Stürm und die Doppelmoral des Rechtsstaates
Wir schreiben das Jahr 1986. Der «Ausbrecherkönig» Walter Stürm, wie er damals in den Medien genannt wurde, kurvte spektakulär durch die Walliser Gefängnisse, in denen ich zu dieser Zeit eine halbjährige Gefängnisstrafe wegen Militärdienstverweigerung absass. Ich bekam Stürm nicht zu Gesicht und teilte auch nicht seine Haltung gegenüber Staat und Gesellschaft. Dennoch gab es Gemeinsamkeiten.
Täglicher Spaziergang verweigert
Zurzeit läuft der Kinofilm «Stürm: Bis wir tot sind oder frei», der die Welt des Ein- und Ausbrechers Stürm und seiner Anwältin Barbara Hug eindrücklich schildert. Eines der Gefängnisse, das im Film nicht vorkommt, war das ehemalige Untersuchungsgefängnis in Sitten, das damals wohl berüchtigtste Gefängnis der Schweiz, weil dort die Gefangenenrechte gleich reihenweise mit Füssen getreten wurden. Genannt «Le château», das Schloss.
Im November 1986 reichte Stürms Anwältin Barbara Hug wegen des widerrechtlichen Strafregimes im Untersuchungsgefängnis in Sitten Strafklage gegen den damaligen Gefängnisdirektor ein. Stürm wurde einerseits an Wochenenden und andererseits während der verschärften Haftbedingung der «totalen Isolation» der rechtlich garantierte tägliche Spaziergang von einer Stunde verweigert.
24 Stunden Einzelhaft und Dunkelzellen
Die gleiche Erfahrung der verweigerten Spaziergänge im Walliser Strafvollzug machte im selben Jahr auch ich und reichte unter anderem deswegen im Februar 1987 gegen den damaligen Walliser Gefängnisdirektor ebenfalls Strafklage ein. Doch diese versandete in den Mühlen der Walliser Justiz, obwohl die aufgezählten Mängel im Walliser Strafvollzug weit über die in Stürms Strafklage beanstandeten hinausgingen.
Konkret: Mit zwei anderen Häftlingen hatte ich mich in der Strafvollzugsanstalt in Crêtelongue bei Siders geweigert, an den veralteten und gefährlichen Schreinereimaschinen zu arbeiten, nachdem einem anderen Häftling von einer Maschine ohne Schutzvorrichtung vier Finger abgehackt wurden. Zwei Monate später wurde meine Kritik an den mangelhaften Maschinen durch eine von mir verlangte Untersuchung der Schweizer Unfallversicherung (Suva) voll bestätigt. Zwei Dutzend Sicherheits-Mängel an den Schreinerei-Maschinen stellte der Suva-Experte fest und verlangte von der Gefängnisdirektion die sofortige Behebung.
Der Gefängnisdirektor fackelte nicht lange: 20 Tage Isolation barfuss in einer halbdunklen, kalten Kellerzelle, davon eine Woche lang, 24 von 24 Stunden, ohne die vorgeschriebene Stunde Hofgang. Anschliessend wochenlanges Steineausgraben im Dezember auf einem gefrorenen Acker. Ziel: psychisches und körperliches Einknicken. Weil dies misslang: Widerrechtliche Verlegung in eine Einzelzelle des Untersuchungsgefängnisses in Sitten. Auch dort widerrechtliche Verweigerung des einstündigen Hofgangs an Wochenenden. Zudem: Keine Not-Klingel und kein Gefängnisreglement.
Und noch schlimmer: Wie ich von anderen Häftlingen erfuhr, existierten menschenrechtswidrige, fensterlose Dunkelzellen im Untersuchungsgefängnis in Sitten und im Keller der Kantonspolizei in Sitten, die ich am 6. Dezember 1986 in einem Artikel im «Walliser Boten» anprangerte. (Siehe dazu: Tal des Schweigens: Walliser Geschichten über Parteifilz, Kirche, Medien und Justiz, Kapitel: Erinnerungen an die Strafkolonie)
Unerträgliche Doppelmoral des Rechtsstaates
Die Strafklagen gegen den Gefängnisdirektor und meine Berichte im «Walliser Boten» zwangen den damaligen Walliser Justizminister Richard Gertschen zur Rechenschaft gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit. Am 9. Februar 1987 nahm er auf einer ganzen Seite im «Walliser Boten» Stellung. Den illegal verweigerten Hofgang begründete er salopp mit dem Mangel an Personal:
«Bereits seit 1981 wird das Recht der Untersuchungsgefangenen und Verurteilten auf einen täglichen Spaziergang von 60 Minuten im Gefängnis von Sitten an Samstagen und Sonntagen nicht respektiert, und zwar aus Mangel an zur Verfügung stehendem Personal. Dieses Problem wird bestehen bleiben, solange der Bestand an Wächtern nicht erhöht wird.»
Der Staat als Wiederholungstäter und der Justizminister gibt den Segen. Die menschenrechtswidrigen Dunkelzellen erwähnte Gertschen mit keinem Wort. Sie wurden erst 1998 geschlossen, nachdem mehrere Expertenberichte deren Schliessung verlangt hatten (siehe dazu Infosperber: Als Militärverweigerer zu Besuch im Stasi-Gefängnis). In diesen fensterlosen Kellerzellen gab es kein Tageslicht, keine Lüftung und keine Notrufanlage. Fünf Jahre später starb in einer solchen Dunkelzelle ein 60-jähriger, asthmakranker Mann, der im Altersheim verdächtigt wurde, drei Büchsen Champignons gestohlen zu haben.
Der Rechtsstaat frönte damals einer unerträglichen Doppelmoral, die an dessen Glaubwürdigkeit nagte: Während er selbst gegen harmlose Delinquenten mit harter Hand vorging, drückte er bei den Strafmassnahmen – also bei sich selbst – grosszügig beide Augen zu.
Anti-Folter-Kommission rügt das Wallis bis heute
Seit dem Jahr 1986 sind 35 Jahre vergangen. Walter Stürm nahm sich 1999 in der Isolationshaft im Kantonalgefängnis Frauenfeld mit einem Kehrichtsack das Leben. Seine Anwältin Barbara Hug starb 2005 an Krebs.
Bis heute rügt die «Nationale Kommission zur Verhütung von Folter» in regelmässigen Abständen das ungenügende Haftregime in den Walliser Strafanstalten. Im letzten Bericht 2020 verlangte sie gar die Schliessung des Untersuchungsgefängnisses in Brig:
«Für die Kommission ergibt sich aufgrund der Feststellungen und der nicht umgesetzten Empfehlungen ein kritisches Gesamtbild, weshalb aus ihrer Sicht eine Schliessung des Untersuchungsgefängnisses Brig in Erwägung gezogen werden sollte.»
Affaires à suivre.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor sass vom 6. Oktober 1986 bis zum 6. Februar 1987 in der Strafvollzugsanstalt in Crêtelongue bei Siders und im Untersuchungsgefängnis in Sitten.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Nicht zu glauben! Mein Vertrauen in Behörden und Politiker zerfällt zusehends. Was massen wir uns an, von Anderen Menschenrechte einzufordern, wenn wir sie selbst unseren Bürgern nicht gewähren. Solche Akteure gehören von der Last ihres Amtes befreit, umgehend.
Man sollte es ähnlich machen wie in der EU. Dem Kanton Wallis werden alle Bundesmittel gesperrt, bis Rechtstaatlichkeit hergestellt worden ist. Man hatte genug Zeit, die Missstände zu beheben. Sanktionen sind überfällig!
Parlamentarier und Richter sollten per Los ‹gewählt› werden, dann wird es schwieriger für den Filz! – Macht wird missbraucht, nicht immer, aber immer wieder! Dagegen hilft nur Machtwechsel! Machtpositionen sind nach wenigen Jahren (zB 4 Jahren) zu wechseln: Amtzeitbeschränkung in den Machtzentren. Im Bund und Kanton (bei den Mächtigen). – Wann wird es genügend Stimmende geben, die merken, dass Gewählte mehr auf ihr Image und ihr Einkommen achten, als auf die faire Lösung, wenn sie wissen, dass ihr Einkommen bei der fairen Lösung gefährdert ist.