Kommentar

kontertext: Sie möchte spontan auf die nächste Barrikade

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Die amerikanische Philosophin Susan Neiman verteidigt die Aufklärung. «Links ist nicht woke» heisst programmatisch ihr neues Buch.

In der Gesellschaft von Susan Neiman fühlt man sich wohl. Ihr Denken ist eine kluge, ja warmherzige Variante des «common sense», des gesunden Menschenverstandes. Sie ermutigt zu linker Politik in der Tradition der Aufklärung, riskiert gerne moralische Urteile und bleibt dabei doch immer höflich. Sie schreibt konkret und – mit wenigen Ausnahmen –  klar verständlich.

Ohne ihre Befindlichkeit zu dramatisieren, liefert sie auch die heute geforderte «Positionalität», ihre Verortung in allen möglichen Zusammenhängen: Die meiste Zeit ihres Lebens habe sie in USA und Europa verbracht – geboren 1955 in Atlanta/Georgia ist sie heute Direktorin am Einstein-Forum in Potsdam – und sie sei als weisse Frau «codiert». Weiter: «Für weiße Nationalisten gelten Juden allerdings nicht als weiß, für schwarze Nationalisten jedoch schon (…) Die Tatsache, dass ich ziemlich viel über Immanuel Kant geschrieben habe, kann als Versuch gelesen werden, diese Vorurteile zu rationalisieren oder aber meine Position weiter zu durchdenken.»

Aufgrund ihres US-amerikanischen Backgrounds weiss sie oft hierzulande wenig Bekanntes zu vermitteln. Für ihre Verteidigung der europäischen Aufklärung beruft sie sich gerne auf schwarze und aussereuropäische Denker, etwa auf den Afroamerikaner Olufemi O. Taiwo oder Ato Sekyi-Otu aus Ghana.

Anknüpfen an die Aufklärung

Neiman empfiehlt eine Neubesinnung auf die Epoche der Aufklärung. Das ist die intellektuelle und politische Bewegung, die mit Pierre Bayles «Dictionnaire historique et critique» aufblühte und 1804 mit Kants Tod endete. Gegen das heute verbreitete «enlightenment bashing» erinnert sie daran, dass die Kritik am Eurozentrismus und am Kolonialismus just von den Aufklärern erfunden wurde. Die Forderung, die Welt auch aus dem Blickwinkel der Nichteuropäer zu sehen, steht in einer Tradition, die zurückgeht bis auf Montesquieu, der zwei (fiktive) Perser auf unsere Kultur blicken liess. Die Legende, die Aufklärung habe den Kolonialismus gerechtfertigt, ist aus einem groben Missverständnis entstanden: Man hat die Lügen europäischer Imperialisten, sie wollten den Kolonien nur die Aufklärung schenken, mit der Aufklärung selbst verwechselt.

Die Ideen des Universalismus, der Gerechtigkeit und des möglichen Fortschritts seien, so Neiman, zentral für Linke. Sie schildert, welch ungeheure Leistung es war, zur Abstraktion des Begriffs «Menschheit» vorzudringen und weist mit Ato Sekyi-Otu darauf hin, dass die aussereuropäischen Kulturen und Sprachen nicht auf Import aus Europa angewiesen sind, um die Idee des Menschlichen zu denken.

Keine Freiheitsberaubung, bitte

Neimans Intervention richtet sich gegen Denkformen, die dem Menschen die Freiheit zum moralischen Entscheiden und Handeln wegnehmen, indem sie sein Verhalten als nahezu vollständig von der Natur oder der Gesellschft determiniert betrachten.

Die Soziobiologie etwa und ihre einflussreiche Nachfolgerin, die Evolutionspsychologie,  sehen das Verhalten der Menschen im Wesentlichen bestimmt von der Fortpflanzungsstrategie, vom Willen eines jeden Lebewesens, seine Gene weiterzugeben. Im Lichte der Theorie vom «egoistischen Gen» erscheint Aggressivität als natürlich, und Phänomene wie Altruismus, Idealismus oder Moral sind, wenn überhaupt, nur als blosse Taktiken zur Verhüllung des Egoismus erklärbar.   

Eine andere, aktuellere Form der Freiheitsberaubung ist das, was Neiman «Stammesdenken» nennt: Die Festlegung des Individuums auf seine Abstammung und seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder einem bestimmten Kollektiv, z.B. einem Opferkollektiv. Neiman beruft sich u.a. auf den Schriftsteller Jean Améry, einen Überlebenden der Todeslager, der den Opfern keine Denkmäler errichten wollte. Denkmäler seien für Taten, sagt er und erklärte: «Opfer geworden zu sein, kann den Grund für Wiedergutmachung abgeben, doch sobald wir im Opfersein per se Anerkennung begründet sehen, sind wir auf dem besten Wege, Anerkennung und Legitimität von Tugend überhaupt zu trennen.»

Was war «black lives matter»?

Warum Stammesdenken gefährlich ist? Betrachtet man die Forderungen von Minderheiten nicht als Menschenrechte, sondern als Rechte bestimmter Gruppen (nur das sei «authentisch», heisst es heute oft), so muss man auch der Mehrheit, etwa den Europäern, das Recht einräumen, auf ihren Forderungen und Privilegien zu bestehen. Und das ist, was Trump vertritt.  

Die Bewegung «Black lives matter» war in ihren Anfängen universalistisch und divers. So wurde sie zur grössten sozialen Bewegung der US-amerikanischen Geschichte. Mit 54% Weissen war sie noch 2020 ethnisch gemischter als alle früheren antirassistischen Bewegungen. 77% der US-Amerikaner hielten damals den Rassismus für ein Problem. Wenig später schwand der Geist des Universalismus in der Bewegung. Weisse wurden bestenfalls als Alliierte betrachtet. «Nun bin ich keine Alliierte», sagt Susan Neiman, Allianzen sind kurzfristig und von momentanen Interessen bestimmt. Sie findet, schon die Unterscheidung in «Kern» und «Andere» zerstöre die Bewegung, sei Stammesdenken. Zuerst würden weisse Polizisten, die auf die Knie fielen, unterschätzt, dann mit falschen Forderungen wie «defund the police!» (entzieht der Polizei die Mittel!) zurück- und in reaktionäre Arme gestossen.  

Leiden an Michel Foucault

«Wie ist nun ausgerechnet Michel Foucault zum Paten der woken Linken geworden?», fragt sich Neiman konsterniert. Sie ist hin und her gerissen zwischen Bewunderung für die  analytischen Leistungen des französischen Philosophen und dem Abscheu für seinen Zynismus. Sie wirft ihm vor, als Triebfeder der Welt nur Macht und Reichtum gelten zu lassen. In Foucaults Schriften scheint es so zu sein, dass Fortschritte – z.B. Liberalisierungen im Strafvollzug –  nur die Herrschaftsmechanismen zu noch wirkungsvolleren Formen von Repression verfeinerten. Jeder Fortschritt eine Täuschung? Jedenfalls kam Foucault bei seinen Lesern und Leserinnen so an.

Neiman leidet geradezu, wenn sie etwa Foucaults Kritik des Neoliberalismus («Geschichte der Gouvernementalität», Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft) liest: «Die Tatsache, dass zu seiner Zeit die Reduktion des Menschen auf das Humankapital gerade erst begonnen hatte, macht Foucaults Darstellung umso beeindruckender. Doch seine Weigerung, eine normative Haltung einzunehmen, ist nirgendwo so empörend. Was der Neoliberalismus uns angetan hat, wird so kritisch und bissig von ihm analysiert, dass man es kaum lesen kann, ohne spontan auf die nächste Barrikade steigen zu wollen. Allerdings glaubte Foucault nicht, dass die Macht noch auf den Barrikaden bekämpft werden kann. Doch seine Anhänger sind sich nicht einmal einig darüber, ob er überhaupt glaubte, der Neoliberalismus sei zu bekämpfen.» (p.124)

Idee und Wirklichkeit

In «Links ≠woke» betreibt Susan Neiman ganz bewusst Ideengeschichte. Sie stattet Linke mit guten Argumenten für die aktuellen Debatten aus. Allerdings hat dieser Ansatz auch Grenzen. Im etwas luftigen Reich der Ideen sind die Unterschiede zwischen guten Absichten und dem Missbrauch der Konzepte ziemlich klar. Gegen die rassistischen oder sexistischen Äusserungen mancher Aufklärer, die Neiman nicht leugnet, können die Theorien und Ideen der Autoren selbst ins Feld geführt werden. Die radikale universalistische Idee der Menschenrechte widerspricht jedem Rassismus.

In der etwas raueren gesellschaftlichen Wirklichkeit ist alles komplizierter. Haben die Atombombe, die Drohneneinsätze in den derzeitigen Kriegen oder die Klimakatastrophe wirklich nichts mit der Aufklärung zu tun? Oder ist das aufklärerische Denken mit seinen wissenschaftlichen Methoden der Quantifizierung, Rationalisierung und Naturbeherrschung in die Entwicklung des unheilvollen Zustands der Welt verstrickt? «Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils», sagen Adorno und Horkheimer gleich im zweiten Satz ihrer «Dialektik der Aufklärung». Vielleicht kommen wir am Ende zu der einfachen Frage, was denn die Aufklärung sei: nur die Quellen? Die Schriften von Voltaire, Diderot, Rousseau und Konsorten – oder auch, was mit den Ideen gemacht wurde?

Susan Neiman: Links ist nicht woke. Aus dem Englischen von Christiana Goldmann, Hanser Berlin 2023.
Am 22.01.24 um 19.30 Uhr ist Neiman zu Gast im Literaturhaus Zürich. Am 23.01.24 um 19.00 erörtert sie Fragen der Zeit mit Patricia Purtschert im Kunstmuseum Basel.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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2 Meinungen

  • am 17.01.2024 um 15:44 Uhr
    Permalink

    Als Laye bin ich der Meinung, die Aufklärung habe das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
    Dank der menschlichen Gabe zu reflektieren, ist sich doch jede und jeder bewusst, dass es ausserhalb aufgeklärter Objektivität und Logik noch Kräfte gibt, die auch Lebensbestimmend sind.
    Das der Gesellschaft die Re-Ligio – die Rückbindung – abhanden gekommen ist, scheit sie zu mittlerweile zu realisieren.

  • am 18.01.2024 um 09:34 Uhr
    Permalink

    Linke Politik funktioniert wenn man Bertolt Brechts «Erst das Fressen und dann die Moral.» und Charlie Marxens «Das Sein bestimmt das Bewußtsein» berücksichtigt. Steinzeitlich lebende Völker wie die San sind sozial, altruistisch, fürsorglich und liebevoll zueinander, wenn die materielle Grundlage reichlich ist: Wasser, Jagdgründe, Rückzugsgebiete. Sie leben in Kleingruppen, individueller Besitz der über notwendige Alltags- und Jagdgegenstände hinausgeht, ist unbekannt. Es gibt weder Patri- noch Matriarchat. Gruppen schließen sich nach Interessen und Wohlbefinden zusammen. Wir sind zwar Lichtjahre fortschrittlicher, aber gleichzeitig zutiefst gefangen in einem Strudel aus Anerkennung, Notwendigkeit eines Geldeinkommens, Status und Wohlbefinden über Besitz und Gruppenzugehörigkeit, ständigem Machtkampf zwischen eigenen und fremden Interessen und einer starken Fremdbestimmtheit gegen die wir nur wenig tun können. Die Aufklärung im eigenen Wortsinn kann uns helfen, das zu durchschauen.

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