Kommentar

kontertext: Die Sichtbarkeit des Alters

Johannes Kaiser ©

Johannes Kaiser /  Eine alte Frau schreibt über alte Frauen, die noch etwas wollen vom Leben, auch Sex.

Sie gelten als liebvolle, behütende Omas, etwas vergessliche, leicht demente Seniorinnen, asexuelle Alte. Welch ein Irrtum. Auch sie verspüren noch Lust, sehnen sich nach körperlichem Kontakt, wissen sogar Sex als Waffe einzusetzen. Das jedenfalls erzählt uns die englische Schriftstellerin Jane Campbell in 13 Geschichten in ihrem jetzt auf Deutsch erschienenem Debüt Kleine Kratzer.

Zum Beispiel die Erzählung «Edelmut»

Diese Geschichte handelt vom achtundsiebzigjährigen Leo, einst ein erfolgreicher Chirurg. Er flaniert jeden Tag in einem kleinen englischen Küstenort mit seinem hässlichen Monster von Hund am Strand entlang. Arrogant, von sich überzeugt, ein Frauenheld. Die Erzählerin, gleichaltrig, Kategorie, «abgetakelte Fregatte» (so ihre eigene Einschätzung) hasst den, wie sie empfindet, «unfair großgewachsenen, gutaussehenden» Mann, den «unfair mit Schönheit, Gesundheit und Reichtum beschenkten». Für sie ist er ein absolutes «Arschloch», nicht zuletzt, weil er seine kleine dumme Frau Mattie tyrannisiert und hemmungslos in der Gegend rumhurt. Als Mattie ins Krankhaus muss, beschließt die Ich-Erzählerin, den Mann zu verführen und zu bestrafen. Sein Hund kommt ihr gerade recht. Skrupellos entwickelt sie einen abgefeimten, tückischen Plan, freut sich über sein Gelingen.

Nein, so stellt man sich keine alte Frau vor. Sie ist eine von 13 Frauen, die sich nichts einfach gefallen lassen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und ihr Ende selbst bestimmen. Sie kämpfen um ihre Selbstbestimmung, selbst wenn sie im Krankenbett liegen. Es sind selbstbewusste alte Frauen, die sich zu wehren wissen, ihre Träume nicht aufgeben, nichts passiv erleiden.

Die Sicht alter Frauen auf ihr Leben

Jane Campbell, inzwischen selbst über 80, hat in ihrem früheren Berufsleben als Psychoanalytikerin in Oxford mit Geschichten von Patientinnen und Patienten viele Notizhefte gefüllt, wie sie selbst erzählt, bevor sie daran ging, eigene zu schreiben. Da war sie längst Rentnerin, und mit ihren Storys ist sie wohl eine der ältesten Debütantinnen der Literaturgeschichte.

Ihre Geschichten tauchen tief in eine unbekannte Welt ein, die auch die Literatur bislang gemieden oder vergessen hat: die Welt der alten Frauen. Erstmals sind sie die «Heldinnen», und ihre Erzählungen brechen eines der letzten Tabus: auch alte Frauen haben Sex oder träumen von Sex. Dennoch unterscheidet sie vieles von der Welt der Jüngeren. Sie wissen um ihre Gebrechlichkeit, ihre Endlichkeit, ihre gesundheitlichen und geistigen Einschränkungen. Und sie wissen, was ihre Umwelt von ihnen erwartet: nicht klagen, sich fügen, unterordnen, schweigen.

Dreizehnmal erzählt Jane Campbell, wie Frauen mit ihrem Alter umgehen, sich aufbäumen, sich wehren, verzweifeln, träumend in ihre Vergangenheit zurückkehren.

Starke Situationen, starke Bilder

Die 86-jährige Susan liegt im Krankenhaus und verliebt sich in eine junge Pflegerin. Auch wenn sie dagegen ankämpft, sie kann sich ihrer Gefühle für die junge Frau nicht erwehren. Ihre Sympathie wird erwidert.

Die Erzählerin der Geschichte «Katzenbuckel», die Campbell als erste ihrer Storys bereits 2017 veröffentlicht hat, beklagt den Verlust der Erotik, des Genusses, der Befriedigung. Für die Exlehrerin ist das Altern ein «Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, Lust, all das, was man früher selbstverständlich besessen hat, wird einem nach und nach genommen.» So sitzt sie zuhause mit einer Katze auf dem Schoß, das Bild einer friedlichen Alten, strickt, während es in ihr brodelt.

Immer wieder tauchen solche Bilder auf, erzählen die Protagonistinnen, was sie noch vom Leben erwarten, wie sie mit ihren Einschränkungen umgehen. Manche haben mit dem Leben abgeschlossen, sehen im selbstgewählten Tod eine friedliche Lösung.

Mit der Vergangenheit abzuschließen, ist schwer. Bitter ist die Enttäuschung, wenn sie einen früheren Geliebten bewusst aufsuchen, der sie auch wiedererkennt, dann sie aber mit seiner deutlich jüngeren Freundin allein lässt. Was bleibt, ist die Erinnerung und der Entschluss, sie auf drastische Weise zu bewahren.

Die Macht der Phantasie

Alle Geschichten erzählen schnörkellos, unverblümt und bisweilen in heftiger, ungeschminkter Wortwahl von früheren Affären, neu erwachten Hoffnungen und dennoch der Gewissheit, dass eine Lösung kaum denkbar ist. Alle Geschichten enden unerwartet, überraschend, verblüffend. An Phantasie mangelt es der Schriftstellerin nie.

So erfindet sie angesichts einer Pandemie, Corona lässt grüßen, für alle über 70-Jährigen, also die besonders gefährdete Gruppe, eine Art Zwangsisolierung in besonderen Wohnblöcken. Für die quasi Eingesperrten gibt es eine extra entwickelte staatliche App, die Phantasien heraufbeschwört.  Sie soll ihnen das Alleinsein im Alter erträglicher machen. Es sind so realistische Phantasmen wie solche von Männern, die einen umarmen, küssen, streicheln. Die Macht unserer Vorstellungskraft kann, so deutet die Schriftstellerin an, auch das Alter erträglicher machen und das Alleinsein, wie es viele alte Frauen erleiden, durchbrechen. Da spricht die Psychoanalytikerin.

Manche der Protagonistinnen werden so deutlich von Erinnerungen an Männer überschwemmt, als seien diese real und greifbar, säßen neben ihnen und würden mit ihnen reden.

Amüsant der genderneutrale Roboterpfleger, den die Erzählerin Schopenhauer nennt – durchaus als Reminiszenz an den Philosophen. Als Ersatz für ihren toten Kater taugt er allerdings weniger, und das führt schließlich zu einem abrupten Ende der Mensch-Maschine-Beziehung.

Literarische Entdeckung

So unverblümt Jane Campbell über die Alten und ihr Leben in verschiedenen Ausgangslagen, unterschiedlichen Situationen fabuliert, sie denunziert sie nie, gibt sie nie der Lächerlichkeit preis.

Es sind einzigartige, im wahrsten Sinne des Wortes auch aufregende Geschichten. Keiner und keine hat bislang so phantasievoll, voller Witz und einfühlsam ohne falsche Rücksichtnahme über alte Frauen geschrieben wie Jane Campbell. Andere sollten ihr folgen. Ihre Geschichten zeigen: die Literatur hat noch viel zu entdecken.

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Jane Campbell: Kleine Kratzer. Storys, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, 192 S., Kjona Verlag München 2023


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
 
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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