AlaattinCakici

Nach der Freilassung ein paar Fotos auf Twitter. © Twitter

Türkei entlässt tausende Gefangene – auch Mafiabosse

Amalia van Gent /  Angesichts der Corona-Pandemie will die Türkei bis zu 90'000 Gefangene entlassen. Politisch Inhaftierte bleiben in Haft.

Das türkische Parlament hat Mitte April ein Gesetz verabschiedet, aufgrund dessen bis zu 90’000 der insgesamt 300’000 Strafgefangenen vorzeitig aus den überfüllten Gefängnissen freigelassen werden. 640 Inhaftierte wurden gleich nach Verabschiedung des Gesetzes auf freien Fuss gesetzt. Darunter befand sich Alaattin Cakici, ein berühmter Name in der Welt der Mafia-Bosse. Cakici sass seit 2004 in Haft, weil er 1998 laut Gerichtsurteil den Mord an seiner Ehegattin Ugur Kilic, Tochter eines dazumal ebenso einflussreichen Mafia-Bosses, angeordnet hatte. Eigentlich war dieser Mann der türkischen Justiz bereits vor 2004 hinreichend bekannt: Nach dem Putsch der Generäle 1980 beschuldigte ihn ein Militärgericht, als führendes Mitglied der rechtsextremen Organisation der «Grauen Wölfe» Ende der 1970er Jahre insgesamt 41 linke Aktivisten ermordet zu haben. Ende der 1970er Jahre bekämpften sich die Verfechter vom rechten und linken politischen Lager tatsächlich blutig auf den Strassen, wobei die Jugendorganisation der ultranationalistischen MHP-Partei der «Grauen Wölfe» im Ruf stand, ihre bewaffneten Mitglieder besonders gnadenlos gegen die politischen Gegner einzusetzen.

Verfilzung von Politik, Mafia und Sicherheitskräften

Interessanterweise waren es Teile der Armee, die Anfang der 1990er Jahre ruchlose Mitglieder der «Grauen Wölfe» wie Alaattin Cakici in den illegalen Strukturen des sogenannten «tiefen Staats» integrierten. Der «tiefe Staat» steht in der Türkei als Inbegriff für die enge Verfilzung zwischen skrupellosen Politikern, Mafia-Bossen und Mitgliedern der Sicherheitskräfte. Sie teilen alle die Überzeugung, den vermeintlich «bedrohten Staat» um jeden Preis retten zu müssen. Als Anfang der 1990er Jahre der türkisch-kurdische Bürgerkrieg im Südosten der Türkei unzählige Opfer forderte, sahen sie den Staat als besonders bedroht. Und schlugen zurück.

Der Ausnahmezustand, der im Südosten der Türkei bereits 1988 erklärt wurde, schaffte den Rechtsstaat faktisch vollends ab. Die Gendarmerie, die Geheimdienste und Mafia-Bosse, kurz alles, was den «tiefen Staat» ausmachte, wurden mit beinah unbegrenzten «Kompetenzen» ausgestattet. Wie diese unheimliche Allianz arbeitete, wurde 1996 als Folge eines Autounfalls unweit des Städtchens Susurluk zufällig aufgedeckt. Ministerialinspektor Kutlu Savas legte 1998 in seinem aufsehenerregenden «Susurluk-Bericht» offen, dass der Krieg im Südosten 1993 und 1997 vom Glückspiel und Drogenhandel finanziert worden war. Kutlu Savas zitierte die damalige Regierungschefin Tansu Ciller: «Wir verfügen über eine Liste von Geschäftsleuten, die der PKK (den kurdischen Rebellen) helfen, wir werden sie zur Rechenschaft ziehen». Dann begannen die Hinrichtungen. «Wer gab den Befehl für die Ermordungen? Wer verfügte über solche Kompetenz?», fragte sich der Ministerialinspektor und liess die Antwort offen. Kurdische und Menschenrechtsorganisationen führten die Zerstörung von 4000 Dörfern und die 10’000 unaufgeklärten illegalen Hinrichtungen auf den «tiefen Staat» zurück. 2007 definierte der damalige Regierungschef Recep Tayyip Erdogan den «tiefen Staat» als «Banden innerhalb staatlicher Institutionen, die im grauen Dunst der Illegalität und fern jeglicher Regierungskontrolle agieren».

Der schwächelnde «tiefe Staat»?

Der Name Alaattin Cakici sollte im Mai 2018 nochmals für Aufruhr sorgen. Der Vorsitzende der MHP-Partei Devlet Bahceli besuchte den bekannten Inhaftierten demonstrativ im Gefängnis und forderte von der Regierung ultimativ seine Freilassung: «Wie lange noch sollen unsere Brüder hinter Gitter zugrunde gehen?», fragte er in aller Öffentlichkeit. Präsident Erdogan wies die Forderung aber schroff zurück: «Ich will doch nicht in Verbindung mit der Freilassung der Drogenmafia stehen». Bedeutet nun Cakicis Freilassung eine Kehrtwende und ein Wiedererstarken des «tiefen Staats»?

Laut Ryan Gingeras, einem guten Kenner des organisierten Verbrechens in der Türkei, dürfte das genaue Gegenteil der Fall sein. Wie er dem Internetportal Ahval erklärte, habe Erdogan nach dem Putschversuch 2016 Institutionen wie die Armee und die Justiz, welche historisch unabhängig von der Regierung handelten, völlig unter seine Kontrolle gebracht: «So gesehen hat er den tiefen Staat zerstört». Dass Erdogan den Wünschen der MHP-Führung nach einer Amnestie dennoch nachkommt, zeigt laut Gingeras hingegen, dass der ultranationalistische Flügel in der Regierung die Oberhand gewonnen hat.

Politische Gefangene bleiben in Haft

Tatsache ist, dass Erdogan ohne die Unterstützung Bahcelis, seines einzigen Koalitionspartners, nicht regieren kann. Der türkische Präsident hängt vom Wohlwollen der Rechtsnationalisten mehr denn je ab. Diese Abhängigkeit spiegelt sich auch in der Umsetzung des neuen Amnestiegesetzes: Obwohl das Gesetz ausdrücklich die Freilassung von Gefangenen verbietet, welche wegen vorsätzlichen Mordes, Gewalt gegen Frauen, Sexualstrafen und Drogendelikten einsitzen, kann der mehrfach verurteilte Drogen-Mafioso Alaattin Cakici das Gefängnis einfach verlassen.

Ausgenommen vom neuen Amnestiegesetz sind auch jene Inhaftierten, die in Verbindung mit den Anti-Terrorgesetzen angeklagt oder verurteilt worden sind. Laut dem Justizminister sassen im Juni 2019 insgesamt 48’924 Personen wegen «Terrorverbrechen» hinter Gitter. Die Antiterrorgesetze der Türkei sind unter Juristen aufgrund ihrer gummihaften Definition umstritten. Sie wurden traditionell von Ankara dazu eingesetzt, um kritische Stimmen im Keim zu ersticken und jeden Opponenten hinter Gitter zu bringen. Unter den 48’924 Menschen befinden sich Journalisten und Richter, Offiziere sowie Hochschullehrer, Intellektuelle, Dutzende kurdische Bürgermeister sowie mehrere Tausend Kader der zwar legalen, aber in Wirklichkeit verfolgten pro-kurdischen HDP-Partei. Der Anteil der «politischen Gefangenen» macht ein Fünftel aller Inhaftierten der Türkei aus und entspricht einer der höchsten Raten politischer Inhaftierter weltweit.

Human Rights Watch: «Todesstrafe für politische Gefangene»

Wie sinnvoll ist es für eine Gesellschaft, «Mörder freizulassen und das Leben von Autoren auch wegen der Pandemie des Coronavirus aufs Spiel zu setzen, nur weil sie drei Artikel geschrieben haben, welche der Regierung missfielen?», fragt sich der Wirtschaftswissenschaftler Mehmet Altan. Sein Bruder ist Ahmet Altan. Um die Jahrtausendwende war er einer der populärsten Autoren der Türkei und Chefredakteur der damals angesehenen linksliberalen Tageszeitung «Taraf». Im Rahmen der grossen Verhaftungswelle nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 wurde Ahmet Altan festgenommen und aufgrund der Anti-Terrorgesetze zu einer lebenslangen Haft verurteilt. Das Appellationsgericht des Landes verordnete letztes Jahr Ahmet Altans Freilassung. Eine knappe Woche nach den Schritten in die Freiheit wurde der Autor aufgrund eines weiteren Antiterrorgesetzes wieder hinter Gitter gebracht. Amnesty International sprach damals von psychischer Folter.

Es ist ein Modell, dass auch im Fall des Kunstmäzenen Osman Kavala angewandt wurde. Mit seiner Organisation «Anadolu Kultur» hatte sich der Istanbuler Geschäftsmann jahrelang für ein friedliches Zusammenleben von Kurden und Türken und für eine türkisch-armenische Annäherung eingesetzt. Auch die Integration syrischer Flüchtlinge war ihm ein Anliegen. Er wurde im Oktober 2017 festgenommen und sass 29 Monate in Untersuchungshaft. Im Februar hat ihn ein Gericht freigesprochen. Aber noch bevor Osman Kavala überhaupt seine Zelle verlassen durfte, verordnete ein zweites Gericht seine Wiederverhaftung, aufgrund eines weiteren Verstosses gegen das Anti-Terrorgesetz. Der Kurdenführer Selahattin Demirtas, Mitte der 2010er Jahre noch die Verkörperung einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage in der Türkei, sitzt wegen – was sonst? – Terrorverbrechen, ebenfalls seit 2016 im Gefängnis.

Ahmet Altan, Selahattin Demirtas und Osman Kavala sind die wohl sichtbarsten Gesichter der rund 50’000 politischen Gefangenen der Türkei. Sie verkörpern das genaue Gegenteil von Erdogans repressivem, autokratischem, religiös-konservativem Regime und hängen auch hinter Gittern dem Traum eines türkischen Rechtsstaats nach. Ihr Leben ist wegen der Corona-Pandemie nun buchstäblich in Gefahr. Sollte der Corona-Virus Einzug finden in den Anstalten des Landes, wo die Häftlinge in engen Massenzellen zusammengepfercht sind, werde es sich «wie ein Lauffeuer ausbreiten», schrieb Ahmet Altan alarmiert seinem Bruder. Justizminister Abdulhamit Gül hat Mitte April 17 Coronafälle und drei Todesfälle in den Anstalten bestätigt. Die Internationale Organisation Human Rights Watch bezeichnete das neue Gesetz auch deshalb «eine faktische Todesstrafe für die politischen Gefangenen».

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Infosperber-DOSSIER:
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