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Der EGMR verurteilt Frankreich zur Zahlung von 30'000 Euro – weil ein Verhafteter starb. © pixabay

Frankreich: 30’000 Euro für ein Menschenleben

Tobias Tscherrig /  Frankreichs Polizei wendet einen verbotenen Polizeigriff an – obwohl dieser auch zum Tod von Verhafteten führt. Der nächste Fall.

Am 21. Juni ist Frankreich einmal mehr vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für einen Tod infolge von Polizeigewalt verurteilt worden. Der Gerichtshof stellte eine Verletzung des zweiten Artikels der europäischen Konvention für Menschenrechte (Recht auf Leben) fest. Frankreich muss deshalb 30’000 Euro moralischen Schadenersatz an die Tochter eines Mannes zahlen, der kurz nach seiner Festnahme verstorben ist. Das meldet das französische Online-Portal mediapart.

In Frankreich starben bereits mehrere Menschen infolge von Polizeigewalt bei Verhaftungen. Oft, weil die Polizei die Verdächtigen mit einem eigentlich verbotenen Polizeigriff fixiert. Die fehlbaren Polizisten werden von der französischen Justiz aber nur in den wenigsten Fällen belangt.

Brutale Verhaftung und Abtransport
Am 9. Juli 2009 war der 69-jährige Ali Ziri zusammen mit seinem Freund Arezki Kerfali in der französischen Gemeinde Argenteuil unterwegs. Die Beiden hielten sich für einige Tage in Frankreich auf, um Hochzeitsgeschenke für Ziris Sohn zu kaufen. Nach der Einkaufstour gönnten sich Ziri und sein Freund einige Gläser Alkohol.

Anlässlich einer Strassenkontrolle wurden auch Ziri und Kerfali kontrolliert. Der alkoholisierte Ziri sass auf dem Beifahrersitz und widersetzte sich den Polizisten, diese setzten Gewalt ein. Drei Polizisten «falteten» den Rentner zusammen, dann fesselten sie seine Hände auf dem Rücken. Sie verluden ihn in das Polizeifahrzeug und fixierten ihn: gefesselte Hände, den Kopf zwischen den Knien. Ziri erbrach mehrmals.

Vor dem Polizeirevier «luden» die Polizisten ihren Verhafteten ab. Die ehemalige nationale Kommission der Pflichtethik in der Sicherheit (CNDS) hatte sich die Überwachungsbänder der Szene angeschaut. Sie beschreibt die Situation: «Ali Ziri wurde buchstäblich aus dem Fahrzeug geworfen (…), dann befassten sich die Polizisten mit ihm.» Ziri sei auf den Boden gedrückt und dann ins Innere des Polizeireviers gebracht worden: mit baumelndem Kopf, ohne sichtbare Reaktion.

«Das Erbrochene mit dem Kopf des Mannes aufwischen»
Im Inneren des Postens blieben die beiden Männer gefesselt. Sie begannen stossweise zu erbrechen und wurden auf den Boden gelegt. Manche der anwesenden Polizisten bezeugen, die beiden Verhafteten seien auf den Rücken gelegt worden. Andere sagten aus, sie hätten auf dem Bauch gelegen, weitere anwesende Polizisten wollen die seitliche Bewusstlosenlage gesehen haben.

Die Polizisten begannen, zwei Klagen gegen Ali Ziri und Arezki Kerfali zu verfassen. Eine wegen Beleidigung, die andere wegen Aufstand gegen die Staatsgewalt. Dazu brauchten sie rund eine Stunde und 15 Minuten. Während dieser Zeit blieben die Verhafteten – trotz ihrem desolaten Zustand – unbeaufsichtigt.

In ihrem Rapport aus dem Jahr 2010 bemängelt die CNDS, dass die beiden Verhafteten während über einer Stunde sich selbst überlassen wurden und sogar im eigenen Erbrochenen, auf dem Boden liegend und mit gefesselten Händen, befragt wurden – während alle anwesenden Polizeifunktionäre ihre verzweifelte Lage beobachten konnten. Die CNDS wertete diesen Umstand als unmenschlich und degradierend.

Ein junger Polizeibeamter sagte aus, er sei im Polizeiposten Zeuge eines schockierenden Vorfalls geworden. «Einer der Polizisten kam zu diesem Mann (Arezki Kerfali) und stellte ihm seinen Fuss auf den Kopf. Er sagte ihm: „Das wirst du wegwischen.“ Dann bewegte er den Kopf des Gefangenen, indem er mit dem Fuss Druck ausübte, wie man es mit einem Wischmopp machen würde. Es war, als wollte der Polizist das Erbrochene mit dem Kopf des Mannes aufwischen.» Keiner der beteiligten Polizisten wurde je zu dieser schlimmen Anschuldigung befragt.

Eineinhalb Stunden nach seinem Eintreffen im Polizeiposten war Ziri nicht mehr bei Bewusstsein. Er wurde ins Spital verlegt, wo er nach zwei Tagen an Erstickung starb.

Mehrheit der Experten sehen Fixierung als Todesursache
Bei einer ersten Untersuchung von Ziris Körper stellte ein Kardiologe eine bis dahin nicht bekannte Vergrösserung der Herzhöhlen fest. Zwei weitere Expertisen beschuldigten dann aber die polizeiliche Technik zur Fixierung des Verhafteten als Todesursache.

«Die letzten zu Rate gezogenen Experten äusserten die Hypothese, dass die Fixierungsmethode (…) ebenfalls einen Einfluss auf seinen Tod hatte», schrieb der Generalstaatsanwalt von Rennes 2014 in einer Mitteilung. Im Ermittlungsverfahren sei aber auch festgestellt worden, dass es keinen sicheren Rückschluss auf die Todesursache gebe. Man bewege sich im Bereich von abweichenden Schlussfolgerungen und Hypothesen.

Die ehemalige Direktorin des gerichtsmedizinischen Instituts von Paris kam zu klar anderen Schlüssen. Demnach ist Ziri wegen eines Herzanfalls gestorben, der aufgrund von Sauerstoffmangel ausgelöst wurde, der wiederum durch Druck auf den Rücken, auf die Seite und durch das häufige Erbrechen begünstigt wurde. Bei der Autopsie von Ziris Körper wurden unter anderem auch über zwanzig Hämatome gefunden.

Eine dritte Expertise vom 15. April 2011 bestätigte, dass der Herzstillstand mit der Fixierung von Ziri und seinem Erbrechen zusammenhängt.

Französische Justiz stellt Verfahren ein

Trotzdem stellte die französische Justiz das Verfahren gegen die drei Polizisten ein –ohne dass die Richter die beteiligten Polizisten und die anwesenden Zeugen je befragt hatten. Die Richter empfanden es ausserdem als unnötig, sich die Bänder der Überwachungskameras aus der Polizeistation anzusehen.

Die verbotene Fixierungstechnik, welche die Polizisten angewandt hatten, fiel ebenfalls unter den Tisch. Sie ist in Frankreich verboten, seit im Januer 2003 ein Äthiopier bei seiner Ausschaffung durch die französische Grenzpolizei starb. Der 23-Jährige musste während 20 Minuten mit gebeugtem Torso, den Kopf zwischen den Knien und mit gefesselten Händen im Flugzeug sitzen. Zusätzlich schnallten ihm die Polizisten den Sicherheitsgurt des Flugzeugs eng um den Körper.

Auf diese Art wurde Ziri bei seinem Transport zur Polizeistation gefesselt. Die drei involvierten Polizisten gaben zu, diese Technik angewandt zu haben. Sie mussten sich nie dafür verantworten.

EGMR korrigiert Urteil nur teilweise

Hinsichtlich der Gewaltanwendung durch die Polizei sagt der Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass ein Zusammenhang zwischen der Ruhigstellung von Ziri und seinem Sauerstoffmangel nicht ausgeschlossen werden könne. Allerdings sei nicht sicher, ob ein direkter Zusammenhang bestehe.

Im Gegensatz zur französischen Justiz kommt der EGMR aber zum Schluss, dass «die Polizisten den Zustand von Ziri bei seiner Ankunft auf dem Polizeiposten nicht ignorieren konnten». So habe es sich beim Verhafteten um einen 69-jährigen Mann in alkoholisiertem Zustand gehandelt, der sich bei seiner Ankunft auf dem Posten erbrochen und Schwierigkeiten gehabt habe, sich aufrecht zu halten. Ausserdem sei Ziri bei seiner Verhaftung, seinem Transport und beim Ausladen aus dem Fahrzeug brutal behandelt worden. Zusätzlich habe er unter der Fixierung gelitten, von deren Gefährlichkeit die Polizisten mit Sicherheit gewusst hätten.

Der EGMR hält in seinem Urteil fest, dass die Verpflichtung zur Wachsamkeit, welche die Behörden gegenüber Privatpersonen berücksichtigen müssen, verletzt wurde. Ziri sei in seiner Zelle liegen gelassen worden – in seinem Erbrochenen, die Hände auf dem Rücken gefesselt, ohne Pflege und medizinische Überwachung.

Hinsichtlich der juristischen Untersuchung in Frankreich hält der EGMR nur «punktuelle Lücken» fest. Die Familie von Ziri und ihr Anwalt bemängeln dagegen seit Jahren die Abwesenheit einer «wirklichen Untersuchung». Sie sagen, dass die Richter im Ermittlungsverfahren nicht alle Umstände berücksichtigt haben, die zum Tod von Ali Ziri geführt hatten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

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