Schamaninnen und Schamanen der Q’ero

Schamaninnen und Schamanen der Q’ero © Josef Estermann

Q’ero: die vergessenen Inka-Nachfahren in Peru

Josef Estermann /  Heute leben die Q’ero in bitterer Armut und vom peruanischen Staat vergessen. Ein Augenschein vor Ort.

Red. Josef Estermann hatte während 17 Jahren in Peru und Bolivien gelebt und gearbeitet. Jetzt besuchte er Schamaninnen und Schamanen in Peru.

Cover Kinder der Mitte
Buch-Cover: «Kinder der Mitte: Die Q’ero-Indianer»

Das indigene Volk der Q’ero weckte 1955 zum ersten Mal das Interesse der Aussenwelt, als sich eine Expedition der Universität San Antonio Abad von Cusco in Peru unter Führung des Ethnologen Oscar Ñuñez del Prado aufmachte, diese abgeschiedene Gruppe Schamaninnen und Schamanen zu besuchen und ihre Lebensweise und Weltanschauung zu dokumentieren. Dabei wurde deutlich, dass es sich um «Nachfahren der Inkas» handelte, die sich auf den legendären Inkarrí, den «Inkakönig» berufen.

Fünfundzwanzig Jahre später weilten der deutsche Ethnologe Thomas Müller und seine Frau Helga Müller-Herbon über ein Jahr lang bei den Q’ero. Ihre Bilder, Erfahrungen und Beobachtungen fanden im Jahr 1986 Eingang im berühmten Band «Kinder der Mitte: Die Q’ero-Indianer».

Ein Ritual um baldigen Regen

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Ernesto wählt Kokablätter für das Ritual aus

Imaynalla kashanki? – «Wie geht es dir?». Mit diesen Worten auf Quechua werde ich von den acht Paq’us, Schamaninnen und Schamanen aus dem indigenen Volk der Q’ero freudig begrüsst. Allillanmi, qan ri? Anchata kusikuni, erwidere ich und habe damit gleich das Eis gebrochen. Wir haben uns am Ufer des Sees Huacarpay, rund eine Stunde Autofahrt von Cusco, zu einem Ritual für das baldige Kommen von Regen verabredet. Die Erde ist trocken, die Felder staubig, es hat schon seit Monaten nicht mehr geregnet.

Ernesto, der Anführer der Gruppe, bereitet das Ritual vor. Wein und Alkohol gehören dazu, aber auch Kokablätter, Chicha (Maisbier), Mineralien, Sonne und Mond in Miniaturform. Das Regenritual ist nicht an die Pachamama (Mutter Erde), sondern an Inti, die Sonne, und die meteorologischen Phänomene wie Wolken, Regenbogen, Blitz und Donner gerichtet. Und natürlich an den See (qucha), dem das Ritual dargebracht werden soll. Ernesto wendet sich auf Quechua – nur zwei der Schamanen können ein wenig Spanisch – an Inti, für die Inka-Nachfahren die wichtigste Gottheit, auch wenn sie sich inzwischen offiziell zum Katholizismus bekehrt haben.

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Barnabé bläst auf der Pututu (rituelle Muschel)

Einer der Männer bläst auf der Pututu, einer grossen Muschel, die vor allem für rituelle Zwecke verwendet wird. Dann füllt Ernesto zwei unterschiedliche Qeros, schön verzierte konische Trinkbecher aus gebranntem Lehm, mit Wein und Maisbier, hält sie der Sonne entgegen, murmelt ein paar Worte und macht sich durch das Schilf zum Seeufer, um den Inhalt der Mama Qucha (Mutter See) darzubringen, damit bald Regen fällt. Dasselbe tun auch alle anderen Schamaninnen (es sind zwei Frauen darunter) und Schamanen, und schliesslich auch die eingeladenen Besucher. Es ist ein eindrückliches Ritual. 

Kulturzerstörende Missionierung

Die Dürre ist nicht das einzige Problem, mit dem die Q’ero zu kämpfen haben. Mir fällt auf, dass zwei Männer keine traditionellen Ponchos und Ch’ullus (bunte Mützen) tragen, etwas abseits standen und nicht am Ritual teilnahmen. Im Gespräch später wird deutlich, dass sie zur evangelikalen Freikirche der Maranatá gehören, welche Alkoholkonsum, traditionelle Kleidung und indigene Rituale verbietet. Tatsächlich ist die aggressive und kulturzerstörerische Missionierung durch fundamentalistische und «westliche» Pfingstkirchen ein wachsendes Problem in den Gemeinschaften der Anden, auch bei den Q’ero.

Das indigene Volk der Q’ero mit gegen 4000 Mitgliedern lebt in der Provinz Paucartambo im Departement Cusco in Peru, verteilt auf 14 Dörfer auf einer Höhe von 4800 bis 1800 Metern über Meer. Die Häuser sind aus Naturstein und Adobe, gestampftem und getrocknetem Lehm, die Dächer aus Hartgras (Ichu). Je nach Klimazone werden Bohnen, Mais oder Kartoffeln angebaut, aber die Menschen wohnen in höhergelegenen Gebieten, wo sie vor allem Alpakas züchten, deren Wolle gesponnen und mit traditionellen Webstühlen zu den für die Q’ero typischen Textilien verarbeitet werden.

Prekäre Ausbildung

Die einzelnen Siedlungen liegen zum Teil eine Tagesreise zu Fuss oder Pferd auseinander. Fahrbare Strassen gibt es kaum. Bis zur nächsten Kleinstadt Paucartambo sind es je nach Dorf ein bis drei Tagesmärsche. Die Erde gibt nur wenig her. Der Speiseplan besteht aus Kartoffeln, Bohnen, Eiern und Alpakafleisch. Je nach Jahreszeit kommen noch Maiskolben oder Kaktusfrüchte dazu. Viele Kinder leiden an Fehlernährung und Parasiten. Einen Gesundheitsposten gibt es nicht. Die Schamaninnen und Schamanen amten allesamt auch als Heilerinnen und Geburtshelfer. Ernesto erzählt stolz, wie er mitgeholfen habe, die eigenen sieben Kinder auf die Welt zu bringen.

Es gibt zwar eine Schule in Chua Chua, einem der 14 Dörfer, mit einem behelfsmässigen Internat. Die meisten Schülerinnen und Schüler können nur am Wochenende nach langen Fussmärschen zu ihren Eltern zurück. Die Lehrerinnen und Lehrer kommen nur ungern in diese unwirtliche Gegend und bleiben meistens nur zwei Nächte. Für die Sekundarschule müssen die Jugendlichen nach Paucartambo, wo sie Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren. Die meisten Mädchen bleiben nach der Primarstufe der Schule fern.

Illegale Goldgräber verschmutzen das Trinkwasser

Auf meine Frage, wie sie denn zur aktuellen Staatkrise in Peru ständen, winkt Ernesto müde ab: Es sei egal, wie der Präsident oder die Präsidentin hiessen und zu welcher Partei sie gehörten. Noch nie habe sich der Staat um sie gekümmert. Auch in der Pandemie seien sie völlig auf sich selber angewiesen gewesen. Doch habe sich niemand infiziert, weil sie sich wie schon seit über fünfhundert Jahren von der Aussenwelt abgeschottet hätten.

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Flötenspiel nach dem Ritual

Erstaunlicherweise haben fast alle Schamaninnen und Schamanen Handys. Es gibt auch Software auf Quechua und irgendwie haben sie sich das Lesen und Schreiben beigebracht. Sie möchten gerne meine Mobilnummer. Flugs kriege ich auf WhatsApp eine Einladung. Die Q’ero sind ein stolzes Volk und haben als «Nachfahren der Inkas» auch allen Grund dazu. Aber sie möchten anerkannt, gesehen werden und für vollwertige Staatbürgerinnen und Staatsbürger genommen werden. Viele Jugendliche kehren allerdings von ihre Sekundarschul-Ausbildung nicht mehr in ihre Dörfer zurück. 

Neben der «Invasion der Sekten» machen den Q’ero in letzter Zeit auch illegale Goldgräber zu schaffen, die aus dem Tiefland der Amazonasausläufer in ihr Gebiet vordringen und das Trinkwasser mit Quecksilber verunreinigen. Auch hier ist die staatliche Obrigkeit weit weg. Alle rechtlichen Belange der Q’ero-Gemeinschaften werden im Rahmen der so genannten «Gemeinschaftsjustiz» (justicia comunitaria) im Konsensverfahren gelöst. Wenn aber Akteure von aussen involviert sind, tritt nach dem andinen Dualprinzip (exklusives Wir: noqayku; inklusives Wir: noqanchis) eine andere Logik in Kraft, welche die Formaljustiz erfordern würde.

Bescheidene Projekte im indigenen Rhythmus

Yenny Ramerth-Jara aus Cusco und ihr deutscher Ehemann Josef Ramerth versuchen seit ein paar Jahren zusammen mit den verantwortlichen Varayoq («Dorfvorsteher») kleine und dem Lebensrhythmus der Q’ero angepasste Projekte umzusetzen. Die Stiftung «Noqanchis-Zusammenstehen» (www.noqanchis-zusammenstehen.org) betätigt sich vor allem in den Bereichen Ernährung, Gesundheit und Umwelt. Ein Gewächshaus soll für die Schülerinnen und Schüler Gemüse bereitstellen, da 80 Prozent von ihnen von Unterernährung und Anämie betroffen sind.

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Schamanin der Q’ero mit Kind

Frauen sollen in der Sortierung und Auswahl von Alpaka-Wolle geschult und zertifiziert werde, damit diese mit einem Mehrwert an Händler von aussen verkauft werden kann. Abhänge sollen mit einheimischen Baumarten aufgeforstet und natürliche Wasserspeicher ausgebaut werden, damit Mensch und Vieh auch in Trockenzeiten wie der aktuellen genügend Wasser haben. Und schliesslich soll ein Internat für Mädchen auf Sekundarstufe errichtet werden, damit diese überhaupt weiterstudieren und nicht nach Paucartambo umziehen müssen, wo sie weitgehend sich selber überlassen wären.

Der Spagat zwischen Tradition und Moderne ist schwierig. Auch wenn die Q’ero ihre reichhaltigen Traditionen praktizieren und lebendig halten möchten, erheben sie doch den legitimen Anspruch, dazuzugehören und am gesellschaftlichen Leben Perus und der Welt teilzuhaben. 

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

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Politik in Süd- und Mittelamerika: Was in vielen Medien untergeht

Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen und verlinkt zu Quellen. Zudem Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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Eine Meinung zu

  • am 3.04.2023 um 14:54 Uhr
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    Das super Buch «Indian Givers», Jack Weatherford, Ballantine Books 1988, begleitet mich seit einigen Jahrzehnten; ich lese immer wie gerne nach wie direkt oder indirekt die Indianer unsere Zivilisation beeinflusst haben: Landwirtschaft (Perma- und Mischkultur, Bodenverbesserung, Einzelpflanzung), Politik (Organsiation der Irokesen und Huronen), Kampf um Land und Freiheit, Medizin (ein unendlicher Schatz) usw. Auch die segensreichen und eigenartigen Alpakas sind dank der Zucht und Nutzbarmachung durch die Inka mittlerweile überall auf der Welt verbreitet. Wie wäre die Geschichte Amerikas wohl verlaufen, wenn die Indianer wehrhafter und vorgewarnt gewesen wären? Wenn nicht einige Stämme mit den Spaniern kooperiert hätten? Die Spanier hatten neben besseren Waffen, Kampftechnik und Pferden leider auch verdammt viel Glück

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