Wolfgang_Hafner

Ein patriarchal-autoritäres System ermöglichte Zwangseinweisungen (Aufmacherbild zu Wolfgang Hafners Beitrag zu den Zwangseinweisungen, siehe unten) © Lorenz Meier

Infosperber-Autor Wolfgang Hafner ist verstorben

Red. /  Viel zu früh – mit 72 Jahren – ist der Historiker und Publizist Wolfgang Hafner einem Krebsleiden erlegen.

Er war immer ein genauer Beobachter, ein kritischer Geist und ein guter Schreiber. Sein persönliches Interesse und sein öffentliches Engagement galten vor allem sozialen Themen. Und er hätte gerne noch für eine gerechtere Welt weitergekämpft. Jetzt trauert die Redaktion Infosperber um ihren Kollegen Wolfgang Hafner, der auch viele Beiträge für Infosperber geschrieben hat. (cm)

Die Todesanzeige der Hinterbliebenen kann hier eingesehen werden (hier anklicken).

Zur Erinnerung an Wolfgang Hafner hier ein Beitrag, den er Anfang Mai 2016 für Infosperber geschrieben hat:


Gefühle, Rituale, Einzelschicksale statt Analysen

Bei Wiedergutmachung ohne Reflexion sozialer Kontexte und ohne strukturelle Veränderungen droht die Wiederholung von Heimgeschichten.

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Wolfgang Hafner

Am Anfang stand ein vielversprechendes, symbolbeladenes Ritual, das einem Repräsentanten der benachteiligten Heimkinder das Recht auf Entgegennahme der Entschuldigung von Bundesrätin Sommaruga zugestand. Nach diesem Ritual wurden wiederum verschiedene «Einzelfälle» veröffentlicht, welche eine unglückliche Kindheit oder Missbräuche etc. von Verding- oder in Heimkindern illustrierten. Und nach dem nationalrätlichen Entscheid vorletzte Woche scheint es, als ob den Betroffenen eine Entschuldigung in materieller Form zugestanden wird. Auch bei diesen Diskussionen in der grossen Kammer dominierten vor allem Einzelschicksale und das Gefühl der Betroffenheit. Von einer Analyse der Strukturen, welche die Grundlage für all das, was unter dem Begriff «düsteres Kapitel der Sozialgeschichte» subsummiert wird, war nie die Rede. Letztlich war der schweizerische Lokalismus, der sich laut dem Historiker Erich Gruner «wie ein gesellschaftliches Zwangssystem auswirkte», nie ein Thema. 

Im Namen der Nächstenliebe

«Sich schuldig fühlen», ist ein Gefühl. Es war Teil der Kampagne zur Wiedergutmachungsinitiative, dieses Gefühl der moralischen Verantwortung bei den Menschen, die auf der «schönen» Seite lebten und leben, hervorzurufen. Guido Fluri, Initiant der Wiedergutmachungsinitiative, meinte kürzlich in einem Tages-Anzeiger-Interview: Er sei im Heim gewesen, könne aber nicht sagen wie lange, «aber doch lang genug, dass es eine prägende Zeit für mich war». Flankiert wird diese Aussage des dank Immobilienspekulationen zum mehrfachen Millionär gewordenen Fluris mit dessen Bekenntnis zur Nächstenliebe: «Ich lebe nach den Evangelien und glaube an christliche Werte wie die Nächstenliebe.»
Dabei wurden genau diese christlichen Werte wie «Nächstenliebe» zur Zeit der Heim- und Verdingkinder als Rechtfertigung für Züchtigungen und Schläge missbraucht. Im Rahmen des damaligen patriarchal-autoritären Regimes wurde vor allem im Namen der Nächstenliebe geprügelt. Es waren die Gefühle und Impulse der in der dörflichen Gesellschaft Herrschenden, welche für Versorgungen den Ausschlag gaben. Sie waren dafür verantwortlich, dass entsprechende Strukturen aufgebaut wurden. Dabei war das gefühlte «sittlich richtige» Verhalten immer viel wichtiger als die politische Positionierung einer Person und deren Ansichten: Bürgerlich-anständig war das Programm, und wer den ökonomischen Aufstieg dank politischer Karriere, Spekulation etc. geschafft hatte, war als Gesprächspartner akzeptiert und wurde ernst genommen. 

Keine Infragestellung des gesellschaftlichen Hintergrundes der «düsteren Zeiten»

Die Gültigkeit bestimmter gesellschaftlich definierter und ausschliessender Normen wird auch heute nicht hinterfragt. Eine Kritik der gesellschaftlichen Strukturen, welche diese Normen hervorbrachte und hervorbringt, gibt es nicht. Es sind diese Normen, welche die Strukturen und das Verhalten der Verantwortlichen bestimmen. Fragen, wie etwa ein gesellschaftlich-politisches System oder nur schon das Leben in einem Heim ausgestaltet werden muss, damit sich diese «düsteren» Zeiten nicht mehr wiederholen, werden kaum gestellt. Dabei gibt es durchaus Ansätze, welche, von einer historischen Perspektive ausgehend, Diskussionen um eine demokratische Pädagogik eröffnen könnten. Autoritär-patriarchale Verhältnisse sind Ausdruck eines spezifischen gesellschaftlichen Selbstverständnisses, das auch überwunden werden kann. Losgelöst von den starren Regeln war (und ist) vieles auch unter misslichen Umständen möglich. 

So hat etwa der Arzt Janusz Korczak einen pädagogischen Ansatz in der schwierigen Umgebung des Warschauer Ghettos entwickelt, der sich durch die starke Betonung der Rechte des Kindes sowie die ständig präsente Selbstkritik des Erziehers von anderen Systemen grundsätzlich unterscheidet. Im Zentrum seines Ansatzes steht der Verzicht des Erziehers auf die Ausübung von Macht sowie die Forderung nach Transparenz. Korczak trat für den Schutz der Kinder ein, der unabhängig von den Gefühlslagen der Leitungspersonen erfolgen sollte. So solle den Kindern kein Unrecht geschehen, «nicht weil er (der Heimleiter) sie gern hat oder liebt, sondern weil eine Institution vorhanden ist, die sie gegen Rechtlosigkeit, Willkür und Despotismus des Erziehers schützt». 

Da es diese Diskussionen um strukturelle Faktoren im Zusammenhang mit der Wiedergutmachung nie gab und immer Einzelschicksale im Vordergrund standen, besteht die grosse Gefahr, dass weder bei den Verantwortlichen noch in den Institutionen ein Lernprozess einsetzt noch die Gesellschaft strukturelle Vorkehren trifft, um eine Wiederholung von «düsteren Kapiteln» zu verhindern. Es besteht bloss Ratlosigkeit. Und ob ein wissenschaftliches Programm, dessen allfälligen Resultate lange nach der praktisch ausschliesslich gefühlsbetonten Diskussion publiziert werden, überhaupt noch öffentliche Relevanz hat, ist mehr als fraglich.

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PS: Offensichtlich hat Wolfgang Hafner auch seinerseits Infosperber sehr geschätzt. Die Redaktion ist gerührt und dankbar, dass unter der Trauerkarte für eventuelle Spenden die Infosperber-Stiftung SSUI eingesetzt ist: SSUI, Jurablickstrasse 69, 3095 Spiegel b. Bern, IBAN CH03 0900 0000 6045 7558 1, Vermerk: Wolfgang Hafner.

Am Montag, 2. August, hat auch die Solothurner Zeitung einen Nachruf auf Wolfgang Hafner publiziert:

Zum Tod von Wolfgang Hafner

«Wenn du im Thal aufgewachsen bist, so lässt dich diese Gegend dein ganzes Leben nicht mehr los», hiess ein Buch, das er 1981 veröffentlichte. Es galt auch für ihn persönlich; publizistisch kehrte er immer wieder in seine alte Heimat zurück. «Dort oben die Freiheit» (2005) wurde ebenso zu einem Wanderbuch wie einem intellektuellen Streifzug durch den Jura. Es war auch eine Liebeserklärung an den Landstrich.

Geboren wurde Hafner 1949 in Balsthal, wo er mit drei Geschwistern aufwuchs. Dass einer seiner Brüder der Politiker Rudolf Hafner ist, der in den 1980er-Jahren den Berner Finanzskandal aufdeckte, war vielleicht nicht ganz zufällig: Beides unbestechliche, freie Denker mit klarem Kompass, scheuten sie sich nicht, im Dienst der Sache notfalls anzuecken. Eine Debatte löste Hafner etwa 2012 mit einem Buch zur jüngsten Wirtschaftsgeschichte des Kantons Solothurn aus. Der Historiker suchte nach den Gründen für den Niedergang der Solothurner Industrie und grosser Namen wie Bally, Ascom, von Roll. Hafner vertrat die These, dass letztlich die konfliktscheue und zu konsensorientierte Solothurner Mentalität zu Reformunfähigkeit und Selbstgenügsamkeit geführt haben. Es war für ihn typisch: Er mochte es, Sachen neu zu denken und Debatten anzustossen. Neben den wirtschaftlichen Fakten nahmen in seinen Werken der soziale Kontext sowie der Einfluss von Milieus und Mentalitäten einen wichtigen Platz ein. Solothurn machte allerdings nur einen kleinen Teil seines Schaffens aus: Er beschäftigte er sich in seinen Büchern mit Finanzderivaten und Geldwäsche ebenso wie mit Fremdplatzierungen.

Hafner hinterlässt eine Frau und einen Sohn. In seinem Wohnort Windisch (AG) mischte er sich kritisch in die Verkehrs- und Raumplanung ein.

Wer oft kritisiert, der kann als Nörgler gelten. Die Gefahr bestand bei Wolfgang Hafner nicht. Zu inspirierend und intellektuell fundiert waren seine Gedanken. Vor allem aber hatte Hafner die Menschen gern, mit denen er sich auseinandersetzte.

Lucien Fluri 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Eine Meinung zu

  • am 29.07.2021 um 12:32 Uhr
    Permalink

    Mein Mitgefühl mit den Hinterbliebenen. Er hatte sich für gute Werte eingesetzt, für Heimkinder und «Staatlich administrativ Versorgte» Ich war auch im Kinderheim, ich kenne die Brutalität von Heimen sowie die gutbürgerliche hinter den Fassaden mit schönen Blumen auf dem Fenstersimms. Bei mir hat sich von offizieller Seite nie jemand entschuldigt. Doch wichtiger ist es, dass diese Missstände beendet wurden.

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