Kommentar

Der Klang der Rebellion – Schwarzer US-Jazz

Johannes Kaiser ©

Johannes Kaiser /  Monumental und politisch: Die Geschichte des Jazz von Ex-Radio-Redaktor und Jazzkenner Peter Kemper

Seine Trompete machte ihn berühmt. Louis Armstrong war in den sechziger Jahren ein stets lächelnder und gutgelaunter Wegbereiter des Jazz in den USA und später auch in Europa. Er war der nette «nigger», auch für Südstaatenweisse akzeptabel. Doch das war nur eine Seite von ihm, wie der deutsche Musikkritiker und Autor Peter Kemper in seinem mit über 750 Seiten extrem umfangreichen Buch «The Sound of rebellion – Zur politischen Ästhetik des Jazz» aufzeigt.

Als 1957 der Oberste Gerichtshof die Rassentrennung an öffentlichen Schulen aufhob, hinderte ein weißer Mob in Little Rock afroamerikanische Schüler am Besuch der High School. Armstrong, genannt «Satchmo», für seine unpolitische Haltung von anderen schwarzen Musikern oft kritisiert, war diesmal so empört, dass er Eisenhower, der nicht dagegen einschritt, als feigen Präsidenten schmähte. Während die weisse Presse daraufhin vor Wut schäumte, stimmten ihm, so Peter Kemper, viele prominente Schwarze zu.

Es ist natürlich kein Zufall, dass Peter Kemper seine facettenreiche, wortmächtige Geschichte des afroamerikanischen Jazz den «Klang der Rebellion» mit diesem Beispiel beginnt. Es zeigt, dass Amerikas Gesellschaft insbesondere in den Südstaaten von heftigem und oftmals sogar mörderischem Rassismus zutiefst geprägt war.

Menschen zweiter Klasse

Noch in den sechziger Jahren wurden dort Schwarze gelyncht. Polizei und Justiz schauten einfach weg. Immer wieder erzählt der Autor solche Geschichten vom alltäglichen Rassismus in den USA, den alle schwarzen Musiker und Musikerinnen erlebten und erleben.  Bis in die späten sechziger Jahre wurden sie wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Von Gleichberechtigung keine Spur. Viele Ereignisse, an die Kemper erinnert, haben wir vergessen oder nie zur Kenntnis genommen, und es ist bisweilen schwer erträglich, von den gebilligten oder sogar forcierten Gewalttaten weisser Südstaatler zu erfahren. Die schwarzen Musiker und Sängerinnen haben, so belegt Peter Kemper, auf die rassistischen Attacken mit Musik reagiert. Die war selten neutral oder unpolitisch. Sie haben ihre Kompositionen sehr oft als Anklage, Kritik, Zornesausbruch über ihre ständige gesellschaftliche Diskriminierung verstanden und verstehen sie bis heute so.

Politisches Schlagzeug?

Als sich Anfang der sechziger Jahre schwarze Studenten auf die für Weisse reservierten Plätze in einer Cafeteria niederliessen und nicht wieder aufstanden, starteten im ganzen Süden der Staaten solche gewaltfreien «Sit-ins». Genau darauf bezieht sich der Plattentitel «We insist» des schwarzen Schlagzeugers Max Roach. Das Albumcover zeigt drei nicht bediente Schwarze an einer Imbisstheke mit einem weissen, misstrauisch schauenden Kellner im Hintergrund. Roach hat seine Musiktitel auf dem Album «Freedom now suite» genannt. Er verstand sie als politisches Statement und zwar nicht nur in den Songs, in denen Abbey Lincoln unter anderem die brutale Sklavenarbeit der Schwarzen anprangert, sondern auch in seinem Schlagzeugspiel. Kemper interpretiert dessen sogenannte Rim Shots, Schläge auf die Mitte des Snare Drum und auf ihren Rand so: «Auf diese Weise baut er auditiv eine Brücke zu den körperlichen Leiden von Schwarzen während der Sklavenzeit: Rim-Shots werden deshalb so genannt, weil ihr Knall an den Schuss aus einer Pistole erinnert.» Der Autor hört aus den rhythmischen Mustern der Songs sogar die «monotonen Geräusche von klappernden Fussfesseln»

Solche sehr freien Interpretationen von Melodien, Harmonien, Rhythmen und Improvisationen sind typisch für das ganze Buch. Selbst die Weiterentwicklung des Jazz ist für ihn ein Aufbegehren gegen Konventionen, die Suche nach neuen Ausdrucksformen, Rebellion gegen überkommende Hörgewohnheiten, ein Aufbegehren. Er sieht in ihnen Versuche, die seelische Verfassung der schwarzen Komponisten musikalisch auszudrücken.

Nicht alle dachten so

Dabei stellt Kemper immer wieder einen Zusammenhang, eine Beziehung zwischen den politischen Aussagen der von ihm vorgestellten Musiker und ihrer Musik her. Die beziehe Stellung zur black power Militanz ebenso wie zur «black lives matter»-Bewegung. Berühmt geworden ist Archie Shepps früherer Ausspruch: «Mein Saxophon ist das Maschinengewehr des Vietcong.» Nicht alle dachten so. John Coltrane oder Pharoah Sanders zum Beispiel, für die Weiterentwicklung des Jazz extrem wichtig, wandten sich einem spirituellen Jazz zu, versuchten die innere Verfasstheit ihrer Person – natürlich auch als Teil der schwarzen Gemeinschaft –  auszudrücken. Sie äusserten sich nicht politisch. Doch selbst darin sieht Kemper eine Reaktion auf das gesellschaftliche Umfeld, da sie sich damit zu ihrer «race» bekannten und von der weissen Gesellschaft abgrenzten. Sogar in der völlig freien Musik von Ornette Coleman, dem Propheten des free jazz, sieht er eine «antikapitalistische Attitüde». Der Saxophonist selbst spricht davon, dass sich in seinem Ton seine Erfahrungen als schwarzer Musiker widerspiegeln.

Musik als Sprache?

Kempers bisweilen ausufernde, wortschöpferische Interpretationen sind durchaus gewagt. Am Ende des Buches stellt er denn auch selbst die grundsätzliche Frage, ob Musik der Sprache gleichzusetzen ist und politische Aussagen machen kann. Er negiert dies weitgehend und zitiert dazu zahlreiche Philosophen sowie er überhaupt immer wieder philosophische Erkenntnisse afroamerikanischer oder europäischer Denker für seiner Interpretationen heranzieht. Damit widerspricht er sich gewissermaßen selbst, nachdem er vorher ausführlich und detailliert eben die schwarzafrikanische Musik als Rebellion verstanden hat, ihre Klänge, Töne, Musikstrukturen als politische Stellungnahmen.
Er erforscht und analysiert die politisch ästhetische Bedeutung der seiner Ansicht nach wichtigsten Musiker und Musikstücke der afroamerikanischen Jazzgeschichte. Duke Ellington und Billie Holiday stehen am Anfang seiner Erkundungen, Charlie Parker und Max Roach, Charles Mingus und John Coltrane kommen ebenso zu Wort wie Miles Davis oder das Art Ensemble of Chicago und Ornette Coleman. Der Autor endet beim HipHop Jazz des Saxophonisten Kamasi Washington und den ‚spoken word‘ Künstlerinnen wie Moor Mother.

Das umfangreichste Porträt ist Archie Shepp gewidmet, mit dem der Autor ein sehr ausführliches Interview geführt hat, das er größtenteils wiedergibt. Ansonsten zitiert er ausführlich aus Büchern, Interviews, Liner Notes (Plattentexte), Zeitungskritiken, wie der umfangreiche Anhang zeigt.

Dabei kommt es zu zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen, denn die ausgewählten Musiker und Musikerinnen durchliefen im Laufe ihrer Karriere in vielen Fällen dieselben Entwicklungsphasen, kamen zum Beispiel vom Bebop über den Hard Bop zum Free Jazz oder zur fusion music. So stösst man beim Lesen immer wieder auf bereits erwähnte und bekannte Tatsachen. Das ist bisweilen etwas nervig.

Aneignung?

Ausführlich referiert Peter Kemper auch die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der schwarzen Gemeinschaft, die darüber streitet, wie politisch darf, kann, soll der Jazz sein. Sie feiert ihre afrikanischen Ursprünge und ist oftmals von Machismo geprägt. Ausser Sängerinnen wie Billy Holiday oder Abbey Lincoln gab es im schwarzen Jazz des letzten Jahrhunderts so gut wie keine Musikerinnen. Das hat sich erst im neuen Jahrtausend geändert, wie Kemper an den «spoken word» Musikerinnen zeigt. In kleinen Exkursen zeigt er außerdem, inwieweit auch weisse Musiker wie zum Beispiel der Bassist Charlie Haden oder die Pianistin Carla Bley den Jazz bereichert haben. Der Schwerpunkt liegt aber eindeutig auf schwarzem US-Jazz.

Das Buch endet mit einer Rechtfertigung. Um dem Vorwurf der Kulturaneignung zu entgehen, erklärt Peter Kemper, warum er sich berechtigt fühle, als weisser europäischer Kritiker über schwarzen Jazz zu schreiben, auch wenn er nie persönlich nachempfinden könne, wie Rassismus wirkt. Eben weil er kein Betroffener sei, erlaube das ihm, die Entwicklung des afroamerikanischen Jazz ohne persönliche Betroffenheit, aber durchaus engagiert nachzuzeichnen. Das ist ihm dank seiner Begeisterung für die Musik gelungen.


Peter Kemper: The sound of rebellion – Zur politischen Ästhetik des Jazz, Reclam Verlag 2023, 752 S., 38 €, SFR 49.90 (auch als ebook erhältlich)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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3 Meinungen

  • am 15.12.2023 um 11:46 Uhr
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    Und das Schweizer Staatsradio «Buremünschter» spielte Jazz nur in wohldosierten kleinen Mengen – nahe dem Emmissionschluss – begleitet von einem Jan Slawe…
    Dafür wurden gewisse JodlerInnen zu Millionären, weil sie tagaus-tagein ihr Gedudel, an die nicht interessierte Mehrheit der Radiohörer, aufzwangen.
    Wir hörten Südwest-Funk aus Deutschland… bis endlich ein Schawinsky Alles umkrempelte.

  • am 17.12.2023 um 11:45 Uhr
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    Von Peter Kemper’s Buch hatte ich schon gelesen. Danke an Johannes Kaiser an die Erinnerung. Jetzt habe ich den richtigen Weihnachtswunsch an meine Familie. Und ich höre gerade mal wieder die Freedom Now Suite von Abbey Lincoln, Max Roach, Booker Little, Coleman Hawkins und den weiteren Mitwirkenden. Für mich ein ganz wichtiges Werk, sowohl politisch als auch musikalisch.

  • am 17.12.2023 um 19:52 Uhr
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    … oder am Samstag Nachmittag vor dem Radio Beromünster Joachim-Ernst Behrendt in seiner Sendung Jazz zuzuhören. Oder In den Konzerten in Zürich und Luzern die Stars Louis Armstrong, Lester Young,, Ella Fitzgerald, Count Basie, etc. live erleben. Aber sonst waren Beiträge zu dieser Musik rar.

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