Kommentar
kontertext: Das Wort des Tages heisst «Paywall»
Eher widerwillig denke ich bei diesem Begriff an die Chinesische Mauer, jenes Jahrhundertbauwerk, das ein Imperium befestigen sollte gegen Freischärler, Nomadinnen und reichsfremde Stämme, deren Streif- und Beutezüge eingedämmt gehörten, nach dem Machtwillen im Reich der Mitte.
So fühle ich mich heute, wenn vor meinem Mauszeiger die Paywall hochgezogen wird, wie ein Wildbeuter, Freecowboy und Repräsentant einer vergangenen Zeit. Damals war das Internet nicht nur eine Wühlkiste für alles und jedes, so wie heute, sondern auch eine digitale Prärie. Wer technisch dazu in der Lage war, durfte an fast beliebiger Stelle seine Zelte aufschlagen. Allerdings war jederzeit damit zu rechnen, dass auch andere jenes Terrain abgrasten, das man sich zu eigen machen wollte.
Weidegebiete
Open Source wird der freie Wissenszugang heute genannt. Die Quellmetapher kommt nicht von ungefähr. Auch hier greift die Wildwest-Analogie: Wer die Wasserstellen kontrolliert, kontrolliert das Weidegebiet. Doch in unreguliertem Terrain bewährt sich am besten, wer wenig Gepäck mitführt und streunen und streifen kann. Das ist die Saga vom ungebundenen Cowboyleben, vom Surfen in der Wüste. Nur regnen lässt es noch immer jene übergeordnete Macht, nach der alle sich richten müssen.
Wenn also Gemeingut ist, was so «von oben» anfällt, wird in Dürrezeiten das Überleben zur Frage der Positionierung. Viele Western thematisierten die Wasserfrage, weil diese für die Viehhaltung ausschlaggebend war (und als Rechtsdimension räumlich darstellbar). Streitereien drehten sich vor allem um die Frage, wo ein Gewässer entsprang und wer es nutzen durfte. Als aber in den Weiten von Arizona und Nevada der Usus der freien Landnahme sich zu einem Albtraum des Faustrechts auswuchs, stärkte man die Gerichtsbarkeit, und Claims wurden nicht nur abgesteckt, sondern auch rechtlich verbrieft. Die Rolle der Eisenbahn war dabei entscheidend. Sie karrte die Requisiten der Zivilisation heran. Sie war das WWW jener Zeit.
Grenzen des Sag- und Abrufbaren
Gerade wird viel über Regulierung und die Moderation von Online-Diskursen gestritten. Ganz spannungsarm ist der Umgang der Demokratien mit dem Wildwuchs des Self-Publishing im virtuellen Raum nicht. Diese Prärie wird kolonisiert zum einen von Big Tech, die mit vermeintlichen Gratisangeboten Daten sammeln, zum andern von denen, die Wissen und Information monopolisieren möchten. Google tut beides zugleich. Weitere wollen nur die Früchte ihrer Arbeit schützen vor dem Mundraub von Kompilation, Plagiat und dem aggressiven Data Mining der Algorithmen. So wird um den «Content» eine Paywall hochgezogen. (Das deutsche Pendant «Bezahlschranke» wirkt weniger martialisch, obwohl hier der alte Schlagbaum anklingt, wo Zölle erhoben und Unerwünschte abgewiesen werden.) Im Netz allerdings sind die Machtbalancen anders gelagert: Betreiber einer Schranke müssen damit rechnen, dass die einfache Durchstreiferin der Online-Wildnis ihrem Bezahlangebot die kalte Schulter zeigt und weiterzieht. Es sei denn, sie sei bereit, für jeden Happen Wissen, der sich vor dem kritischen Blick erst noch als solcher bewähren muss, die Kreditkarte zu zücken.
Anarchie des Alles-Zugleich
Dass das Internet keine Mitte und keine Ränder hat, ist nicht nur ein Gemeinplatz, sondern auch das vorherrschende Gefühl beim Surfen. So spielt es in meinem Leben die Rolle eines defekten Orakels von Delphi. Es spricht verzerrt in tausend Zungen und weiss nicht, was es sagt. Einst wirkte die Anarchie seines Alles-Zugleich befremdend und befreiend, wie ein kunterbuntes Potpourri, vielstimmig und kakophonisch. Nachdem die Gatekeeper der Kultur jahrzehntelang von ihren Hochsitzen herab verkündet hatten, was es wert sei, beachtet zu werden (und vor allem: was nicht), purzelten nun Wort und Widerwort wild durcheinander in einem Bazar des Glaubens und Meinens, und jeder Mensch bekam seine 15 Warhol’schen Minuten, um die eigene Story loszuwerden und seine Weltsicht anzubringen.
So what? Der Traum vom unverblümten Sprechen und dem hierarchiefreien Raum der Virtualität ist gründlich ausgeträumt. An seine Stelle tritt die Überforderung im grossen Strudel der Gleichförmigkeit. Da wirkt die Paywall schon fast wie eine Erlösung, denn sie bedeutet: Dieser Bereich des Netzes bleibt dir nicht nur versperrt, sondern auch erspart.
Doch so einfach ist es nicht, beim Recherchieren zumal. Denn wie die Grosse Mauer, die das Reich der Mitte schützend zusammenhalten sollte (so wuchtig, dass sie sogar aus dem All zu sehen ist), schafft auch die unsichtbare Paywall ein Innen und Aussen. Inmitten der Prärie stehe ich auf einmal vor verschlossener Tür. Und der englische Neologismus weckt Erinnerungen an Imperien, die sich zur Mitte der Welt erklärten und ihren Herrschaftsbereich schützen wollten vor dem Unschuldigsten und Gefrässigsten, was es im analogen wie virtuellen Raum gibt: dem wissbegierigen Blick eines Individuums.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur, greift Beiträge aus Medien kritisch auf und pflegt die Kunst des Essays. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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