Kommentar

kontertext: Physik und Phantasie

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Der Schweizer Schriftsteller Christian Haller befasst sich in einer Novelle und in einem Essay mit den Folgen der modernen Physik.

«Blitzgewitter» heisst Hallers Essay (erschienen bei Matthes & Seitz, Berlin 2023). «Blitzgewitter» erlebe ich heutzutage vorwiegend in der Pariser Métro. So vielfältig dort die Fahrgäste erscheinen – divers hinsichtlich Hautfarbe, Herkommen, Klasse, Alter, Geschlecht, Outfit – fast alle konzentrieren sich, oft mit Stöpseln in den Ohren, auf ihre Handys. Und wenn ich auf einen ihrer kleinen Bildschirme schiele, wird mir schwindlig ob des Tempos, in dem dort ein Finger sekundenschnell neue Bilder zum Aufblitzen bringt.

Was Realität ist, bestimme ich

In Hallers Essay entdecke ich zu meiner Verblüffung, dass die Erfindung der Perspektive in der Malerei der Renaissance verstanden werden kann als allerersten Schritt auf dem langen Weg in die Virtualität von heute, denn die Perspektive ist die erste, gezielte Täuschung des Sehens. Hallers «Geschichte des Lichts, in das wir uns stellen», so der Untertitel des Essays, kann man lesen als eine Geschichte der optischen Wahrnehmung und der Bildproduktion. Enthüllt wird dabei der zunehmende subjektive Anteil des Beobachters bei der Herstellung sowohl von inneren Bildern im Gehirn als auch von äusseren auf Leinwand, Papier oder Bildschirmen. Am Beginn der Neuzeit steht die Auffassung, die Welt sei ebenso objektiv gegeben wie ihr Abbild in der Camera obscura, das unbeeinflusst vom Betrachter nur vom Licht selbst erzeugt sei. Verunsicherung schafften dann später die Nachbilder auf der Netzhaut. Sie waren offensichtlich vom Betrachter erzeugt. Und Goethe fand die Formulierung: «Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken». Im 19. Jahrhundert wird klar, dass unsere Nerven nicht blosse Leiter sind.  Angeregt von äusseren Impulsen bringen sie vielmehr ihren eigenen Zustand ins Bewusstsein. «Wir empfinden nicht das Messer, das uns Schmerz verursacht, sondern der Zustand unserer Nerven ist schmerzhaft.» (Johannes Müller, Physiologe). Und heute? Das digitale Bild ist streng genommen kein Abbild mehr, es ist eine Lichtrechnung. Deswegen kann ich mit dem Handy im Dunkeln fotografieren, kann Belichtung, Farben und Formen ändern, Störendes entfernen, und alles wieder in das ursprüngliche Bild zurückrechnen. Ich erinnere mich an den Lehrer in der Londoner Volkshochschule, der das Bildbearbeitungstool «Photoshop» erklärte und uns zur Übung ein Foto der Themse bearbeiten liess. Wir lernten Schiffe entfernen, dazusetzen, verändern. Auf meine Frage, was mit der Realität sei, antwortet er: Das bestimmen Sie.

Ein tollkühnes Unternehmen

Die hier herausgelesene Entwicklung der Bildproduktion ist bei Haller eingebettet in eine Geschichte der europäischen Weltbilder und Gesellschaftsformationen von der Renaissance über den Absolutismus und das bürgerliche Zeitalter bis in die Gegenwart. Ihn interessiert, wie die Wissenschaften, insbesondere die Physik, die menschlichen Vorstellungen von Natur und Gesellschaft ebenso wie die wirkliche soziale Organisation der Menschen beeinflussen. Das ist ein geradezu tollkühnes Unternehmen. Auf gerade mal hundert kleinen Seiten stürmt Haller durch 600 Jahre europäischer Geschichte. Seine Methode: viel lesen, viel denken – und wenig schreiben. Seine Sprache:  knapp, klar, elegant, kräftig. Er erreicht eine wundersame Leichtigkeit, bereitet grosses Lesevergnügen. Wie in einem Spiel erschliesst sich ein Stück Weltgeschichte.

Das Ich von heute

Kopernikus, Kepler und Galilei brachten die alte Ordnung nicht nur im Weltall zum Einsturz, sondern auch auf Erden. Die moderne Entwicklung, die damals ihren Anfang nahm, hat zur heutigen  Quantenphysik geführt. Diese uns verständlich zu machen, versucht Haller erst gar nicht. (Wer will, kann sich im Netz anzunähern versuchen.) Er konzentriert sich darauf, dass eine der handfesten Anwendungen der Quantenphysik, nämlich die digitale Bild- und Tonproduktion, das Individuum erzeugt, das Haller das «Shifter-Ich» nennt. Ein Shifter ist in der Semiologie, der Zeichenlehre, ein Zeichen, das seine Bedeutung erst aus dem Kontext erhält, wie z.B. «es». Gemeint ist ein Ich, das sich nach den Vorstellungen richtet, die es sich davon macht, was sein jeweiliges Gegenüber von ihm erwartet oder was die jeweilige Situation von ihm verlangt. Dafür braucht es vor allem die Fähigkeit zu situativer Anpassung und zu schnellen Reaktionen.

Neue Horizonte

Im letzten Kapitel wagt Haller einen vielleicht zu kühnen Blick in die Zukunft: wir werden in zwei Welten leben, sagt er, in der analogen und in einer virtuellen, in der es die gewohnte Realität nicht mehr gibt, sondern nur noch vereinzelte, individuelle Wahrnehmungen. Was in der Zeit und im Raum zwischen solchen Wahrnehmungen geschieht, wissen wir nicht: es ist abhängig vom Zufall. Das Ich soll eine «biologische Interpretation» sein, statt Wirklichkeit gibt es «archivierte Schichten» – hier bekennt das schreibende Ich, dass es überfordert ist und skeptisch wird. War nicht auch die Geburt des Internets begleitet vom Versprechen auf die Entstehung von etwas ganz Anderem, nie Dagewesenem? Was ist daraus geworden? Ja, doch, Neues ist entstanden. Aber gleichzeitig haben sich die alten ökonomischen und politischen Mächte mit grausamer Banalität durchgesetzt. Das Netz ist fest im Griff von Grosskonzernen und Diktaturen.

Und die Literatur?

Die Physik kann als Leitwissenschaft des 20. Jahrhunderts gelten. An ihr kommt auch die Literatur nicht vorbei. Am Beginn standen Werke, die sich mit Physiker-Biographien beschäftigten. So erzählte Max Brod 1915 in seinem Roman «Tycho Brahes Weg zu Gott» von der Begegnung der beiden Physiker Tycho Brahe und Johannes Kepler in Prag. Später, insbesondere nach dem Abwurf der ersten Atombombe, wurde der einzelne Physiker eher zum beispielhaften «Fall». Friedrich Dürrenmatts «Die Physiker» und Heinar Kipphardts Schauspiel «In der Sache J. Robert Oppenheimer» fragten in den 60er Jahren nach der Verantwortung der Wissenschaftler und ihrem Verhältnis zur Politik. Brechts Jahrhundertstück «Leben des Galilei» formulierte grundsätzlich die Hoffnungen, Möglichkeiten und Enttäuschungen, die mit dem wissenschaftlichen Fortschritt in der Moderne verbunden waren.

Zwei auf Helgoland

Auch Christian Haller nutzt in seiner Novelle «Sich lichtende Nebel» (Luchterhand 2023)  eine Physiker-Biographie. Er erzählt von der historisch verbürgten Episode, wie sich der junge Physiker Werner Heisenberg 1925 wegen eines Heuschnupfens nach Helgoland zurückzog und dort unter vielfachen Geburtswehen die entscheidende Schrift zur Begründung der Quantenmechanik verfasste, «DER», wie es uns eine Helgoländer Gedenktafel verkündet,  «GRUNDLEGENDEN THEORIE / DER NATURGESETZE / IM ATOMAREN BEREICH, / DIE DAS MENSCHLICHE DENKEN / WEIT ÜBER DIE PHYSIK HINAUS / TIEFGREIFEND BEEINFLUSST HAT.» Kapitelweise abwechselnd, erzählt Haller aber auch von einer zweiten Figur: dem pensionierten, verwitweten Historiker Helstedt, der, um mit dem Leben im Alter fertig zu werden, zu schreiben anfängt.

Im Dunkeln sehen wir nichts

Zwei starke Bilder bleiben nach der Lektüre der Novelle im Gedächtnis. Beide illustrieren Grundzüge der Quantenphysik. Zu Beginn der Erzählung beobachtet der junge Physiker nachts einen Passanten, der im Lichtkegel einer Laterne erscheint, dann im Dunkeln verschwindet, und im Licht der nächsten Laterne wieder auftaucht. Die grosse Frage: Was weiss der Beobachter von dem Passanten in der Zeit, während er im Dunkeln verschwunden ist? Antwort: nichts. Der Passant  könnte stehen bleiben, umkehren, sterben… Auch die Physiker erhalten von den kleinsten Teilen der Materie nur lückenhafte Informationen. Sie tauchen an unvermuteten Stellen auf – und was zwischen den Momenten ihres Erscheinens geschieht, wissen wir nicht.

Was ist Materie?

In unvorstellbarer Weise sind die Physiker zur Annahme gezwungen, dass die Materie gar nicht aus festen Teilen besteht, sondern aus Energiezuständen. Heisenberg ringt in der Einsamkeit seiner Klause auf Helgoland mit dem Versuch, solche Sachverhalte zu erfassen. Helstedt, Hallers rein fiktiver zweiter Protagonist, hat zu seiner eigenen Verblüffung plötzliche Halluzinationen: er sieht die Gegenstände seiner Umgebung als leuchtende, brennende Bewegungen.

Beengend, aber vertraut

Der Literaturkritiker Paul Jandl hat in seiner NZZ-Rezension von Hallers Novelle Heisenberg zur Hauptperson der Erzählung erklärt, während er Helstedt als dessen Gegenfigur sieht, die sonderbare Visionen hat und sich selbst verliere. Hallers Hellstedt hat dem Kritiker eigentlich schon geantwortet, denn er sagt einem Freund: Du möchtest, dass die Welt so angenehm eingerichtet ist wie deine Wohnung: «gleichbleibend, mit definierten Orten für jedes Ding, vollgestellt, beengend, vertraut» (S.117). Eine freiere Lektüre könnte wahrnehmen, dass der junge Wissenschaftler und der alte Professor, einander ebenbürtig, in zwei verschiedenen Sprachen, der Sprache der Mathematik und der Sprache der Phantasie, versuchen, das unbekannte Neue einzukreisen. Helstedt bemerkt bald, dass auch er selbst Teil dieser neu entdeckten, wunderbar seltsamen Ordnung ist, und er empfindet dabei, von Haller zart angedeutet, einen unverhofften Trost. Vielleicht kann er, wenn es ans Sterben geht, in diese grössere Ordnung eintreten.

Ruhig aber packend ist Hallers Sprache. Unmodisch aber zeitgenössisch sein Thema. Individuell profiliert, aber zur Identifikation einladend sind seine Figuren. Hallers Novelle ist ein Meisterwerk.

Christian Haller: Sich lichtende Nebel. Novelle. Luchterhand München 2023

Christian Haller: Blitzgewitter. Eine kurze Geschichte des Lichts, in das wir uns stellen. Matthes & Seitz Berlin 2023


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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