Kommentar

E-Bikes unter Verdacht: Kulturelle Aneignung!

Esther Diener-Morscher © zvg

Esther Diener-Morscher /  Wenn Velofahrer die Berge mit Akku-Hilfe erklimmen, dann ist die Identität der echten Velofahrer bedroht.

Neulich fuhr ich in Frankreich mit dem Velo auf die Alpe d’Huez. Ohne Strom. Plötzlich spürte ich, wie bei mir ein Unwohlsein aufkam. Unentwegt rauschten Velofahrerinnen und Velofahrer fröhlich an mir vorbei, und zwar auf Elektro-Velos.
Nun muss man wissen: Die Alpe d’Huez ist nicht nur ein französischer Retorten-Wintersportort, sondern auch ein Mythos des internationalen Radsports.

Tour de France 2022 Alpe d'Huez
Die Fahrer der Tour de France 2022 am Anstieg zur Alpe d’Huez.

Die Alp war schon 31-mal Schauplatz der Zielankunft des berühmtesten Velorennens der Welt, der Tour de France. Auf dem schweren Anstieg haben sich einige der ganz Grossen des Radsports durch ihre Siege verewigt: Die 21 Haarnadelkurven auf den Berg sind rückwärts durchnummeriert. Jede ist einem Etappensieger gewidmet.

Kurvenschild Alpe d'Huez

Etwa auf der Höhe von Marco Pantani, das heisst zwischen der Haarnadel Nummer 3 und der Haarnadel Nummer 2 – Pantani siegte zweimal –, begann ich mich zu fragen:

«Wie ungerecht und diskriminierend sind die Elektro-Velofahrenden? Sind sie nicht daran, nach und nach die Kultur des Radsports zu zerstören?
Warum müssen Velofahrerinnen und Velofahrer mit einem Akku – womöglich noch mit einen atomstromgeladenen – an ihrem Velo so unverhohlen und demütigend ihre Überlegenheit demonstrieren?
Sagen wir es doch deutlich: Es geht um die Tempohoheit am Berg. Unlängst noch standen die trainierten Rennvelo-Fahrer und -Fahrerinnen in der Geschwindigkeits-Hierarchie ganz oben, weil sie dank ihrer unermüdlich geübten Muskeln, ihres Herzens und ihrer Lunge den Gipfel rasch erreichten.
Nun lassen unsportliche Elektro-Velofahrer die unmotorisierten Bio-Velofahrer im Wortsinn einfach stehen. Eine kulturelle Aneignung. Die neuen Invasoren übernehmen als Träger einer dominanten Kultur Ausdrucksformen einer Minderheitskultur. Ohne Anerkennung oder Entschädigung, bestenfalls mit einem hämischen Lächeln beim Überholen der hechelnden Minderheitskultur, die sich bemüht, ihre kulturellen Ausdrucksformen zu bewahren.

Siegertafel Tour de France auf der Alpe d'Huez
Auf der Tafel im Hintergrund sind alle Fahrer, die als erste auf der Alpe d’Huez angekommen sind, verewigt.

Oben auf der Alpe d’Huez gipfelten die Übergriffe darin, dass sich die stromgetriebenen Fahrer auch noch auf der Ziellinie feiern liessen und damit den legendären Ort entweihten, der bislang nur den wahren, nämlich den unmotorisierten Helden des Radsports vorbehalten war.
Dringend nötig wäre nun eine «Cancel Culture», eine Absage an dieses anstössige Verhalten. Und zwar bevor sich die motorisierten «Bezwinger» der Alpe d’Huez auch noch blasphemisch gegenseitig vor der Wand fotografieren, wo alle 25 wahren Sieger eine Namenstafel haben.
»

Ein wenig später hatte eine Tarte Tatin meinen abgesackten Blutzuckerspiegel normalisiert. Ich spürte, wie die Beine einen Teil ihres Sauerstoff-Bedarfs wieder fürs Gehirn freigaben.

So dass ich wieder zählen konnte: Nämlich, dass sich bei 5 der 25 Alpe-d’Huez-Sieger im Nachhinein herausstellte, dass sie gedopt waren. Lance Armstrong, der zweimal gewann, hatte sogar so systematisch betrogen, dass ihm die Siege nachträglich aberkannt wurden.

Klar denken konnte ich auch wieder. Und mir wurde klar, wie man auf die Idee kommen kann, E-Bike-Fahrerinnen und -Fahrer der kulturellen Aneignung zu verdächtigen: Zu wenig Zucker im Blut und Sauerstoffarmut im Hirn.

Mit Doping statt mit Akku auf die Alp

Diese fünf Sieger auf der Alpe d’Huez halfen mit unerlaubten Mitteln nach: Joop Zoetemelk wurde positiv getestet. Fausto Coppi und Peter Winnen legten nach ihrer Karriere Doping-Geständnisse ab. Lance Armstrong wurde 1998 lebenslang gesperrt, gestand aber erst 2013 seinen Doping-Missbrauch. Bei Marco Pantani wurde erst Jahre nach seinem Tod 2004 enthüllt, dass auch er gedopt war. Pantani hält immer noch den Rekord auf die Alpe d’Huez: Seine schnellste Zeit betrug 36 Minuten und 50 Sekunden. Der Anstieg ist 13,8 Kilometer lang. Zu bewältigen ist ein Höhenunterschied von 1090 Metern und eine durchschnittliche Steigung von 7,9 Prozent.

Gemäss den Aussagen ehemaliger Radsportler gab es immer wieder Phasen, in denen das ganze Fahrerfeld gedopt war. Seit 1966 gibt es Anti-Doping-Bestimmungen. Die Gefahren der Dopingpraxis zeigten sich ein Jahr später, als Tom Simpson im Anstieg zum Mont Ventoux unter dem Einfluss von Amphetaminen und Alkohol starb.


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Keine
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14 Meinungen

  • am 30.07.2023 um 11:35 Uhr
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    Merci Esther für den Erlebnisbericht oder die Glosse. Vielen Normalvelofahrenden geht es so, nicht nur auf Tour-Gipfeln. Mit hilft jeweils die Gewissheit, dass das meiste keine Velos, sondern Motorfahrzeuge sind, bei denen pro forma noch etwas pedalt wird.
    Der Gipfel der Dekadenz sind solche Atomtöffs auf Wanderwegen in den Bergen.

    • am 1.08.2023 um 12:23 Uhr
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      Lieber Thomas. Gerne würde ich dich mal auf eine Biketour mit dem EMBT mitnehmen, vielleicht würdest du dann deine Meinung ändern. «pro forma noch etwas pedalt wird». Bin ja gespannt, wie lange es ginge, bis du feststellst dass du trotz Motor gehörig ins Schwitzen kommst, aber vielleicht mit einer gesünderen Herzbelastung unterwegs bist. Gehst du auch in die Berge? Kannst du dich erinnern als die Fraktion der roten Kniesocken alles verteufelte, was keine «richtigen» Bergschuhe trug? Die Zeiten ändern sich! Die Touren, welche ich mit dem EMBT unternehme, könnte ich als Ü72 ohne Motor nicht mehr machen. Vielleicht war ich dieses Jahr bereits auf mehr Gipfeln als du, auch Bike&Hike ist eine Bereicherung. Mit dem Bike zum Berg und zu Fuss auf den Gipfel. Warum unterstellst du mir dekadent zu sein? Freue dich doch einfach über alle, welche die Berge geniessen, freundlich sind den Abfall mitnehmen!

  • am 30.07.2023 um 12:36 Uhr
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    hallo

    zum glück habe ich ohren, sonst hätte mein grinsen wohl den ganzen kopf umfasst…
    danke für den tollen artikel.

    es grüsst ein fahrer von normalen und e-velos

  • am 30.07.2023 um 13:13 Uhr
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    Grundsätzlich finde ich «Kulturelle Aneignung» (oder Wokeness) ein Ablenkungsinstrument (ähnlich den Störsendern gegen Kuba) vom «Wesentlichen: Aneignung des Planeten by USA» und somit eine Falle. Aber falls man sich damit befasst: Müsste man es nicht Fatale Falschentwicklung nennen? Beispiele: Inklusion: Möchten Nichtbehinderte mir sagen, wie ich Behinderter wohnen muss (mit Lärm und Passivrauch, tendenziell 24/7)? Vom physischen Buch zum HEV-Licht-Digitalreader? Vom Humanbeing zum Roboter im Pflegeheim? Vom Bargeld-Münz zur Stromdigitalidentifikationsobligation, notabene beim «Staatsbetrieb» SBB: https://www.suedostschweiz.ch/leserbriefe/2023-07-24/wc-im-bahnhof-chur-nur-mit-smartphone-oder-zutrittskarte-benutzbar

  • am 30.07.2023 um 14:11 Uhr
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    Esther Diener-Morscher liegt mit der Kritik an den E-Bikern auf der Alpe d`Huez goldrichtig. Nichts gegen Elektrobiker, aber auf die Alpe d`Huez gehören sie nicht. Das ist ja, wie wenn sich diese Nichtsportler mit dem Heli auf den Mount Everest transportieren liessen, um dort ein Selfie zu schiessen. Die Relativierung mit dem Doping der Cracks ist dagegen daneben. Wir vergleichen die E-Biker mit der Autorin, nicht mit Lance Armstrong. Übrigens: Gratulation an Esther.

    • am 1.08.2023 um 12:05 Uhr
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      richtig so… wenn schon mit dem auto oder noch besser suv…

  • am 30.07.2023 um 16:24 Uhr
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    Naja. . . lieber E-Bikes überholen mich, als die überproportional schadstoffigen Töfflis (zumal Normalvelofahrende vermehrt atmen):
    1) Diesel wie Asbest:
    https://www.welt.de/gesundheit/article106567737/Dieselabgase-so-krebserregend-wie-Asbest.html
    2) Töffs, noch schlimmer Töfflis:
    «Wenn man an einer Ampel hinter einem Motorroller wartet, während dieser im Leerlauf läuft, dann kann dies bereits hochgradig gesundheitsschädlich sein», betonen die Forscher.
    3) https://www.beobachter.ch/umwelt/abgase-benziner-russen-schlimmer
    Moderne Benzinautos stossen alarmierend hohe Mengen von krebserregenden Stoffen aus.
    «Die modernen Benziner produzieren sehr kleine Russteilchen, sogenannte Nanopartikel. Einmal eingeatmet, bleiben sie immer im Körper», sagt Heeb.

  • am 30.07.2023 um 18:42 Uhr
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    Schön, dass sich bei Frau Diener-Morscher wieder etwas Sauerstoff im Gehirn fand.
    Eine nette Satire!
    Gehlhar

  • am 30.07.2023 um 19:07 Uhr
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    Ein etwas zwielichtiges Sommerloch-Thema. Lasst die Leute Velo fahren wie sie wollen, Hauptsache sie bewegen sich.

  • am 30.07.2023 um 21:09 Uhr
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    Danke Danke Danke!
    Sooo Herzlich gelacht hab ich schon lange nicht mehr! Dachte am Anfang als ich den Titel las… Nicht schon wieder!

  • am 31.07.2023 um 08:08 Uhr
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    Herrlich ironischer Artikel.
    Vielen Dank für diese aufheiternden Zeilen.

  • am 1.08.2023 um 11:08 Uhr
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    Die E-Bikes machen dick! Oder habt Ihr schon einen Schlanken ein E-Bike fahren sehen?

  • am 1.08.2023 um 11:44 Uhr
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    Satire – oder Ironie – oder doch eher ein Beitrag zum 1. April?

  • am 1.08.2023 um 13:57 Uhr
    Permalink

    Naja, auf diese Alp würde ich nicht pedalen. Bergtouren mit dem Bike sind mir echt zu anstrengend. Ich begnüge mich als passionierter Geradeausfahrer mit regelmässigen, mehrstündigen Velotouren an der Reuss im Säuliamt bzw. Aargau und/oder im Zugerland. Da passiert es mir in sehr regelmässigen Abständen, dass ich von Senioren im Alter zwischen 80 und 100 überholt werde. Fast immer grusslos und mit völlig verbissener oder fast religiöse verzückter Miene (bis auf wenige Ausnahmen). Ich nehme das in der Regel mit einem leichten Schmunzeln zur Kenntnis. Mehr Mühe habe ich mit denjenigen, welche sich bis auf wenige Zentimeter von hinten «anschleichen» und mir einen ziemlichen Anschiss verpassen, wenn ich nicht subito ausweiche. Ein E-Bike brauche ich aber trotzdem erst ab 90 – falls überhaupt jemals. Diesen atomstromgetriebenen Silberrücken überlasse ich gerne die Tempo-Hoheit und pflege auch weiterhin meinen ganz persönlichen Rhythmus ohne künstlichen Pfuus.

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