Kommentar

kontertext: Vatername und Vaterland

Nika Parkhomovskaia, Inna Rozova © zvg

Nika Parkhomovskaia / Inna Rozova /  Die russische Aggression gegen die Ukraine hat Voraussetzungen. Patriarchat und (Anti-)Feminismus gehören dazu.

Im November 2023 erhielt die russische Schauspielerin Maria Wladimirowna Maschkowa die amerikanische Staatsbürgerschaft und kündigte ausserdem an, dass sie den Namen ihres Vaters von nun an nicht mehr verwenden wolle. Diese Tatsache wurde in der russischen Presse breit diskutiert. Man warf ihr vor, ihr Vaterland und ihren Vater verraten zu haben. In der Tat schien ihre Geste ein starkes Symbol zu sein angesichts der Tatsache, dass ihr Vater, Wladimir Maschkow, ebenfalls ein berühmter Schauspieler, einer der ersten Prominenten war, der den Krieg gleich zu Beginn im Februar 2022 öffentlich unterstützte. Indessen hat die Weigerung, den Vaternamen zu benutzen, nicht wirklich etwas mit Verrat oder persönlicher Rache zu tun, wie die Propaganda es darzustellen versucht, sondern viel mehr mit der Ablehnung bestimmter Werte – unter anderen der patriarchalen.

Ja, die Oktoberrevolution, aber…

Das russische Patriarchat hat seine ganz besonderen Merkmale, die mit der Geschichte des Staates und der Gesellschaft zusammenhängen. Die Oktoberrevolution verschaffte den Frauen gleiche Rechte und Chancen: im Wahlrecht, in der Bildung und im Arbeitsleben. Doch wie so oft in der Sowjetunion wurde das, was in der Verfassung stand, in der Praxis nicht umgesetzt. Frauen waren in den Führungspositionen viel weniger vertreten, sie hatten keine wirkliche Macht und trafen keine Entscheidungen darüber, wie das Land entwickelt werden sollte. Ausserdem wurden sie in der Realität nicht gleich bezahlt wie Männer. Auch gab es einerseits offizielle Verbote für einige Berufe (Bus- oder Bahnfahrer, Piloten, viele militärische Positionen), und andererseits waren Frauen inoffiziell in sehr vielen Bereichen einfach nicht willkommen, angefangen bei Theater-/Filmregie und Orchesterleitung bis hin zu akademischer Wissenschaft und Diplomatie. Natürlich gab es einige Ausnahmen, aber sie bestätigten nur den allgemeinen Trend und dienten als Deckmantel, der verhinderte, dass das Problem in seiner ganzen Tiefe wahrgenommen wurde.

Die Ungleichheit war sogar noch grösser, da die Frauen mit der Hausarbeit und den Kindern beschäftigt waren und dies als selbstverständlich angesehen wurde. 1917 wurde der Slogan «Lasst uns die Frauen von der sklavischen Hausarbeit befreien» recht populär, aber nach dem Zweiten Weltkrieg geriet er völlig in Vergessenheit und eine Periode des allgemeinen Rückschritts begann: Die wenigen Männer, die den Krieg und Stalins Repressionen überlebt hatten, verdienten Geld, und die Frauen mussten sich um sie kümmern. Selbst wenn einige der Frauen diese Situation als inakzeptabel empfanden, hatten sie keine Möglichkeit, dies öffentlich zu äussern. Man glaubte, die UdSSR sei ein geradezu idealer Ort ohne Schatten und der gegenwärtige Stand der Dinge sei der einzig mögliche. Die meisten Menschen, die bereit oder in der Lage waren, das System zu kritisieren, wurden in den 1930er-Jahren verhaftet und umgebracht, und jeder Protestversuch wurde verunmöglicht. Das galt insbesondere für Frauen, die zu einer gesellschaftlich unterdrückten Gruppe wurden.

Leittiere allüberall

Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass das Land hinter dem «Eisernen Vorhang» lebte und von den Ideen des Feminismus, die sich seit den 1960er Jahren im Westen entwickelten, getrennt war. Natürlich konnte diese Trennung nicht hundertprozentig sein, und manchmal wurden Frauen in der Sowjetunion von westlicher Ideologie, Mode oder von Innovationen im Alltagsleben beeinflusst – aber das waren meist Frauen in den Hauptstädten und in bestimmten sozialen Schichten. Ihr Protest war eher «informell» und zeigte sich in Dingen wie Kleidung, Haarschnitt, Rauchen und Trinken auf Augenhöhe mit den Männern. Aber im Allgemeinen war die Sowjetunion ein Land mit einer ungeheuer starken Hierarchie: Der Staat wurde von der kommunistischen Partei regiert, und die Familie wurde von einem Mann geführt, der auch «Haushaltsvorstand» genannt wurde. Die Situation in den Familien begann sich erst zu ändern, als sich die Lage im ganzen Land in den 1990er-Jahren verbesserte.

Die allgemeine Demokratisierung der Gesellschaft und die neuen Möglichkeiten, die sich eröffneten, führten zu einer Stärkung des Selbstbewusstseins der Frauen. Dies geschah sowohl durch den ausländischen Einfluss als auch durch die Tatsache, dass Frauen mehr verdienten und oft die einzigen oder wichtigsten Ernährerinnen wurden, weil viele Männer entlassen wurden und ihre Arbeit verloren. Schliesslich eröffneten Frauen auch kleine und grosse Unternehmen, und allmählich veränderte sich ihre Stellung in der Gesellschaft. Auch waren die Wahlen mit der Zeit keine inhaltslose Formalität mehr: Frauen bekamen die Möglichkeit, für sich selbst zu kandidieren oder sogar politische Parteien anzuführen wie Irina Hakamada von der «Union der Rechten Kräfte» oder Galina Starowoitowa und Waleria Nowodworskaja, die beide in den 1990er Jahren sehr einflussreiche Politikerinnen waren. Je mehr sich Russland veränderte, desto sichtbarer wurden die Frauen, unter ihnen Feministinnen, Lesben, Kinderlose, von denen viele die Idee des Patriarchats bekämpften. Nach und nach wurde eine neue Generation geboren: nicht unbedingt Frauen, sondern auch Männer, die im Ausland oder an liberalen Universitäten in Russland studierten, Psychologen aufsuchten und die neuen progressiven Bücher lasen – sie hatten eine andere Vorstellung von einer idealen Welt ohne Hierarchien.

Führer im Frieden und im Krieg

Natürlich konnten Ideen, die sich über Jahrzehnte herausgebildet hatten, nicht so schnell verschwinden. Es gab eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Gruppen, die vom bisherigen Status quo profitierten: Erstens Männer, die beruflich nicht viel erreicht hatten, aber ihren Einfluss in der Familie nicht verlieren wollten. Zweitens Menschen (sowohl Männer als auch Frauen), die in hierarchischen Strukturen wie dem öffentlichen Dienst, der Armee und dem Sport tätig waren – Strukturen, die oft nach dem Modell der Armee aufgebaut waren. Drittens Frauen, die mit der zutiefst falschen Vorstellung aufgewachsen waren, dass die Männer sie aushalten müssten, weil sie schwach seien und nur eine hübsche Dekoration des Lebens darstellten. Verwandt damit ist die Auffassung, Frauen seien schüchterne, willensschwache Wesen, deren Platz in der Küche sei, umgeben von Kindern. Diese Aussage wird vor allem von der russisch-orthodoxen Kirche unterstützt, die in den letzten Jahren enorm an Einfluss gewonnen hat – kein Wunder, denn auch diese Kirche ist auf dem Prinzip der Hierarchie mit dem Patriarchen-Vater an der Spitze aufgebaut.

Leider hat diese Denkweise, die auf der Vorstellung beruht, dass Menschen in Kategorien eingeteilt werden sollten, dazu beigetragen, die russische Aggression gegen die Ukraine mental vorzubereiten. Das patriarchalische Bild vom Vater als Leittier an der Spitze der Familie wird auf die gesamte Struktur des Staates übertragen. Oftmals können die Bürger nicht einmal daran denken, zu kritisieren oder zu protestieren, da selbst im Privatleben die Vorstellung vorherrscht, dass das Familienoberhaupt immer Recht hat. Putin und seinesgleichen haben Angst vor Frauen und versuchen alles, um ihre Rechte einzuschränken und sie abhängig zu machen, weil der Kampf gegen das Patriarchat und der Feminismus die Vorstellungen von Hierarchie untergräbt und ihre Macht bedroht. Dutzende von weiblichen politischen Gefangenen befinden sich in Haft (eine von ihnen, Sacha Skochilenko, wurde gerade wegen einer unschuldigen Anti-Kriegs-Performance mit Supermarkt-Preisschildern zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt), und der Ruf nach diskriminierenden Gesetzen wird immer lauter. Abtreibungen sind in einer Reihe von Privatkliniken bereits verboten, und es gibt Abgeordnete, die diese Verbote flächendeckend einführen wollen. In letzter Zeit wurde die Frage des Zugangs von Frauen zur Hochschulbildung breit diskutiert. Inzwischen haben einige russische Feministinnen vorgeschlagen, den Namen der Mutter anstelle des Vaters zu verwenden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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3 Meinungen

  • am 12.12.2023 um 12:05 Uhr
    Permalink

    «Inzwischen haben einige russische Feministinnen vorgeschlagen, den Namen der Mutter anstelle des Vaters zu verwenden.»

    Echte Wahlfreiheit , nicht nur die Namensgebung betreffend, halte ich für angesagt.
    Das gilt auch für den «Wertewesten».

  • am 12.12.2023 um 12:35 Uhr
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    Das war bei uns bis vor wenigen Jahrzehnten auch so und ich sehe nicht, was das mit dem Ukrainekrieg zu tun haben soll. Auch die Geschichte mit der Namensänderung kann ich nicht nachvollziehen.

  • am 12.12.2023 um 12:43 Uhr
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    Mit Verlaub, Patriarchat hin oder her; das hat nichts mit internationaler Großmachtpolitik und militärischen Interventionen zu tun. Auch eine feministische Lesbe ist kein besserer Mensch wenn sie am geostrategischen Schachbrett sitzt. Viele Russen sind einem konservativen Familien- und Frauenbild verhaftet, 25% der Einwohner der RF sind gar Muslime mit oft sehr strengen Ansichten – das mag uns mißfallen und auf Unverständnis stoßen – aber es ist ihre Lebensweise. Russland ist dennoch eines der wenigen Länder mit einer starken weiblichen Tradition in den Streitkräften, Führungskräften und technischen Berufen – auch wenn die realsozialismustypische Doppelbelastung als Berufstätige, Hausfrau und Mutter zu großer Kritik berechtigt.

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