Kommentar

kontertext: Schweizer Lärm

Nika Parkhomovskaia, Inna Rozova © zvg

Nika Parkhomovskaia / Inna Rozova /  Fremde Ohren hören, was einheimische, selbst «Sperber»-Ohren, überhören.

Das Wetter kühlte ab, der Herbst zog ein, und wir freuten uns darüber. Eigentlich ist es absurd, sich über aufziehende Wolken, Nieselregen und fehlende Sonne zu freuen. Aber wir haben einen guten Grund dafür: Je schlechter das Wetter, desto ruhiger ist es in der Stadt. Überraschend, aber wahr – für uns ist die Schweiz ein sehr lautes Land. Natürlich ist alles relativ: In den meisten südlichen Ländern, sei es Italien oder Georgien, wo die Menschen temperamentvoller sind und ihre Emotionen stärker zum Ausdruck bringen, ist der Geräuschpegel noch höher. Aber im Vergleich zum benachbarten Frankreich beispielsweise erscheint uns die Schweiz lauter.

Um sich davon zu überzeugen, genügt es, in einen Zug zu steigen: In einem französischen ist es immer vergleichsweise leise (wenn keine Schweizer mitfahren!). Sicher, niemand kann an Lautstärke mit deutschen Fussballfans konkurrieren, die zu einem Spiel in die Nachbarstadt fahren. Aber im Alltag sind die Deutschen zu unserer Überraschung dennoch weniger laut als die Schweizer: Die Ruhestunden werden in Deutschland strenger eingehalten, und die Menschen reagieren schneller auf Verstösse: Gott bewahre, dass man nach einer bestimmten Uhrzeit Musik oder den Staubsauger einschalte – dann ist die Polizei garantiert zur Stelle. 

In Basel braucht man gar nicht in die Eisenbahn einzusteigen, schon eine Fahrt in einem normalen Stadtbus genügt, um unabhängig von der Tageszeit zu erleben: Sobald sich mehr als ein Schweizer versammelt, ist eine lebhafte Unterhaltung garantiert. Nicht, dass uns das anstrengt oder stört – in der Regel wirkt das sogar kommunikativ und gemütlich. Wir sehen es einfach als deutliches Indiz für eine generell höhere Geräusch-Toleranz in der Schweiz. 

In der Nacht

Da wir ja den Schweizer Nachbarschaftsgeist mögen, versuchen wir, Verständnis für Kinderfeste oder Partys in unserem Hof zu haben, die manchmal bis tief in die Nacht dauern – allerdings nur, wenn sie ein paar Mal im Jahr stattfinden und nicht jede Woche. Für uns war es jedenfalls gewöhnungsbedürftig, dass sich die Leute am Wochenende im gemeinsamen Hof so laut unterhalten wie vielleicht in ihrem Wochenendhaus. Könnte das mit der Mentalität der Schweizer zusammenhängen, deren Kulturerbe von der Bergwelt nicht zu trennen ist, in der es viel Platz gibt und die Distanzen zwischen den Menschen grösser sind?

Eine Schwierigkeit bestand darin, dass wir ganz andere Arbeitszeiten haben als unsere Nachbarn. Wenn Menschen regelmässig Nachtarbeit leisten, machen sie unwillkürlich Lärm und verlieren das Bewusstsein, dass sie damit andere stören könnten. Zum Glück haben wir nette Nachbarn: Man muss sie nur einmal bitten, leise zu sein, und schon kann man mehrere Monate lang ruhig schlafen, bis sie dann wieder lauter werden. 

Man sagt, dass nicht alle so viel Glück haben wie wir – manche müssen sich an ihre Vermieter und sogar an die Polizei wenden. Apropos Polizei: Für uns ist es bis heute ein grosses Rätsel, wie ernsthaft sie Lärmbelästigung bekämpft. Als sich in unserer Gegend Obdachlose niedergelassen hatten und nachts zu schreien begannen, was ja nun doch eine eindeutige Störung der Nachtruhe war und die Nachbarn am Schlafen hinderte, dauerte es mehrere Wochen, bis die Polizei einschritt und sie beruhigte. Allerdings nicht nachhaltig – auch später versammelten sie sich immer mal wieder und sorgten für nächtliche Kakophonie. 

Oft hören wir mitten in der Nacht direkt unter unseren Fenstern relativ laute Gespräche. Anscheinend verstehen selbst ganz normale, nüchterne Menschen nicht immer, dass ihre Stimmen in der nächtlichen Stille besonders laut tönen, und halten es trotz der späten Stunde nicht für nötig, leise zu sprechen. Am schlimmsten ist es, wenn mitfühlende Nachbarn auf einer Bank nebenan Dinge gratis für Interessierte deponiert haben. Diese Interessenten kommen dann oft spät in der Nacht und klappern so laut mit Töpfen oder Pfannen, als würden sie eine lateinamerikanische Protestdemo nachahmen wollen. 

Apropos Musik: Was bei jedem Stadtfest im deutschsprachigen Raum immer wieder überrascht, ist das ohrenbetäubende Wummern aus Boxen. Warum man die Verstärker so aufdreht, dass sie am anderen Ende der Stadt zu hören sind, und man in ihrer Nähe sogar taub werden könnte, ist rätselhaft. Als wir einst in einem Haus neben einem Park wohnten, in dem ein Musikfestival stattfand, konnten wir mehrere Tage lang überhaupt nicht schlafen – selbst nach Ende der Konzerte blieb das aufgeheizte Publikum noch lange vor Ort und feierte weiter: wumm wumm wumm!

Machen Glocken Lärm?

Dabei wissen wir, dass in der Schweiz viel getan wird, um Lärm zu bekämpfen. Man führt Geschwindigkeitsbegrenzungen ein, baut Strassen mit Spezialbelag und errichtet Lärmschutzwände. Manchmal nehmen die «Lärmschutzmassnahmen» allerdings auch seltsame Formen an. Hier wäre der Kampf gegen die Kirchenglocken zu nennen. Bei aller Sensibilität gegenüber Lärm empfinden wir ihr Läuten als eine sehr sympathische nationale Tradition, die der Schweiz einen besonderen Charme verleiht. Seltsam erscheinen uns auch die Angriffe auf «laute» Kinder, insbesondere wenn dies zur Schliessung von Spielplätzen führt. Kinder in der Schweiz sind zwar nicht abgeneigt, Lärm zu machen, aber in vielerlei Hinsicht ahmen sie nur die Erwachsenen nach. Lärm auf einem Spiel- oder einem Pausenplatz hören wir als etwas ganz Natürliches; viel seltsamer ist es, dass Kinder um 7 Uhr morgens auf der Strasse schreien können und ihre Eltern das überhaupt nicht stört. 

Da wir in einer nur moderat geräuschvollen Schweizer Stadt leben, also nicht so laut wie Genf und Lausanne, aber auch nicht so ruhig wie Aarau oder Bern[1], sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es drei Arten von Schweizer Lärm gibt:

Die erste Art ist offensichtlich, hörbar und messbar: Es handelt sich um den Lärm von Autos, Zügen und Flugzeugen (also eigentlich alles, was ursprünglich vom Menschen geschaffen wurde), gegen den auf staatlicher Ebene vorgegangen wird. Die zweite Art ist subjektiver Lärm, der für manche normal ist, anderen aber gehörig auf die Nerven geht (spielende Kinder, Restaurants, die bis spät in die Nacht geöffnet sind, und läutende Glocken) Dagegen wehren sich die Bürger, indem sie Beschwerden an verschiedene Stellen schreiben. Darüber hinaus gibt es drittens eine Vielzahl von unbewussten Lärm-Formen, gegen die man nur schwer etwas unternehmen kann, gerade weil viele Menschen sie offenbar nicht hören. Dazu gehören laute Musik bei Strassenfesten, nächtliche Gespräche und Schreie ausgegrenzter Menschen zu jeder Tages- und besonders zur Nachtzeit. Dieser Lärm ist schwer zu messen, aber er umgibt uns ständig und macht das städtische Umfeld aggressiver. 

Aus dem Russischen von Elvira Hauschild Horlacher, Redaktion Felix Schneider.


[1] Gemäss Daten von 2021 ist Bern die ruhigste Stadt der Schweiz, und Genf die lauteste.

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