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Nacktwanderer © wikimedia

Bundesgericht bestraft trotz fehlender Strafnorm

Mireille Mata /  Das höchste Gericht wird von Strafrechtlern scharf kritisiert, weil es in einem Rechtsstaat keine Strafen ohne klares Verbot gibt.

Trotz Verurteilung muss ein 47-jähriger Appenzeller Nacktwanderer eine Busse von 100 Franken nicht zahlen, weil die Vollstreckung des Urteils verjährt ist. Das hat das Bundesgericht am 11. Februar 2014 entschieden, wie der «Tages-Anzeiger» berichtet.
Viel mehr Wellen wirft allerdings die Verurteilung durch das Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh. sowie in der Folge des Bundesgerichts auf. Letzteres hat der Nacktwanderer an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiter gezogen, wo ein Entscheid hängig ist.
In einem Rechtsstaat gilt der heilige Grundsatz, dass niemand für etwas gerichtlich bestraft werden kann, für das es keine klare Rechtsnorm im Strafrecht gibt.
Im Urteil von 2011 gaben die Bundesrichter selber zu, dass es in Sachen Nacktwandeln keine Strafbestimmung gibt:
«Das Fehlen einer Strafbestimmung, die ausdrücklich auch das Nacktwandern mit Strafe bedroht, lässt sich im Übrigen aus verschiedenen Gründen erklären, etwa damit, dass das Nacktwandern im Zeitpunkt der inkriminierten Tat noch neu war (…).»

Das Obergericht von Appenzell A.Rh. hatte den Nacktwanderer am 17. Januar 2011 wegen «unanständigen Benehmens» im Sinne von Art. 19 al. 2 des Gesetzes über das kantonale Strafrecht des Kantons Appenzell A.Rh. zu einer Busse von 100 Franken verurteilt.
Vor der Bestrafung eine Strafnorm
Wenn ein neues, als strafwürdig empfundenes Phänomen entstehe, müsse der Gesetzgeber zuerst eine entsprechende Strafnorm schaffen. «Es kann nicht angehen, dieses Prinzip mit unbestimmten Generalklauseln oder unbestimmten Blankettstrafnormen auszuhöhlen», erklärt Stefan Maeder, Strafrechtler an der Universität Freiburg, der das Urteil des Bundesgerichts im «Jusletter» analysiert hat – mit dem passenden Titel «Dem Legalitätsprinzip die Hosen heruntergelassen».
Den Kantonen stünde es frei, das Nacktwandern unter Strafe zu stellen: «Wenn schon ein Verbot des Nacktwanderns (oder anderer Nackt-Taten in der Öffentlichkeit) gewünscht wird, dann hat dies mittels einer Strafnorm zu geschehen, welche den Anforderungen von ’nullum crimen, nulla poena sine lege› (Keine Straftat und keine Strafe ohne gesetzliche Grundlage) genügt.»
Der lockere Umgang des Bundesgerichts mit diesem Legalitätsprinzip wecke «grosse Bedenken», schreibt Maeder. Welche Handlungen würden denn sonst noch alles allgemein unter «Sitte und Anstand» fallen? Strafrichter könnten alle Abweichungen eines «sozialmoralisch einwandfreien» Lebens bestrafen. Das Fazit des Strafrechtlers: «Ein derart kollektivistisches, sozialmoralistisches und konservatives Strafrecht scheint mir unhaltbar».

Urteil des Bundesgerichts vom 17.11.2011 BGE 138 IV 13

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13 Meinungen

  • am 9.03.2014 um 14:31 Uhr
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    Mit Verlaub – dies Thema ist angesichts der heutigen gesellschaftlichen Probleme fast noch gewichtiger als etwa Vegan-Obligatorien in Mensae, Curcuminversorgung von werdenden Müttern, Fussgängerstreifenächtung per Zebra, oder auch Genderquoten in Eishockeystadionkassierhäuschen.
    Als ob Strafrechtler Maeder ( Sein Fazit: «Ein derart kollektivistisches, sozialmoralistisches und konservatives Strafrecht scheint mir unhaltbar».) keine andere Sorgen haben könnte/sollte. Zudem gibt es – bin selber schon blutt rum gelaufen – einen ungeschriebenen Sittenkodex, nach dem sich das Bundesgericht auch halten kann.
    Mit Verlaub und verärgert

    Charles-Louis Joris
    Der Artikel hier ist lächerich, popanzig, unnötig, poliert bloss gesellschaftliche Nebengeleise auf Hochglanz.

  • Portrait.Urs.P.Gasche.2
    am 9.03.2014 um 15:01 Uhr
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    @ Joris . Es geht nicht darum, ob Nacktwandern einen Sittenkodex verletzt, oder ob Nacktwandern ein grosses Problem ist oder nicht. Sondern es geht um den in einem Rechtsstaat fundamentalen Grundsatz, dass die Justiz niemanden für etwas bestrafen darf, das laut Gesetz nicht verboten ist. Zum Glück ist es bei uns nicht erlaubt, jemanden zu büssen oder ins Gefängnis zu stecken, weil er einen «ungeschriebenen Sittenkodex» verletzt hat.

  • am 9.03.2014 um 15:21 Uhr
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    @Gasche
    Es gibt den Kodex zur Erregung öffentlichen Ärgernisses, der etwa bei öffentlich ausgefochtenem ( 😀 ) Geschlechtsverkehr angewandt wird. Das öffentliche Ärgernis ändert sich mit der Zeit und mit der Region; kann also nicht schriftlich kodifiziert werden.
    Zudem – und vor allem – dünkt mich weniger das Breitschlagen dieses Themas hier, das nicht mal in ruhigen Zeiten hundstäglicher Flaute gerecht würde, schlicht eine Lächerlichkeit. Ich habe ähnliche Lächerlichkeiten, die dann doch so viel Energie fressen und frassen, die wir für anderes bitter nötig hätten, oben aufgezählt. Als Linker und weiss Gott liberaler Geist geht mir so was auf den S….enkel. Es ist hier nicht das erste mal, dass liberale Grosszügigkeit in Koschenillenpiesackerei auf hohem Podium ausartet. Das an die Stirne tippende Unverständnis des grossen Publikums ist verständlich
    Nochmals:
    Mit Verlaub

  • am 10.03.2014 um 07:50 Uhr
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    Guten Tag miteinander. Das erregen öffentlichen Ärgernisses ist in meinen Augen ein Gummiartikel. Dieses Gesetzt macht Menschen zu Sklaven des emotionalen Erlebens Dritter, und kann auf alles angewendet werden. Dieses Gesetzt stammt aus Höhlenbewohnerzeiten, es gehört gestrichen. Gruss Beatus Gubler, Sozialarbeiter.

  • am 10.03.2014 um 09:02 Uhr
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    @Gubler
    Es sei Ihnen unbenommen, sich für die Abschaffung dieses Artikels zu verwenden. Vergessen Sie aber nicht, dass es hier nicht nur um soziale ethische Kontrolle geht. Und mit «Sklaven des emotionalen Erlebens Dritter» schiessen sie denn doch mal in den Ofen; jede Fernsehsendung , jedes Müttergekeife, jedes präventivmedizinische Abmahnen macht uns so zu Sklaven von uns allen, ja von uns selbst.

  • am 10.03.2014 um 09:20 Uhr
    Permalink

    @Joris. Natürlich, da haben Sie schon recht, den Artikel revidieren, wäre wohl besser formuliert. So dass er auch definiert, was sein darf, auch wenn es die ethisch moralischen Bedürfnisse einer oder mehrerer Personen nicht erfüllt. (Was dann ja den Ärger auslöst) und was nicht sein darf. Aber einfach «Erregung öffentlichen Ärgernis» ist einfach zu schwammig, damit könnte man, geschickt angewendet, ja alles und jedermann zu irgendwas verurteilen. Denn es gibt immer irgend jemand, der sich ob irgendwas ärgert, es könnte noch so gut sein. Gruss Beatus Gubler

  • am 10.03.2014 um 10:25 Uhr
    Permalink

    @Gubler
    Ich war mehrmals in Strafprozesse involviert, wo es vor allem um ähnlich subjektive Straftatbestände wie etwa Ehrabschneidung, Rufmord und ähnliches ging. Ich war froh, dass dem Richter vom Gesetz ein Ermessensspielraum zugebilligt worden war. Einer objektivierten Revision solcher Artikel seh ich mit einiger Skepsis entgegen. Ich empfehle Ihnen den im weitesten Sinne damit zusammenhängenden Roman «corpus delicti» von Juli Zeh. Er beschreibt eine über alles bis ins intimste alles obejektivierende, perfektionierte Horrorwelt der Zukunft.

  • am 10.03.2014 um 10:29 Uhr
    Permalink

    PS – im übrigen halte ich Nacktwandern im Gebirge an und für sich für einen ausgekochten Blödsinn, da es weder mit Gesundheit, noch mit freiem Ausdruck, noch mit Sport was zu tun hat.
    Es gibt denn auch keinen lächerlicheren Anblick, als Blüttler, die zuunterst mit schweren klobigen Bergschuhen versehen, durch die Welt lustwandeln – wenn schon, dann konsequent auch barfuss.

  • am 10.03.2014 um 10:53 Uhr
    Permalink

    PS – im übrigen halte ich Nacktwandern im Gebirge an und für sich für einen ausgekochten Blödsinn, da es weder mit Gesundheit, noch mit freiem Ausdruck, noch mit Sport was zu tun hat.
    Es gibt denn auch keinen lächerlicheren Anblick, als Blüttler, die zuunterst mit schweren klobigen Bergschuhen versehen, durch die Welt lustwandeln – wenn schon, dann konsequent auch barfuss.

  • am 10.03.2014 um 11:15 Uhr
    Permalink

    @Joris, Danke für den Hinweis. Das zweite ist Geschmacksache, der Anblick eines schönen Körpers kann eine Augenweise sein, aber auch Eifersucht wecken, wenn ihn man mit dem eigenen, vielleicht alten Körper vergleicht. Er kann aber auch amüsieren, wenn der eigene Körper besser aussieht, oder lehrreich sein, wenn es der Körper eines 70 Jährigen ist, und uns an unsere Vergänglichkeit erinnern. Den Naturfreund, welcher vielleicht die Natur als Oase der inneren Ruhe haben möchte, kann es wiederum stören, da es ihm oder ihr vielleicht nicht gefällt, etwas ungewohntes zu sehen, was ihn oder sie herausfordert, das Ereignis in Frieden mit sich selber einordnen zu können. Ich sehe es als Sozialarbeiter aus Sozio-Psychologischer Sicht. Damit alle zufrieden wären, könnte man ja Nacktwandergebiete einrichten, das würde auch den Tourismus fördern. Barfuss empfehle ich nicht, wegen der Verletzungsgefahr und den Suvakosten die so generiert werden könnten, und nicht nötig sind. Von Ärger lasse ich mich nicht leiten noch beeindrucken. Sondern unser Ärger will uns was sagen, das zählt für mich, unser Ärger hat mit unseren Bedürfnissen zu tun. Wofür es Lösungen und Kompromisse gibt, die nicht faul sind. So dass alle ihren Frieden haben. Gruss Beatus Gubler

  • am 17.03.2014 um 02:10 Uhr
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    Schmunzel einerseits, ärger andererseits, denn wohin soll dann mein Blick „wandern“ bei solch einer Begegnung ?
    OK, zum Boden hin ist das sinnvollste … aber der Mensch ist doch auch neugierig, also was passiert wirklich ? Es wird gemustert, gemessen, verglichen, und je nachdem entstehen Gefühle, Erregungen, Anregungen … smile.
    Irgendwie ganz gleichgültig lässt einem so was Ungewöhnliches doch nicht, seien wir ehrlich.
    Und da kommt der Punkt, ich unterstelle „denen“ dass die das „wollen“ ! Exhibitionisten eben, denn wie Joris es so schön sagt es hat … „weder mit Gesundheit, (und ich ergänze: Es droht höchstens einen schönen heilsamen Sonnenbrand …), noch mit freiem Ausdruck, noch mit Sport was zu tun“ … und da wären wir wieder beim Gesetzes Textes … „Erregung öffentlichen Ärgernis“ … und den finde ich Total angebracht dem ist doch nichts hinzuzufügen, oder sehe ich das falsch !

  • Portrait.Urs.P.Gasche.2
    am 17.03.2014 um 08:44 Uhr
    Permalink

    @Bruderer. Sie haben schon recht, das «Erregen eines öffentlichen Ärgernisses» ist strafbar. Deshalb wäre das Nacktwandern vor sechzig Jahren bestraft worden. Doch unterdessen sind die Gerichte zum Schluss gekommen, dass nackte Körper ohne Erregungszustand die meisten Menschen nicht mehr schockiert. Und auf das Empfinden der Mehrheit stellen die Gerichte ab.

  • am 17.03.2014 um 10:10 Uhr
    Permalink

    @Bruderer. Als eher ungenierte musternde pygä- und kolpophile Natur geht mein Blick sicher nicht auf den Boden oder zu den hoch oben auf Lärchen balzenden Lerchen 😉
    @Gasche. Die Erregung öffentlichen Ärgernisses ist und bleibt orts- und kulturabhängig. Ob denn die Gerichte nach den von Ihnen Kriterien überall so entscheideten, würde ich bezweifeln. Nacktwanderer sind bestenfalls unsensible Egoisten, die meinen, Ihr Denken sei global gültig, sind für mich nichts als strunzdumme Vorreiter einer kulturellen Mc-Donaldisierung der Welt. Dem Desaster wird nun – zum Beispiel in Palma de Mallorca – kräftig Gegensteuer gegeben.
    Ein Nacktwanderer im Rif-Gebirge würde m.E. zurecht mit, sagen wir mal 3 Jahren Knast, verurteilt – in marokkanischem Karzer….Und alsdann wartet der BLICK mit einer reisserischen Märtyrergeschichte auf.

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