2023 als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Eine Meinung zu

  • am 16.05.2023 um 16:28 Uhr
    Permalink

    Man könnte es noch weitertreiben: mitnichten ist das Berliner Schloß rekonstruiert – anders z.Bsp. bei der bis in Detail originalgetreu wiederaufgebauten Dresdner Frauenkirche ist das neue B.-Schloß ein moderner Betonbau der lediglich von außen mit historischen Fassaden verkleidet wurde. Also eine Mogelpackung. Anders als der Palast der Republik der DDR, der hier vorher den Charakter eines «Volksheimes», eines «Volkspalastes» verkörpern sollte – es gab modular verwandelbare Veranstaltungssäle, Discos, Restaurants, Bars, ein Postamt, sehr viel Kunst – ist das neue B.-Schloß ein steriles Elitenprojekt für sterile Eliten, genauso langweilig, spießig und beliebig wie der Rest des neuen gesamtdeutschen Regierungsberlins; teurer plumper Prunk, grau in grau.

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