Tyrannei stürzen

Nächtliche Projektion an eine Hochhauswand: «Die Tyrannei der Kommunistischen Partei stürzen.» © Qi Hong

Den chinesischen Überwachungsstaat vorgeführt

upg. /  Ein Aktivist platzierte Protestvideos und filmte mit versteckter Kamera die Reaktion der Überwacher. Für Millionen eine Lachnummer.

Bevor der 45-jährige Aktivist Qi Hong aus China floh, inszenierte er in der 30-Millionen-Stadt Chongqing eine aufwendige Ein-Mann-Demonstration gegen die Kommunistische Partei. Sie diente gleichzeitig als Performance-Kunst und machte die Überwacher zu unfreiwilligen Hauptdarstellern. 

Qi Hong bewies, dass Widerstand auch in einem der am strengsten überwachten Staaten der Welt nicht nur möglich, sondern mit etwas Einfallsreichtum auch unfreiwillig komisch werden kann.

Er projizierte Anti-Partei-Slogans auf ein Hochhaus – und entkam aus einem der am stärksten überwachten Länder der Welt, ohne gefasst zu werden. 

In seinem ersten Interview erzählte Qi Hong der «New York Times» von seinen Coup.

Freiheit
Nächtliche Projektion an eine Hochhauswand: «Die Freiheit ist kein Geschenk, hol sie dir.»

Um 22 Uhr beleuchtete in Chongqing eine grosse Projektion auf einer Gebäudefassade die Nacht mit Slogans, die das Ende der Herrschaft der Kommunistischen Partei forderten. «Stürze die Tyrannei der Kommunistischen Partei», lautete einer. Ein anderer verkündete: «Freiheit ist kein Geschenk, hol sie dir.»

Die Polizei brauchte volle 50 Minuten, um herauszufinden, woher die Projektion kam – aus einem Hotel in der Nähe – und um sie zu stoppen. Ein Armutszeugnis für einen Staat, der gern damit prahlt, jeden Winkel des Landes unter Kontrolle zu haben. 

Normalerweise wäre das das Ende solcher Proteste. Aber nicht in diesem Fall.

Einige Stunden später veröffentlichte der Aktivist ein Video: Fünf Polizisten stürmen das Hotelzimmer, hasten zum Fenster, finden den Projektor hinter einem halb geschlossenen Vorhang – und wirken dabei eher wie ungeschickte Hausmeister auf Patrouille.

Im Hotelzimmer
Chinesische Sicherheitsleute suchen im Hotelzimmer die Videokamera.

Während vier von ihnen hektisch am Gerät herumfummeln, entdeckt einer die Überwachungskamera, die auf sie selbst gerichtet ist, und zeigt überrascht darauf. Ausgerechnet die Männer des allsehenden Staates wirkten für einen Moment wie Figuren aus einer Slapstick-Komödie, ertappt im eigenen System.

Auf dem Couchtisch des Hotelzimmers hinterliess Qi Hong einen handgeschriebenen Brief: «Auch wenn Sie heute von diesem System profitieren, werden Sie eines Tages unweigerlich zu Opfern werden. Behandeln Sie die Menschen also bitte mit Freundlichkeit.» 

Am nächsten Tag legte Qi nach und veröffentlichte ein weiteres Bild einer versteckten Kamera: Polizeibeamte, die seine gebrechliche Mutter vor ihrem Haus befragen. Das Drama, das sich die Kommunistische Partei eigentlich sparen wollte, wurde so selbst zum Teil der Inszenierung – und zur Vorlage für Spott im Netz.

Als die Polizei anrückte, hatte Qi das Land bereits neun Tage zuvor verlassen. Er hatte die Projektion aus Distanz eingeschaltet und die Reaktion der Polizei von einem entfernten Ort in Grossbritannien aus aufgezeichnet. 

Das Regime suchte noch fieberhaft nach der Quelle, während der eigentliche Urheber gemütlich ausser Reichweite sass.

Die Technik, mit der die chinesische Regierung ihre Bevölkerung kontrollieren will, wurde ihr ausgerechnet von einem einzelnen Aktivisten zum Verhängnis. 

«Qi Hong hat die Polizei überlistet, die Staatsmaschinerie ausmanövriert – und sie konnten kaum etwas dagegen tun», sagte Li Ying, Betreiber eines einflussreichen X-Accounts. «Das war unglaublich cool.» Fast wie ein digitales David-gegen-Goliath – nur dass Goliath in diesem Fall noch über seine eigenen Füsse stolperte.

Die Videos verbreiteten sich viral. Allein ein Beitrag mit den projizierten Slogans wurde innerhalb von vier Tagen mehr als 18 Millionen Mal angesehen. 

Gegenüber der «New York Times» meinte Qi Hong: «Die Partei installiert Überwachungskameras, um uns zu beobachten. Ich dachte, ich könnte die gleiche Methode anwenden, um sie zu beobachten.» Dass dabei eine der wohl grössten Peinlichkeiten für die Überwacher entstand, war fast schon ein Bonus.

Viele im Internet bezeichneten ihn als Helden und bedankten sich. Einige Kommentatoren sagten, Qis Einfallsreichtum habe sie inspiriert. 

Qi, 1982 geboren und selbst lange Opfer staatlicher Schikanen, hatte sein Leben zwischen Armut, Gelegenheitsjobs und dem Aufbau eines kleinen Geschäfts verbracht, bevor er sich politisch immer mehr radikalisierte. 

Über Jahre sammelte sich sein Unmut, bis er schliesslich im August die Gelegenheit ergriff. Er wählte sein Hotel, probte die Technik mit Projektionen harmloser Sätze wie «Sei gesund» und «Sei glücklich» und zog dann rechtzeitig mit seiner Familie ausser Landes. 

Der Staat schlug zurück, nahm Verwandte und Freunde ins Visier, verhörte seine Mutter. Doch all das wirkte fast verzweifelt – wie ein Regime, das auf eine digitale Nadel mit einem Vorschlaghammer reagiert.

Eines hat Qi mit seiner Aktion unwiderruflich erreicht: Der Überwachungsstaat, der sonst vor allem Angst verbreitet, wurde für einen kurzen Moment zur Lachnummer – und die Welt lachte mit.


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Keine
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