Orthodoxe Juden.Galil Depositphotos

Orthodoxer jüdischer Junge liest Tora an der Westmauer in Jerusalem. Er wird eine religiöse Schule besuchen, vom Militärdienst befreit sein und geniesst andere Privilegien im Staat. © Galil/Depositphotos

Israel am Scheideweg: Liberaldemokratisch oder Gottesstaat?

Pascal Derungs /  Adam Shinar, Professor für Verfassungsrecht in Tel Aviv, sieht den jüdischen und gleichzeitig demokratischen Staat gefährdet.

Seit sieben Monaten erschüttern wütende Proteste gegen eine angekündigte Verfassungsreform die israelische Gesellschaft. In einer ersten Etappe hat das Parlament ein Gesetz beschlossen, das den Gerichten die Befugnis nimmt, Entscheidungen der Regierung und von Ministerien aus Gründen «fehlender Angemessenheit» zu kippen. Damit wird das Prinzip der Gewaltentrennung zugunsten der Regierungsmehrheit geschwächt. 

Mehr als 1’100 Reservisten der Luftwaffe, darunter mehr als 400 Piloten, hatten im Vorfeld erklärt, dass sie ihren Dienst verweigern würden, wenn das Gesetz angenommen wird. Nach der Abstimmung blockierten Zehntausende von Demonstranten in einem kollektiven Aufschrei der Wut Autobahnen, sperrten wichtige Kreuzungen ab und stellten sich einer Polizei entgegen, die sie mit Pferden, Wasserwerfern und brutaler Gewalt auseinandertreiben wollte. Dutzende wurden verhaftet. 

Doch die Fokussierung auf die jetzt beschlossene Abschaffung der «Angemessenheit» als Rechtsstandard für die Aufhebung von Regierungsentscheidungen gehe an der Sache vorbei, erklärt Adam Shinar, Professor für Verfassungsrecht an der Reichman-Universität in Tel Aviv, am 26. Juli 2023 in der «New York Times». Denn besagter Gesetzentwurf betreffend die «Angemessenheit» könne man nicht von dem gesamten Gesetzespaket getrennt betrachten, über welches die Knesset noch abstimmen wird. In seiner Gesamtheit bedeute es das Ende der israelischen Demokratie, wie sie bislang bekannt war. Für Adam Shinar ist klar, dass die aktuell herrschende Regierungskoalition beabsichtigt, alle Bestandteile der angekündigten Überarbeitung zu verabschieden.

Die Hoffnung auf das Oberste Gericht ist trügerisch

Nach der ersten Abstimmung wurden rasch Petitionen gegen das Gesetz beim Obersten Gerichtshof eingereicht, in der Hoffnung, dass dieser das neue Gesetz kippen würde. Diese Hoffnung könne jedoch bitter enttäuscht werden, warnt Shinar. Alle vorgeschlagenen Bestandteile der Überarbeitung – ein konzertierter Versuch, die Macht der Regierung zu festigen – seien Änderungen an den Grundgesetzen, dem Gesetzeswerk, das de facto als Israels Verfassung dient. Wenn der Oberste Gerichtshof eine Grundgesetzänderung für ungültig erkläre, sei das gleichbedeutend mit der Annahme einer «verfassungswidrigen Verfassungsänderung»: Dies sei theoretisch möglich, aber sehr unwahrscheinlich, erklärt der israelische Verfassungsrechtler. Das Gericht habe zwar bereits erklärt, dass es befugt sei, Änderungen der Grundgesetze für ungültig zu erklären, jedoch nur aus sehr eng gefassten Gründen, wenn zum Beispiel die Identität Israels als jüdischer und demokratischer Staat geleugnet würde. Es bleibe eine offene Frage, ob das Gericht zu diesem Schluss kommen werde, auch wenn das neue Gesetz offensichtlich der israelischen Demokratie schade, indem es beispielsweise der Korruption Tür und Tor öffne. 

Die Taktik des Abwartens könnte leicht scheitern 

Der Verfassungsrechtler Shinar erwartet eher, dass der Oberste Gerichtshof abwartet, ob andere Teile der vorgeschlagenen Überarbeitung angenommen werden, insbesondere diejenigen, die sich mit der Ernennung von Richtern, der Schwächung der Unabhängigkeit von Rechtsberatern in den Ministerien und der Einschränkung der richterlichen Überprüfung von Gesetzen befassen. Wenn dies geschehe, würden wichtige Kontrollen innerhalb der Regierung ausgehöhlt und die richterliche Kontrolle in Israel würde faktisch beendet. Damit würde, so Shinar, die Regierung Benjamin Netanjahu nicht nur das Parlament, sondern auch die Justiz und den unabhängigen öffentlichen Dienst kontrollieren und die ohnehin schon fragile Gewaltenteilung des Landes komplett aushebeln. In diesem Fall würde es dem Gericht leichter fallen, das gesamte Paket zu kippen, meint Shinar.

Doch eine solche Taktik des Abwartens berge erhebliche Risiken, warnt der Autor. Denn die Machtverhältnisse verschieben sich von alleine. Drei der liberalsten Richter, darunter der Präsident des Gerichtshofs, gehen bald in den Ruhestand. Sollten sie durch konservativere Richter ersetzt werden – was Shinar bei der derzeitigen Regierung für ein wahrscheinliches Szenario hält –, dann würden die Chancen, den umfassenden Plan zu kippen, erheblich sinken. Dann könnte die umstrittene Verfassungsänderung bittere Realität werden. Israel würde sich in ein Land verwandeln, in dem die Regierung unkontrolliert agiere und in ihrer Machtentfaltung kaum mehr gebremst werden könne, warnt Shinar.

Per Salamitaktik schleichend zum Gottesstaat?

Das düsteres Zukunftsbild des besorgten Verfassungsrechtlers ist nicht abwegig, denn wichtige Mitglieder der Regierung Netanjahu haben bereits angekündigt, dass die Ernennung von Richtern der nächste Punkt auf der Tagesordnung sein werde, wenn das Parlament im Oktober zurückkehrt. Netanjahu habe zwar erklärt, er werde in der Zwischenzeit versuchen, Vereinbarungen mit der Opposition zu treffen. Doch frühere Versuche, einen Konsens zu erzielen, seien bereits gescheitert, erinnert Shinar. Die Aussichten auf einen Kompromiss seien sehr gering, insbesondere angesichts des internen Drucks seiner rechts-religiösen Koalitionsmitglieder, die vereinbarte Agenda durchzusetzen.

Aus Sicht der Regierung Netanjahu sei die Schwächung der bereits angeschlagenen Demokratie in Israel kein Ziel an sich, sie sei vielmehr ein Mittel zum Zweck, analysiert Shinar. Sobald die Kontrollen der Regierungsmacht beseitigt seien, könne seine Koalition ihre Agenda inhaltlich vorantreiben:

  • Stärkung der Kontrolle über das Westjordanland, Bau weiterer Siedlungen dort und schliesslich Annexion dieser Gebiete; 
  • Erhöhung der finanziellen Unterstützung für ultraorthodoxe Juden und Verankerung ihrer Befreiung von der Wehrpflicht; 
  • Einschränkung für die LGBTQ-Gemeinschaft; 
  • Beschneidung der Rechte von Frauen, insbesondere in Bezug auf die religiös bedingte Geschlechtertrennung sowie Heirat und Scheidung; 
  • Förderung der Rechte und Interessen von Juden gegenüber anderen Gruppen in ganz Israel und den besetzten Gebieten, zum Nachteil der palästinensischen Bürger Israels und anderer Minderheiten.

Dies sei nicht bloss Spekulation, mahnt Shinar. In den bestehenden Vereinbarungen der Koalition würden diese Ziele ausdrücklich genannt. Und es seien bereits Gesetzesentwürfe mit genau dieser Agenda eingebracht worden. Adam Shinar führt einige konkrete Beispiele aus den letzten Wochen an:

  • ein Vorschlag zur Ausweitung des Einsatzes von Zulassungsbehörden in Kleinstädten, die Araber und andere Minderheiten effektiv daran hindern, in überwiegend jüdischen Gemeinden zu leben; 
  • ein Gesetz, das den Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, einen rechtsextremen Politiker, der wegen der Unterstützung der jüdischen Terrororganisation Kach verurteilt wurde, ermächtigen würde, Bürger in Haft zu nehmen, von denen er und andere Beamte lediglich glauben, dass sie eine «wirkliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit» darstellen; 
  • weitreichende Änderungen der Medienvorschriften, welche die für Fernsehsendungen zuständige Behörde politisieren und gleichzeitig Vorteile für den pro-Netanjahu-Kanal 14 bringen würden.

Diese geplanten Schritte würden zu den bereits verabschiedeten Gesetzen hinzukommen, mahnt Shinar. Dazu gehörten Beschlüsse über gigantische Geldtransfers an ultraorthodoxe Schulen und Bildungseinrichtungen, von denen nur wenige säkulare Kernfächer wie Mathematik, Englisch oder Naturwissenschaften unterrichteten. Dazu gehöre auch ein Gesetz, das Minister Ben-Gvir mehr Kontrolle über die Polizei bei der Festlegung ihrer Politik und ihrer Ermittlungs-Prioritäten einräume. Gearbeitet werde auch an subtileren Veränderungen im öffentlichen Dienst, der einst als professionell und überparteilich gepriesen wurde. Die Regierung scheine darauf bedacht zu sein, ein «Beutesystem» einzuführen, das Arbeitsplätze an Parteianhänger vergebe, beobachtet der Verfassungsrechtler Shinar. Politische Entlassungen und Einstellungen hätten sich bereits ausgeweitet, ohne dass eine sinnvolle Kontrolle stattgefunden habe.

Israels liberale Identität steht auf dem Spiel

«Die meisten derjenigen, die seit Januar auf die Strasse gegangen sind, taten dies in der Überzeugung, dass die Regierung auf dem Weg ist, den grundlegenden Vertrag zwischen dem Staat und seinen Bürgern zu verletzen, und dass ihr Land aufhören könnte, eine Demokratie zu sein», konstatiert Shinar. Doch es gehe auch um etwas Tieferes. Es drohe nicht nur der Zusammenbruch der israelischen Demokratie, sondern auch die Auflösung der grundlegenden Identität Israels, nämlich der eines jüdischen und demokratischen Staates.

In ganz Israel wächst die Besorgnis über den Aufstieg der Religion im öffentlichen Raum und die Privilegierung jüdischer Interessen in Israel und den besetzten Gebieten. Das Land stecke immer mehr Mittel in die Aufrechterhaltung der Besatzung und den Ausbau der Siedlungen. Shinar zählt auf, dass es keine Trennung von Religion und Staat gebe, dass Eheschliessungen dem religiösen Recht unterlägen und dass lediglich heterosexuelle Paare erlaubt seien. Er fügt an, für religiöse Einrichtungen würden enorme Mittel bereitstellt, die Ultraorthodoxen müssten keinen Militärdienst leisten und beteiligten sich nur wenig am Arbeitsmarkt. 

Angesichts dieser Verhältnisse vermöge die These einer sowohl jüdischen wie auch demokratischen Struktur der israelischen Gesellschaft immer weniger zu überzeugen. Der Kampf auf den Strassen drehe sich nicht nur um die Verfassungsänderung. Es gehe darum, ob Israel eine Zukunft als liberale Demokratie haben könne.

Damit diese Zukunft möglich werde, sei ein neuer Gesellschaftsvertrag für Israel und die Israelis erforderlich, verlangt Adam Shinar. «In den letzten sieben Monaten habe ich mit Hunderten von besorgten Bürgern gesprochen. Fast ausnahmslos endete jedes Treffen mit der Bitte, dass ich etwas Hoffnung vermitteln möge», erzählt Shinar. Aus seiner Sicht seien die vergangenen sieben Monate der zivilen Mobilisierung und des demokratischen Erwachens nichts weniger als ein Wunder gewesen, das die Menschen in einer Weise zusammengebracht habe, die früher unvorstellbar war.

Diese Mobilisierung sei bei weitem nicht perfekt, aber doch vielversprechend für das liberale Lager. Dieses beginne jetzt, alte Allianzen zu rekonstruieren und neue zu schmieden. Dies sei vielleicht trotz der allgegenwärtigen Skepsis und Verzweiflung der Beginn eines besseren Weges für dieses Land, schliesst der Verfassungsrechtler Adam Shinar seine Ausführungen mit einem leisen Hoffnungsschimmer. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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5 Meinungen

  • am 6.08.2023 um 12:01 Uhr
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    Das Kernproblem scheint mir zu sein, dass Israel, als weltweite Ausnahme unter den Staaten, weder eine verbindliche Verfassung kennt, auf die sich Betroffene berufen können noch Grenzen definiert hat, welche seinen Annexionskurs eindämmen könnten.
    Ob Gottesstaat der richtige Ausdruck für das was der Autor befürchtet ist halte ich für fragwürdig. Was Israel schon lange ist, ist ein Religionsstaat der exklusive Vorrechte für Angehörige der jüdischen Glaubensgemeinschaft bestimmt. Doch ein Staat kann nur dann demokratisch sein wenn alle Menschen die unter seinen Gesetzen stehen die selben Rechte in Anspruch nehmen können.

  • am 6.08.2023 um 16:16 Uhr
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    Die heutige israelische Regierung orientiert sich leider an Diktatoren, welche mittlerweile das Parlament, die Justiz, die Medien und das Militär fest im Griff haben (s. Russland, Iran, Türkei, Saudiarabien, Indien, usw.). Als Manipulationsinstrument dient ihnen die vorherrschende Religion. Religionsführer sind immer und überall Männer, ein Zufall? Religionsgemeinschaften sind oft nichts anderes als Institutionen zum Missbrauch gläubiger Menschen. Ich wünsche mir, nicht nur für Israel, eine absolute Trennung von Staat und Religionen. Dies könnte möglicherweise das Thema Menschenrechte und -pflichten in den Fokus rücken.

  • am 7.08.2023 um 07:03 Uhr
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    Ich bin ja weder bibel- noch torafest, aber meiner Einschätzung zufolge, ist jeder, der sich auf das biblische Israel beruft, um die Existenz des heutigen Israel zu rechtfertigen, verpflichtet, sich an die Tora zu halten, ansonsten verliert er den Anspruch auf das Land. Soweit ich weiss, gibt es viele orthodoxe Juden, die, auch wenn sie im heiligen Land leben, den Staat Israel nicht als legitim betrachten (aus vorher erwähnten Gründen). Kurz: Will Israel ein Staat der Juden sein, und es wurde explizit nur aus diesem Grund geschaffen, so wird es sich als ‹Gottesstaat› organisieren und sich an die Tora halten müssen, ansonsten ist es nur ein Stück Land, das von jenen regiert wird, die stärker als alle anderen sind. Eine Demokratie wird dabei weder unter dem Namen Israel, noch unter der Bezeichnung Palästina zu erwarten sein.

    • am 7.08.2023 um 19:59 Uhr
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      Die Tora gehört zum alten Testament, im neuen Testament geht es genau so um Israel.
      Die biblische Endzeit in welcher wir gerade jetzt leben, nimmt immer Bezug auf ein existierendes Israel.
      Die (noch nicht) erfüllten Offenbarungen auf die Endzeit wären Makulatur ohne existierendes Israel.
      Das hatte man lange gedacht, aber seit 1948 gibt es nach fast 2000 Jahren wieder ein Israel.
      Das aktuelle Weltgeschehen ist Erfüllung biblischer wird als Prophetie.
      Spannender als jeder Krimi 🙂

  • am 7.08.2023 um 12:37 Uhr
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    Was die israelische Regierung vorbereitet und dass sie darüber nicht abstimmen lässt, zeigt klar, dass sie nicht demokratisch ist.
    Wie die Regierung ihr Gewaltmonopol einsetzt, zeigt klar, dass sie autoritär ist und keinen Widerspruch duldet – ihr Gewaltmonopol also missbraucht.
    Das israelische Volk hat sich über ein halbes Jahr mittels Demonstrationen von bis zu 1 Mio. Menschen zumeist friedlich gegen den Demokratie-Abbau gewehrt. Leider beweist dies, dass sich ein Volk so gegen eine autoritäre Regierung kein Gehör verschaffen kann. In der Schweiz wird es wohl nie zu so viel sichtbarem Widerstand kommen.
    Die westlichen Demokratie-Verteidiger (USA & Co.) scheint das nicht wirklich zu stören.

    Was lernen wir daraus?

    Demokratie-Verteidiger sollten anstelle von Demonstrationen eine neue Art von gewaltfreiem Protest kultivieren:
    Zuhause bleiben und die Kooperation inkl. Steuern & Abgaben kollektiv verweigern.

    Demokratie ist auch im Westen hochgradig gefährdet.

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