Kommentar

kontertext: Die Aufklärung ertrinkt im Pixelmeer

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Mehr Bilder, weniger Durchblick: Warum haben Kants Postulate es so schwer im überhellen, doch unterbelichteten digitalen Zeitalter?

Viel ist derzeit von KI die Rede. Was dabei gern vergessen geht: Manche der Entwicklungen, die in heutigen Bildgeneratoren wie DALL-E gipfeln, haben ihre Ursprünge in den Jahren vor dem Millennium. Als Mitte der Neunziger die DVD aufkam, ein heute fast wieder vergessenes Medium, ging ein Ruck durch viele Haushalte. Das verschleissfreie Abspielen von Filmen wurde möglich, der heimische Bildschirm gewann an Bedeutung, das visuelle Zeitalter griff tiefer ins Privatleben ein.

Als Cinéphiler, dem die Kinogeherei etwas abhanden gekommen war, freute auch ich mich über die Möglichkeit, eine Mediathek auf Dauer anzulegen. Altvertrautes kam ins Haus, dazu vieles, was in den Traumfabriken rund um den Globus laufend neu entstand. DVD-Gestelle machten den Bücherregalen Konkurrenz.

Remastering-Boom

Während die Leuchtkraft der Bildschirme wuchs, rüstete die Filmindustrie um. Videotheken und Onlinehändler machten Kasse, die Preise für Abspielgeräte wurden tief gehalten, mit den Auflagen stieg auch die Fähigkeit, gealtertes Bildmaterial aufzufrischen – bald einmal hatte die Branche realisiert, welches Potential in der Digitalisierung ihrer Archivschätze lag. Ein veritabler Remastering-Boom flutete den Videomarkt mit Werken, die ich vor Jahren im leicht verschmockten gymnasialen Filmclub gesehen hatte: Edelwestern, Melodramen aus der Gründerzeit, Neo Noir, New Hollywood…

Doch mit den Seheindrücken jener 1980er Jahre, milchig und gebrochen vom Staub, der in der Lichtbahn des Saales hing, hatten die neuen Versionen wenig gemein. Höhere Präzision bei der Abtastung und steigende Rechenkapazität beim Transfer halfen den Bildern auf die Sprünge – in den Mafiastreifen aus den 1930er Jahren blitzten die Spitzlichter von frischpolierten Karosserien, das Filmkorn war im Orkus der Umrechnung verschwunden und die Narben am Kinn des Prohibitionsfürsten James Cagney erzählten Parallelgeschichten.

Darüber hinaus verlieh das hintergrundbeleuchtete Bild der lumièreschen Magie eine fast ausserweltliche Prägnanz. Allerdings war die Schaulust nun ein Privatvergnügen; es fehlte der Hallraum der Kinovorführung. Dafür bannten markante Konturen den Blick, und viele Details wirkten wie herangezoomt und festgenagelt.

War damit etwa ein Ideal jenes Bildes verwirklicht, das den Urhebern einst vorgeschwebt hatte – oder, im Gegenteil, ein Hybrid, dessen Überhelle wenig zu tun hatte mit den Sehgewohnheiten der Drehjahre?

Ins Säurebad gelegt

Was auf diese Weise den Bildern widerfuhr, hatte die Musikwelt schon früher erlebt: Historische RCA-, Blue-Note-, und Capitol-Platten waren überarbeitet auf CD erschienen. Selbst aus alten Schellack-Aufnahmen verschwand das Knistern und Rauschen. Auf einmal kamen die Klänge vor einem tiefschwarzen Abgrund der Stille daher – als hätte man sie ins Säurebad gelegt.

Zunächst war das ein dramatischer und begeisternder Effekt. Jungle Style wurde durchhörbar, aus den Ensemblepassagen schälten sich unerhörte Details, die gedämpfte Trompete erglänzte funkensprühend über dem Gegrummel der Tuba. Ich hörte vertraute Aufnahmen wieder neu. Ihr Klangbild beförderte das analytische Hören, doch der Zuwachs an Schärfe ging mit einer frostigen Atmosphäre einher – erst Jahre später würde eine Remastering-Kunst zweiter Ordnung entstehen, die den kristallinen Sound der Digitalisate mit dem verband, was ich die ‹Leiblichkeit der Klänge› nennen würde: Man arbeitete am Ineinandergreifen digitaler und analoger Verfahren und versuchte, wieder näher an die Originale heranzukommen.

Die Waden des Nachbarn

Zur selben Zeit machte ich eine seltsame Erfahrung. Fast zwei Jahrzehnte hatte ich die selbe Brille getragen; nun zeigte eine Routineuntersuchung, wie unscharf ich sah. Meine Augen waren aus jeder Korrektur herausgewachsen; mit Brille sah ich weniger als die meisten ohne.

Als ich mit neuen Dioptrien ausgestattet das Optikergeschäft verliess, empfing mich eine frischgewaschene Szenerie: die Farben satt, Umrisse zum Greifen klar, die Kontraste höher, als je für möglich gehalten. Und erstaunlicherweise war mir unwohl dabei. Offenbar hatte ich mich ans Schummern gewöhnt – an eine Welt, die sich mehr in Stimmungen als in herausgreifbaren Einzelheiten zu erkennen gab.

Nun aber mutete mein Blick mich indiskret an. Er trat Menschen zu nahe und rückte den Dingen auf den Leib. Wollte ich das alles so genau kennenlernen: die Waden des jätenden Nachbarn, den Damenbart der Bäckerin, die Tattoos am Hals des Postboten? Es kam wie auf dem Präsentierteller daher und stürzte mich in die Verlegenheit, wegsehen zu wollen.

Währenddessen arbeitete die bildverarbeitende Industrie an neuen Auflösungsstandards: Computer generated imaging modellierte imaginäre Landschaften für die Fantasy-Filmindustrie; höhere Taktraten, grössere Datendurchsätze und kürzere Reaktionszeiten sollten naturgetreuere Bilder ergeben, mit neuer Bittiefe, höherer Sättigung. High definition war angesagt.

Diese Entwicklung schreitet fort. Heutige Smart Watches haben eine ähnliche Bilddichte wie die berühmte Grossleinwand, die einst am Times Square das Millennium herunterzählte. Werden im Fernsehen Beiträge aus dem Vor-HD-Zeitalter eingespielt, traut man seinen Augen nicht: Bei all dem Lichtschaum fällt es schwer, Schilder zu lesen oder dem Ball zu folgen; Landschaften versinken in matschigem Ungefähr.

Bildgebende Verfahren und die Pixelschwemme

Auch abseits der Traumfabrik waren die 1990er Jahre eine Goldgräberzeit der ‹bildgebenden Verfahren›. Während die moderne Physik das Unbeobachtbare ausmass, schufen nuklearmedizinische Verfahren neue Ansichten des Körperinneren. Die Kapazität der Elektronenmikroskope stieg und definierte den Nano-Bereich. Das Hubble-Teleskop bot Einblicke in die Darmzotten des Alls. Durchleuchtung und Trennschärfe waren angesagt, und das Motto schien klar: Nur was wir sichtbar machen können, können wir auch sicher wissen. So viel Positivismus musste sein.

Inzwischen kann mit Pixeln fast jedes kontrafaktische Bild wirklichkeitsnah hergestellt werden. Damit tritt eine ungeahnte Suggestionsmacht auf den Plan. Sie erinnert daran, dass im Wort Faktum das lateinische facere lauert – Tatsachen sind ‹das Gemachte›, und jedes noch so plastisch anmutende Digitalisat droht zum Terrain vague zu werden, dessen nackte Tatsachen eine Vorspiegelung sind. Das perfekte Bild verhindert seine Durchdringung. Und so könnten die Pixel-Artefakte dieser Zeit zur Instanz einer Gegenaufklärung werden, mächtiger als je zuvor gesehen.

Trügerische Schärfe

Der pornografische Blick stellt scharf, während der nostalgische den Weichzeichner liebt – ist diese Entgegensetzung haltbar? Im weiten Dazwischen jedenfalls wäre der Streifblick anzusiedeln, bekannt schon in der Renaissance als sguardo glissante. Aus der flüchtigen Begegnung gewinnt er seine Eindrücke, en passant rührt er ans Sichtbare. Nicht um Festlegung bemüht, schweift er umher und bewegt sich zwischen dem Teil und dem Ganzen. Er ist der Flaneur unter den Blicken – er will den Dingen keine Gewalt antun und doch nicht vor Glanz und Elend des Lebens kapitulieren.

In seiner Todesstunde soll Goethe nach ‹mehr Licht› verlangt haben. Diesem Wunsch kommt heute die Technik emsiger nach als der menschliche Geist: Statt Licht in einst dunkle Gebiete zu bringen, hat der Mensch die Leuchtkraft seiner Schirme gesteigert, und die ‹Schaffenskraft› der bildnerischen Industrie ist jeder Wahrnehmungskapazität enteilt.

Nun wäre aber die Aufklärung ein hirnverbranntes Projekt, wäre sie nur auf die schattenlose Ausleuchtung des Sichtbaren bezogen. Goethes Desiderat hat mit Lichtstärke und Auflösung nur vermittelt zu tun, mehr aber mit den Perzeptionen und der Assoziationsfähigkeit des denkenden und fühlenden Menschen. Die Aufklärung lebt ebensosehr von der Wärme des Lichts, das sie in einst dunkle Gebiete trägt. Goethe dürfte kaum nach dem Scheinwerfer gerufen haben. Es wird ihm darum gegangen sein, mit mehr Herzensbildung in die Tiefe einer Welt vorzudringen, die erst im Begriff war, vor dem menschlichen Auge aufzugehen.

Die Milde des Blicks

Das aufgefrischte Gewand, in dem mir alte Filme heute entgegenkommen, gibt ihnen neue Kraft. Allerdings gründet diese nur in der Präsenz des Faktischen: Bauten, Kostüme und Requisiten, zum Greifen nah. Knalliges Schwarzweiss lässt Szenerien auferstehen. Die Pixel verkörpern nicht, sie stellen dar (das Chicago der 1920er Jahre beispielsweise). Ihr Hyperrealismus ist geisterhaft – als wäre der Geist der Prohibition noch im Dunst der alten Projektionslampen verfangen.

Einen Weichzeichner möchte ich deshalb nicht bemühen. Vielleicht aber den Sinn für die Körnigkeit des Daseins, für die fortwährende Erosion, die an den Oberflächen nagt, seien sie noch so geschliffen. Vielleicht wäre Milde die Haltung der Wahl? Zwar will ich nicht die Augen verschliessen vor den Ödnissen dieser grell ausgeleuchteten Welt, aber ich möchte sie mitschwingend betrachten. So wie ich auch selber gern betrachtet würde: ein Mängelwesen, beäugt von Mängelwesen. Also traue ich dem, was den Blicken mitgegeben ist, mehr als den optischen Instrumenten, mögen diese noch so raffiniert sein.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

Eine Meinung zu

  • am 26.05.2024 um 14:30 Uhr
    Permalink

    Danke, Michael Mettler, für diesen wunderbaren und wichtigen Beitrag. Benno Glauser, Asunción, Paraguay

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