Carlo Acutis

Seligsprechung von Carlo Acutis am 10. Oktober 2020 in Assisi © EWTN / katholisches Fernsehen / Youtube

Höhepunkt des Heiligen Jahres mit antijüdischer Schlagseite

Michael Meier /  Die Heiligsprechung des jungen Cyber-Apostels Carlo Acutis bedient eine antiquierte Frömmigkeit und den alten Antijudaismus.

Nein, diesen Heiligen will sich die katholische Kirche nicht nehmen lassen. Jung, sympathisch, fromm, hilfsbereit und internetaffin – mit all diesen Eigenschaften taugt der italienische Teenager Carlo Acutis zum Vorbild für die Jugend, zum Vorbild für unsere Zeit überhaupt. Die vielfach verbreiteten Bilder des gläubigen Youngsters auf dem Mountainbike oder am Computer sind Balsam auf die Seele der krisengeschüttelten Kirche. Carlo Acutis, der 2006 erst 15-jährig an Leukämie verstarb, wird am 7. September von Papst Leo XIV. heiliggesprochen. Eigentlich hätte das sein Vorgänger Franziskus am 27. April tun wollen. Doch verstarb dieser am Montag vor dem angesetzten Termin.

Die Heiligsprechung des ersten Millenials soll zum Höhepunkt im Heiligen Jahr 2025 werden und 100’000 Gläubige auf dem Petersplatz versammeln. Angehörige der Social-Media-Community verehren den jungen Italiener als «Cyber-Apostel» und «Influencer Gottes». Der in London geborene und in Mailand aufgewachsene Junge aus gutem, aber keineswegs frommem Haus eines Unternehmers fand durch das polnische Kindermädchen zur Kirche. Zu Lebzeiten eiferte er Franz von Assisi nach, brachte den Obdachlosen beim Arco della Pace im Zentrum Mailands Essen, sogar einen Schlafsack und half in einer Suppenküche aus. Was ihn für die katholische Jugend anschlussfähig macht, ist sein Glaube, den er mit seiner Leidenschaft fürs Internet verband. Er half Pfarrern, Websites für ihre Gemeinden zu entwerfen, und verbreitete im Netz missionarische Texte – vor allem zur Eucharistie. Doch in den Hype um den Heiligen unserer Tage mischen sich auch kritische Töne. Er huldige einer Frömmigkeit aus der Mottenkiste, monieren zweifelnde Geister, und bediene die katholisch verschleierte Judenfeindschaft.

Seit frühester Kindheit hatte Acutis eine grosse Devotion für die Heilige Kommunion, für den in der Hostie gegenwärtigen Leib Christi. Er konnte an keiner Kirche vorbeigehen, ohne Jesus im Tabernakel zu begrüssen. Nach der Erstkommunion mit sieben Jahren mochte der Junge keinen Tag mehr ohne Eucharistie sein. «Die Eucharistie ist meine Autobahn in den Himmel», war sein Leitspruch. So fing er mit elf Jahren an, ein Online-Verzeichnis über Hostienwunder seit dem 11. Jahrhundert auf der ganzen Welt aufzubauen. Drei Jahre brauchte er für sein digitales Hauptwerk. Die Vereinigung «Freunde von Carlo Acutis» hat daraus eine Wanderausstellung mit 140 Schautafeln gemacht, die auf fünf Kontinenten und auch in hiesigen Kirchen und Klöstern gezeigt wurde.

Acutis dokumentierte 136 Mirakel von wundersam blutenden oder leuchtenden Hostien. Stets ging dem Wunder ein Hostienfrevel, also die Schändung des Leibes Christi, voraus. Auch ein Schweizer Hostienwunder schildert er, jenes von Ettiswil im Jahr 1447, als eine schwebende Hostie zu leuchten begann. Zuvor soll Anna Vögtlin, gemäss Acutis «Anhängerin einer satanischen Sekte», die Hostie aus der Pfarrkirche gestohlen haben. Acutis verschweigt, dass Vögtlin danach als erste Hexe Luzerns verbrannt wurde. Nur zu oft mussten Hexen und vor allem Juden als Sündenböcke für den angeblichen Frevel an den Hostien herhalten. Darob unbekümmert schwärmt Acutis etwa vom Wunder der gestohlenen, dann blutenden Hostien von Poznan. In der (von ihm nicht dokumentierten) Folge des Hostiendiebstahls kamen 1399 der dortige Rabbiner und 14 jüdische Gemeindeglieder auf den Scheiterhaufen. Ähnlich verhielt es sich beim eucharistischen Wunder von Brüssel im Jahr 1370, als «Gottlose» geweihte Hostien stahlen und sie mit Messern durchstachen, worauf sie zu bluten begannen. Was weder bei Acutis noch im Heiligsprechungsprozess erwähnt wird: Gegen 20 Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Brüssel wurden hernach hingerichtet und der Rest vertrieben.

Verdienstvollerweise hat der Religionsjournalist Otto Friedrich in der so distinguierten wie konservativen «Herder-Korrespondenz» dargelegt, dass Hostienwunder Teil der Hexen- und Judenverfolgungen waren und zu Pogromen und Exekutionen führten. Weniger dem Jüngling Acutis selber als vielmehr den römischen Verantwortlichen des Heiligsprechungsprozesses wirft er vor, nicht darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Hostienfrevlern fast durchwegs um Juden oder Hexen handelte. Im «Standard» kommentierte Friedrich noch deutlicher: «80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und 60 Jahre nachdem die katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanum ihrer Judenfeindlichkeit abgeschworen hat, findet eine Heiligsprechung statt, ohne deren antijüdischen Hintergrund zu thema­tisieren, geschweige denn aufzuarbeiten. Eine Schande.»

Inzwischen hat auch Felix Klein, der Antisemitismus-Beauftragte der deutschen Bundesregierung, bemängelt, dass die Ermordung von Juden im Gefolge eucharistischer Wunder im Heiligsprechungsverfahren keine Rolle gespielt habe. «Jetzt wäre die Chance, dazu Stellung zu nehmen», so Klein. «Und diese Chance sollte vor dem historischen Hintergrund ganz schrecklicher Gewalttaten gegen Juden nicht leichtfertig verspielt werden.» Klein weist darauf hin, dass es just 60 Jahre nach der Konzils-Erklärung «Nostra aetate» über das neue Verhältnis der Kirche zum Judentum wieder vermehrt blinde Flecken gegenüber der eigenen antijüdischen Geschichte gebe.

Doch katholische Theologen eilten Papst und Vatikan zu Hilfe und versuchten, die Bedenken gegen die Heiligsprechung auszuräumen. Der Schweizer Jesuit und Judaist Christian Rutishauser, der seit Jahrzehnten die Päpste berät und als «intensiver Mahner» im jüdisch-christlichen Dialog 2026 mit der renommierten Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet wird, forderte auf katholisch.de zwar mehr Sensibilität der Kirche für die antijudaistischen Gehalte der Hostienwunder-Erzählungen. Doch hielt der frischgebackene Professor für Judaistik und Theologie in Luzern Acutis zugute, stets von Ungläubigen und nicht von Juden gesprochen zu haben, womit das Jüdische herausgenommen worden sei. Als sich die Diskussion dann verschärfte, forderte Rutishauser vor Wochenfrist auf der theologischen Plattform feinschwarz, dass die Dialogverantwortlichen der Kirche proaktiv auf die jüdischen Partner zugehen müssten: «Die christliche Glaubensfreude an der Heiligsprechung von Acutis darf nicht mit Kollateralschäden für die Juden einhergehen», mahnte nun der Jesuit. Wie soll das gehen, wo doch Rutishauser die unmittelbar bevorstehende Heiligsprechung verteidigt? Für ihn ist evident, dass Acutis ein Vorbild für junge Menschen sein könne, weil er eine echte Frömmigkeit gehabt habe. Eine echte Frömmigkeit wohl schon, aber eben eine fragwürdig-antiquierte, wie kritische Theologen monieren. Wird doch der Cyber-Apostel vor allem wegen seiner veralteten Eucharistieverehrung zur Ehre der Altäre erhoben.

Auch fühlen sich die kritischen Theologen vom vormodernen Kult um Leichnam und Reliquien von Carlo Acutis abgestossen. Der Kult fing damit an, dass 2019 für die anstehende Seligsprechung als Vorstufe zur Heiligkeit dessen Leichnam auf dem Friedhof von Assisi exhumiert wurde. Acutis Mutter, die die Heiligsprechung immer am vehementesten vorangetrieben hatte, behauptete in Einklang mit dem Leiter des Seligsprechungsverfahrens, der Leichnam sei gänzlich unversehrt aufgefunden worden. Domenico Sorrentino, der Bischof von Assisi, musste widersprechen: Der 14 Jahre nach dem Tod ausgegrabene Leichnam habe «den normalen Prozess der Verwesung» durchlaufen und sei dann «mit Kunst und Liebe wieder zusammengefügt» worden. Konkret: Der Leichnam wurde mit Silikon umfassend wiederhergestellt und «extrem einbalsamiert».

Seit der Seligsprechung im Oktober 2020 in Assisi defilieren Tausende und Abertausende Gläubige am gläsernen Sarg mit dem rekonstruierten Leichnam in Sweater, Jeans und Sneakers vorbei, den man auch per Livestream 24/7 im Netz betrachten kann. Acutis‘ Grabstelle in der Kirche Santa Maria Maggiore ist zum neuen Magnet für Gläubige geworden und beschert der ohnehin schon mystisch aufgeheizten Stadt des heiligen Franz von Assisi (1182 bis 1226) zusätzliches Chaos. Gewiss, es war der explizite Wunsch des Jungen, im umbrischen Pilgerort begraben zu werden, wo die Familie ein Ferienhaus hat.

Für ganz besondere Blüten sorgt der Reliquienkult: Das Herz des Jungen, sofern man noch von einem solchen sprechen kann, wurde dem Kadaver bei der Exhumierung entnommen und in ein goldenes Reliquiengefäss eingelassen. Kürzlich tourte es durch Deutschland, Belgien und die Niederlande, auch durch Irland und die USA. Überall liessen sich Hunderte mit der Herzreliquie segnen. Rom sieht in den Reliquien materielle Überbleibsel von Heiligen, die den Glauben sinnlich greifbar machen, ja auch heilend wirken können. Kritiker halten den Reliquienkult jedoch für anachronistisch. Als das Herz des angehenden Heiligen durch Europa tourte, kritisierten sie die «Störung der Totenruhe», ja die «klerikale Leichenfledderei».

Aber gerade für Papst Franziskus war die Heiligsprechung buchstäblich eine Herzensangelegenheit. 2023 reiste er mit dem Herzen des Jungen im Gepäck an den katholischen Weltjugendtag nach Lissabon. Schon im Jahr 2020 anerkannte er bedenkenlos ein zweites von Acutis erwirktes Wunder – die Heilung einer jungen Frau, die nach einem Fahrradunfall aus dem Koma wundersam erwacht sein soll –, und zwar auf die Fürsprache des angehenden Heiligen. Damit machte Franziskus, der mit dem Teenager die Verehrung für den Heiligen Franz von Assisi teilt, in Rekordzeit den Weg frei für die Heiligsprechung.

Seit dem Mittelalter lässt die Kirche nicht nur Körperteile der Heiligen – Zähne, Haare, Knochen – verehren. In der römischen Kirche Sankt Angela Merici sind von Carlo Acutis auch körperfremde Reliquien zur Verehrung ausgestellt: ein Holzsplitter seines Bettes, ein Stück eines Pullovers oder ein Fetzen des Lakens, das ihn nach dem Tod bedeckt haben soll. Rom fördert die Reliquienverehrung bis heute nach Kräften. Dass indes Haare von Acutis und Reste seiner getragenen Kleidung auf dem Internet samt Echtheitszertifikat versteigert werden, geht der Kirche zu weit. «Ich fürchte, dass der Teufel seine Hand im Spiel hat», argwöhnte Bischof Sorrentino von Assisi im März und leitete Beschwerde ein. Die Kirche tut gerne so, als halte sie das Falsche vom Echten fern. Dabei sorgt ja gerade sie dafür, dass bei Heiligsprechungen Fakten und Mythen miteinander verschmelzen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor Michael Meier ist Theologe und heute freiberuflicher Journalist. Er war 33 Jahre lang Kirchen- und Religionsexperte beim Zürcher «Tages-Anzeiger». 2006 erhielt er den Preis für Freiheit in der Kirche und 2011 den Zürcher Journalisten-Preis für das Gesamtwerk.
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Auf Papst Benedikt XVI. folgt Papst Franziskus I. Wird er die katholische Kirche reformieren oder konservieren?

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