Die Kluft bei den Einkommen wird statistisch verschleiert
Einkommensunterschiede bergen Sprengstoff. Werden sie zu gross, bröckelt der soziale Zusammenhalt. Das Vertrauen in die Politik geht verloren. Es kommt zu sozialer Unzufriedenheit.
Rechte Parteien und ihre Lobbys beschwichtigen, es gebe gar kein Problem. Sie vertreten die Interessen der Mittel- und der Oberschicht. Diese kassiert als Einkommen nicht nur enorme Löhne, sondern auch Zinsen, Dividenden und andere Kapitalausschüttungen, von denen Lohnabhängige nur träumen können.
Dass die Kluft zwischen den Einkommen seit Jahren immer grösser wird, wollen Grossverdienende lieber nicht transparent machen. Dies gelingt ihnen nicht zuletzt mit einem statistischen Schwindel, den sie national und international salonfähig machen konnten. Viele Medien verbreiten die Irreführungen.
Das jüngste Beispiel war die Schlagzeile im «Tages-Anzeiger» und anderen Zeitungen des Tamedia-Verlags: «Die Kluft zwischen den Einkommen wird kleiner. Die tiefsten Einkommen wachsen am schnellsten».

Der St. Galler Wirtschaftsprofessor Reto Föllmi unterstützte den «Tages-Anzeiger»: Bei den benutzten Zahlen handle es sich «um die beste Annäherung für ein Gesamtbild der Schweizer Einkommensverteilung».
Ihre Schlagzeilen begründeten die Tamedia-Zeitungen mit folgender Statistik: Die Spitzenverdiener haben ihre Einkommen im Zeitraum von 1980 bis 2023 um 18 Prozent erhöhen können, die Geringverdienenden jedoch um 28 Prozent. Folgerung: Die Armen holen auf (siehe Infosperber vom 11. Dezember).

Ein solcher relativer Vergleich zwischen zwei Prozentzahlen ist jedoch krass irreführend. Das zeigt ein einfaches Beispiel:
- Wenn ein Einkommen von 1000 Franken um 100 Prozent steigt, dann steigt es auf 2000 Franken.
- Wenn ein Einkommen von 100’000 Franken nur um 50 Prozent steigt, dann steigt es auf 150’000 Franken.
Der Niedrigverdienende hat 1000 Franken mehr zur Verfügung, der Spitzenverdiener 50’000 Franken mehr. Niemand wird ernsthaft behaupten, die Kluft zwischen den beiden Einkommen sei kleiner geworden.
Zurück zu den Zahlen der Tamedia-Zeitungen: In absoluten Zahlen hat sich die Einkomenskluft zwischen Spitzen- und Wenigverdiendenden seit 1980 stark vergrössert. Spitzenverdiener konnten ihre Einkommen bis 2023 um durchschnittlich 180’000 Franken erhöhen, Wenigverdienende nur um 10’630 Franken. Diese Zahlen hat der «Tages-Anzeiger» seiner Leserschaft vorenthalten. Sie hätten nicht zum Titel «Die Kluft wird kleiner» gepasst.

«Peinliche Desinformation»
Infosperber kritisierte die Schlagzeile der Tamedia-Zeitungen als «peinliche Desinformation». Denn in Wahrheit driften die Einkommen zwischen Wenigverdienenden und Vielverdienenden auch in der Schweiz weiter auseinander.
Infosperber machte auch transparent, dass Professor Reto Föllmi Mitglied eines Bankrats, Verwaltungsratspräsident zweier Firmen sowie Vorsitzender der Programmkommission von Avenir Suisse sei. Dieser «Think-Tank» lässt sich von über hundert Unternehmen und wohlhabenden Privatpersonen finanzieren. Dass sich Föllmi und Avenir Suisse für die Interessen der Niedrigverdienenden einsetzen, ist nicht bekannt.
Avenir Suisse: «Absolute Zahlen wenig hilfreich»
Avenir Suisse hat auf die Kritik von Infosperber reagiert: Die Tamedia-Zeitungen hätten weder unseriös noch irreführend informiert. Der Vergleich zwischen den prozentualen Veränderungen sei eine «sinnvolle Statistik». Die Veränderung der absoluten Zahlen (im Tamedia Beispiel 10’630 Franken mehr gegenüber 180’000 Franken mehr) sei «wenig hilfreich», meinte «Senior Fellow» Lukas Rühli.
Im Alltag sage man zwar vielleicht: «Du verdienst 500 Franken mehr als ich.» Wissenschaftlich interessiere jedoch fast nur der relative Vergleich: «Du verdienst 20 Prozent mehr als ich.» Wenn sich die Einkommen sowohl der Geringverdiener als auch der Spitzenverdiener verdoppeln, habe sich «die Ungleichheit nicht verändert».
Und wenn – wie laut den Zahlen der Tamedia-Zeitungen – die Spitzenverdiener ihre Einkommen nur um 18 Prozent steigern konnten, die Niedrigverdiener jedoch um 28 Prozent, dann habe «die Ungleichheit abgenommen».
Diese Sichtweise sei «wissenschaftlich peer-reviewt korrekt», behauptet Lukas Rühli von Avenir Suisse. Die meisten Statistiken würden die Ungleichheit so ausweisen, namentlich auch der viel zitierte Gini-Index, das Elefantendiagramm oder das logarithmische Verteilungsdiagramm.
Das ist korrekt, macht die Sache aber nicht besser. Vielmehr ist es so: Diese üblichen Darstellungen verschleiern, dass sich die Kluft zwischen hohen und tiefen Einkommen vergrössert.
Jason Hickel: «Relative Vergleiche sollen Ungleichheit rechtfertigen»
Der Vergleich zweier Prozentsätze (relative Darstellung) werde von einflussreichen Persönlichkeiten wie Bill Gates oder Ökonomen der Weltbank benutzt, um zu behaupten, die Welt werde gerechter, obwohl die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich sowie Nord und Süd weiter zunehmen. Das sagt Professor Jason Hickel, unter anderem «Visiting Professor at the International Inequalities Institute at the London School of Economics». Relative Vergleiche dienten dazu, Ungleichheit zu rechtfertigen.
Gerd Gigerenzer, emeritierter Professor am Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam hat über das öffentliche Verstehen von Statistiken mehrere Bücher geschrieben. Sein Befund: Selbst Akademiker können relative Vergleiche nicht einordnen, sondern nur absolute Zahlen. Die meisten Menschen verstehen unter der Ungleichheit von Einkommen die Unterschiede in absoluten Franken oder Euros. Praktisch niemand denkt an relative Veränderungen.
Ökonomen, welche die Entwicklung der Ungleichheit mit einer relativen Messgrösse angeben, würden «die Öffentlichkeit effektiv in die Irre führen», sagt Jason Hickel. Entsprechend irreführend war auch die Tamedia-Schlagzeile «Schweizer Einkommen: Die Kluft wird kleiner». Da Medienleute wissen müssen, dass ein solcher Titel von den meisten Leuten falsch verstanden wird, könnte man ihnen sogar absichtliche Irreführung vorwerfen.
Der schwindende Nutzen von noch mehr Einkommen
Verteidiger der gängigen relativen Vergleiche argumentieren, dass tausend Franken mehr Einkommen für Arme einen viel grösseren Nutzen hätten als zusätzliche zehntausend Franken für Reiche (Theorie des abnehmenden Grenznutzens). Entsprechend müsse man die tausend Franken der Armen höher gewichten.
Aus Sicht der Armen sollte man daraus jedoch den gegenteiligen Schluss ziehen, erklärt Jason Hickel. Jeder Dollar, der zusätzlich an Reiche statt an Arme geht, sei falsch investiert. Denn ein Dollar verbessert die Lebensqualität der Armen unvergleichbar mehr als die Lebensqualität der Reichen. Wenn das Ziel darin bestehe, die Armut zu verringern, dann verfehlten zusätzliche Dollar für Reiche dieses Ziel.
Langfristig würden die Armen zu den Reichen aufschliessen
Verteidiger der relativen Vergleiche argumentieren zudem damit, dass sich der absolute Abstand zwischen Niedrig- und Spitzenverdienern heute zwar tatächlich erhöhe, doch wenn sich der Trend fortsetze, würden die Armen zu den Reichen aufschliessen.
Im Fall der Tamedia-Zahlen: Wenn sich die Einnahmen der Niedrigverdiener auch in den kommenden Jahrzehnten stets um 28 Prozent erhöhen, die Einnahmen der Spitzenverdiener jedoch nur um 18 Prozent, gleichen sich die Einkommen langfristig an. Der «Tages-Anzeiger» hat es sogar ausgerechnet: «Es würde 1200 Jahre dauern, bis die Wenigverdiener aufgeholt hätten.» Das war erst noch falsch gerechnet: Es würde 1395 Jahre dauern.
Der Zeithorizont zeigt schon, wie absurd dieses Argument ist. Für Jason Hickel ist klar: «Bei der Messung der Ungleichheit kommt es nicht darauf an, was in ferner Zukunft passieren könnte, sondern was gerade jetzt passiert.»
«Die Einkommen gleichen sich weltweit an»
Was für die Eintwicklung der Einkommenskluft innerhalb eines Landes gilt, trifft auch für die Kluft der Einkommen zwischen Ländern zu. Dass sich die Einkommen weltweit angleichen, ist eine beschönigende Darstellung der Reichen.
Jason Hickel zeigt es anhand eines einfachen Beispiels:
- In einem armen Land stieg das Durchschnittseinkommen von 500 auf 1000 Dollar (Steigerung um 100 Prozent).
- In einem reichen Land stieg das Durchschnittseinkommen von 50’000 auf 75’000 Dollar (Steigerung um 50 Prozent).
Die Einkommen des armen Landes sind also doppelt so stark gestiegen wie die Einkommen des reichen Landes. Deshalb wird behauptet, die Ungleichheit zwischen den beiden Ländern habe abgenommen. Das wird im Gini-Index, im Elefantendiagramm und im logarithmischen Verteilungsdiagramm so dargestellt.
Tatsächlich aber hat sich die Kluft zwischen den beiden Ländern von 49’500 Dollar auf 74’000 Dollar vergrössert[i]. In absoluten Zahlen hat die Ungleichheit drastisch zugenommen.
Fazit: Aus Sicht der Niedrigverdienenden ist relevant, ob der absolute Abstand zu den Grossverdienenden grösser oder kleiner geworden ist. Aus Sicht der Grossverdienenden sorgt der relative Vergleich (die Armen legten prozentual mehr zu als die Reichen) dafür, dass die grösser werdende Kluft verschleiert wird.
Relative Darstellung nicht ohne absolute Zahlen
Manchmal werde ihm entgegengehalten, dass beide Messgrössen, sowohl die relative als auch die absolute, wichtig seien, erklärte Jason Hickel. Er meint dazu: «Gut. Dann fordern wir, dass Ökonomen jedes Mal, wenn sie anhand von relativen Messgrössen verkünden, die Ungleichheit nehme ab, auch über die absoluten Zahlen informieren. Dann kann sich die Öffentlichkeit selber ein Bild davon machen.»
Genau das hatte Infosperber geschrieben: «Vergleiche zwischen Prozentzahlen gelten in der Vermittlung von Statistiken als unseriös und irreführend – wenn nicht wenigstens gleichzeitig auch die absoluten Zahlen genannt werden: Wie viele Franken mehr verdienen die Spitzenverdienenden heute und wie viele Franken mehr die Geringverdienenden?»
FUSSNOTE
[i] Abstand am Anfang: 50’000 minus 500 Dollar
Abstand am Ende: 75’000 minus 1000 Dollar
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.










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