Kommentar

kontertext: 11’09’01: Kalendergeschichten

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Auch 20 Jahre nach 9/11 ist die Frage, welche Geschichte durch ein tödliches Datum erinnert werden soll, eine Herausforderung.

Bis 2001 war der 11. September in erster Linie mein Geburtstag. Ich hatte im Laufe der Jahre Namen dazu versammelt, die das Datum mit mir teilten. 

Als Kind Franz Beckenbauer, das Idol des männlichen Teils meiner Familie. Dann Liselotte Pulver, die mir das Schauspielerin-Sein sympathisch machte. Der wichtigste Gast am imaginären Geburtstagstisch wurde dann Theodor W. Adorno, dessen dialektisches Denken mich für immer geprägt hat. Ich habe also gemacht, was alle für ihre Geburtstage machen: Ich habe ihn bevölkert mit guter Gesellschaft. Der private Kalender ist an keinem Tag so privat wie am Geburtstag, diesem Datum, das einem gegeben wird als Faktum der eigenen Natalität. Ihn zu verbinden mit einem kollektiven Schreckens- und Todestag, ist das, was meine persönliche Kalendergeschichte des 11. September seit 20 Jahren umtreibt. Geht das überhaupt?

Kalendergeschichten und Daten

Der Kalender ist eine alte Kulturtechnik, welcher die Zeit ordnet, die soziale Kommunikation stützt und das kulturelle Gedächtnis organisiert. In diesem Sinn ist er wie das Denkmal auch ein Herrschaftsinstrument. Nur kehrt das Mahn- oder Denkmal, im Unterschied zu den Gedenktagen, nicht zyklisch wieder. Es kann nicht vergessen, es muss gestürzt werden. 

Träger von Gedenktagen aber sind die Medien der Erinnerung, allen voran die Erzählung. 

Die Literatur kennt einige Versuche, das Kalendarische als kurze Erzählform zu gestalten, zum Beispiel in der Gattung der Kalendergeschichte – nicht auf einen Tag, sondern auf die Grösse eines Blattes ausgerichtet.  Johann Peter Hebel hat sie praktiziert als Form volksnaher Erzählung. Christa Wolf hat sie in ihrem Tagebuch «Ein Tag im Jahr» auf ein Datum zugespitzt, indem sie von 1960 bis 2011 den 27. September jeden Jahres würdigt, um den Alltag in der DDR einer chronischen und aleatorischen Beobachtung zu unterziehen. Und Brecht hat mit seinen «Kalendergeschichten» Geschichten vom einfachen Mann exponiert (nur selten sind dies Frauen) ­– als Brenngläser der grossen Geschichte. Natürlich schwebte ihm wie in seiner ganzen Dichtung die Möglichkeit einer epischen, einer didaktischen Wirkung vor. Ob Kalendergeschichte, Theater, Kriegsfibel oder Arbeitsjournal: Immer ging es ihm um die Frage, wie die grosse Geschichte, die immer die Geschichte von Kriegen ist, im Medium der Kunst lesbar werden kann. Er hat damit das eigentliche Problem der Kalendergeschichte berührt, nämlich den Umschlag oder das Zusammentreffen von grosser und kleiner Geschichte.

Ich habe keine Kalendergeschichte geschrieben zu meinem Geburtstag, den ich nie 9/11, sondern immer den 11. September nenne. Obschon mein Bruder mir damals im Vorfeld sagte, 3 mal 13, das sei wohl schwierig (ich wurde 39 damals), hätte ich den Anschlag niemals zu etwas Persönlichem machen können. Aber ich bin immer aufmerksam geblieben für das Datum – und für seine Inanspruchnahme durch den Westen. Der Tag, an dem das sogenannte Böse der Welt ihr Gesicht zeigte und die Weltordnung trennte in eine Achse des Guten (Krieg gegen Terrorismus) und eine Achse des Bösen – Terrorismus. Das Datum hat sich mit mir verbunden, ob ich will oder nicht. Wenn Philip Loser im Magazin des Tages-Anzeiger vom 21. August schreibt, 9/11 sei einer der «letzten Momente von globaler kollektiver Erinnerung» und als Ereignis in den Geschichtsbüchern abgelegt, dann ist zum 20. Jahrestag das Geschichtsbuch nochmals zu öffnen – wie er ebenfalls weiss. 

Umwege und nicht-lineare Geschichte

Von den einstürzenden Türmen, deren mediale Spekularität unübertroffen ist, führen Wege und Umwege rückwärts und vorwärts zu unspektakulären Gräbern in Afghanistan, dessen Tragödie wir vielleicht erst jetzt erfassen. Dafür braucht es Schnitte und Montagen. Es braucht Umwege. Dies hat Paul Celan in seiner berühmten Büchner-Preis-Rede von 1960 vorgeführt, in welcher er den Leser und die Leserin an die Hand nimmt, um das singuläre Datum des 20. Januar auf der Landkarte der Geschichte zu erkunden. Der 20. Januar, an welchem der historische Dichter Lenz 1782 durchs Gebirge ging und mit welchem eine der verrücktesten Erzählungen der deutschen Literatur beginnt. Der 20. Januar, an welchem 1942 bei der Wannsee-Konferenz die Vertreter der SS und der nationalsozialistischen Ministerialräte die systematische Ermordung der jüdischen Menschen in Europa beschlossen. Celan braucht für diese spezielle Form der Kalendergeschichte die Figur des Umwegs – also etwas, das die kalendarische Ordnung nicht kennt. Um der Daten eingedenk zu sein und um in Rücksicht auf Daten zu sprechen, braucht es Umwege. Das macht den Unterschied zwischen Kunst und Politik aus: Während Politik den Weg direkter Kausalität und «Lösungen» sucht, («war on terrorism»), macht die Kunst Umwege, um historische Daten überhaupt lesbar zu machen. Heute denke ich, dass wir die einstürzenden Türme wie im Loop wieder und wieder gesehen haben, lag auch daran, dass wir das Ereignis, wenn wir es schon nicht lesen konnten, einfach anstarren mussten. Und alle wissen noch, was sie an diesem Tag taten, alle dachten auch: das geht mich und mein Leben etwas an. Aber was?

9/11/01 oder 11’09’’01

Ein Versuch der Lesbarmachung und der Verbindung des Ereignisses mit anderen Geschichten leistete das Kino – mehr oder weniger gut. Christiane Peitz gibt im Tagesspiegel einen guten Überblick darüber, wie sich Filmemacher über 20 Jahre des Themas angenommen haben – unter der schwierigen Voraussetzung, dass die Realität am 11. September 2001 alle Horrorfilmszenarien überboten hat. 

Der Überblick endet mit Spike Lee, der in seiner aktuellen HBO-Doku-Serie «NYC Epicenters 9/11 – 2021 ½» den Bogen von 2001 bis in die Gegenwart der Pandemie schlägt und dabei auch nochmals Verschwörungstheorien aufbietet. Wie es ausgeht, wird das Publikum am 11. September 2021 sehen, so der Plan.

Es gibt einen anderen Versuch aus dem Jahr 2002, den das Fernsehen hoffentlich ausstrahlen wird – er war bisher nur an Festivals zu sehen, u.a. auch in Zürich.

Ein elf-teiliger Omnibusfilm, zu welchem elf Filmemacher und Filmemacherinnen aus elf Ländern Beiträge verfertigten zu 9/11, die alle elf Minuten, neun Sekunden und 1 Bild dauern. «11’09’01» ist deshalb der Titel des ganzen Films. Alle Kurzfilme setzen anders an, alle nehmen einen eigenen Umweg zwischen Alltag, privatem Raum, Kriegsgeschichte und Anti-Terror Jagd. Die Kürze der Beiträge lässt sie lesen als Kalendergeschichten, die aus der Perspektive zufälliger einzelner Menschen das Ereignis festzuhalten versuchen. Einer der eindrücklichsten Filme aus heutiger Perspektive ist jener von Samira Makhmalbaf, die eine Dorfschule in einem afghanischen Flüchtlingslager im Iran zeigt, wo eine Lehrerin den kleinen Schülern und Schülerinnen auf einer einfachen Schiefer-Tafel begreiflich zu machen versucht, was in New York geschah. Vergeblich. Für die Kinder ist Terror und Tod Alltag, das Verbrechen im Nachbardorf vom letzten Tag beschäftigt sie mehr.

Der Modus der Überforderung im «Verstehen» des Ereignisses prägt viele dieser Kurzfilme. Einer aber nimmt das Datum mit auf den Weg der politischen Geographie nach Chile und bezieht damit als einziger Stellung: Ken Loach. Die Tonspur seines Films ist ein Brief eines ehemaligen Vertreters der Allende-Regierung, die am 11. September 1973 vom Militär mit Unterstützung der USA blutig gestürzt wurde. Als Zeitzeuge im Exil wendet er sich an die Adresse der USA und fordert eine andere Trauerökonomie ein. Er schildert, welchem Terror die Menschen in Chile ausgesetzt waren und welche Hoffnungen auf Demokratie an diesem 11. September 1973 ausgelöscht wurden. Ken Loach montiert im Film die einstürzenden Türme mit dem Flugzeug, das damals den Präsidentenpalast La Moneda beschoss, was den Durchmarsch des Militärs zur Folge hatte. Unter Pinochet wurden in den folgenden Monaten gegen 30’000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet und Tausende ermordet.

Wem gehört also die Trauer? Wessen Tag ist der 11. September? Der Film von Ken Loach weckte mich damals auf und verschob meinen Blick auf den «Sand der Urnen» (Celan) der Opfer des World Trade Center. Die Ordnung des politischen Kalenders und der Gedenktage, die dieser zeitigt, ist hilfreich und unabweisbar für die Topographie der Geschichte. Aber nur, wenn die kalendarische Ordnung Umwege, Schnitte und Montagen mitevoziert. Und nur, wenn sie auch unsere Kapitulation vor dem Verstehen von Geschichte in ihrer nie abzugeltenden Schuldverstrickung einbezieht. Fünf Wochen nach den Anschlägen sagte Jacques Derrida in einem Gespräch mit Giovanna Borradori, wir brauchen das Datum 9/11 in seiner Kürze als Name und Nummer, auch um uns einzugestehen, dass wir noch nicht wissen, wie das Ereignis qualifizieren und wie darüber sprechen: «that we do not know what we are talking about.» Obschon wir heute doch einiges mehr «wissen», scheint diese Scheu 20 Jahre später noch immer angemessen.

Kalender für alle Jahre von Thury Schläpfer, Luzern 2011

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst & Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder. Die Redaktion betreuen wechselnd Mitglieder der Gruppe.

Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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5 Meinungen

  • am 9.09.2021 um 12:08 Uhr
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    Dankenswerterweise hat frau henke auf chile hingewiesen, dass es nicht so ist, wie die usa es gerne haetten, dass nur deren tote zaehlen, nur deren opfer und die unbillen, die sie erdulden mussten. Nichts ist vergessen und niemand und darum wird eines tages die herrschaft der massenmoerder aus washington zu ende gehen. An diesem tag werden die menschen aufatmen, das joch der luege, der gewalt und verdorbenheit abschuetteln. Und gefaengisse werden gefuellt werden mit den schreibtischtaetern und ihren lakaien. Nichts ist vergessen und niemand. Das einzige worauf diese leute hoffen duerfen ist, dass sie nicht gezwungen sein werden mit der muenze zurueckzuzahlen, die sie anderen aufgezwungen haben. Nichts ist vergessen und niemand. Auch nicht leningrad, auch wenn der vergleich etwas hinken sollte.

  • am 9.09.2021 um 12:54 Uhr
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    Man sollte vielleicht beim Putsch in Chile auch erwähnen, dass die CIA-Gelder für die Menschenschlächter über Schweizer Bankkonten geflossen sind. (Und vielleicht sogar, dass Chile sofort nach dem Putsch als «Experimentierfeld» der «Chicago-Boys» genutzt wurde und ihre Ideologie der Privatisierung möglichst aller Bereiche der Daseinsvorsorge und Wirtschaft kläglichst gescheitert ist.)
    Als Deutscher möchte ich zusätzlich daran erinnern, dass am 11.9.1938 mit der «Reichskristallnacht» die Verfolgung der Juden endgültig in den blanken gewaltsamen Terror überging, dessen bekanntestes Beispiel wohl das Vernichtungslager ist, welches für die IG Farben-Fabrik in Auschwitz errichtet wurde und nicht nur der Abschlachtung der Juden, sondern auch anderer religiöser oder ethnischer Minderheiten und politischer Gegner diente. Die Auflösung der IG Farben zog sich dann nach dem Krieg so lange hin, bis keine «Vermögenswerte» mehr vorhanden waren, um die überlebenden Opfer auch nur symbolisch zu entschädigen – während die Gehälter der Vorstände und die Dividenden der Aktionäre weiter gezahlt wurden…

    • am 10.09.2021 um 16:55 Uhr
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      Die Reichskristallnacht war im November – die amerikanische Bezeichnung 9/11 für den 11. September führt leider immer mal wieder zu diesem Irrtum. Die Grundaussage des Kommentars bleibt aber davon unberührt.

    • am 14.09.2021 um 14:18 Uhr
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      Vielen Dank, Herr Reuss, für diese Hinweise zu den sehr hörenswerten Vorträgen von Peter Kuznick und das Interview mit Max Blumenthal zu den verdeckten Programmen des britischen Außenministeriums zur Schwächung Russlands mit Rueters, BBC und Bellingcat.

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