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Wissenschaftler fordern mehr Bedacht: Primarschulkinder lernen mit Tablets. © cc-by Lexie Flickinger

Wissenschaftler fordern IT-Moratorium in Schulen

Pascal Sigg /  Bekannte Mediziner, Pädagogen, Juristen, Geistes- und Naturwissenschaftler wollen mehr Menschen statt Computer im Schulzimmer.

Stopp der Digitalisierung im Unterricht insbesondere an der Primarschule bis und mit 6. Klasse. Dies fordern namhafte deutsche und Schweizer Wissenschaftler und Ärzte in einem Aufruf der Gesellschaft für Bildung und Wissen. Ihr Ziel: Eine breite gesellschaftliche Debatte über die Ziele, Chancen und Gefahren von IT- und KI-Anwendungen an Schulen.

Öffentliche Bildungseinrichtungen, so heisst es im Schreiben, hätten eine Fürsorgepflicht. Bei Erziehung und Unterrichten müsse daher das Wohl der Lernenden und die Wirksamkeit pädagogischen Handelns im Mittelpunkt stehen.

«Es ist dringend notwendig, die einseitige Fixierung auf Digitaltechnik in KITAs und Schulen zu revidieren, um interdisziplinär und wissenschaftlich fundiert, mit Fokus auf Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse über IT und KI in Bildungseinrichtungen zu diskutieren.» Dies solle in einem im Rahmen eines interdisziplinär und multiperspektivisch besetzten Gremium passieren. Dieses sollte konkrete Vorschläge für humane und demokratieförderliche Erziehungs- und Schulstrukturen erarbeiten. Wichtig also: Das geforderte Moratorium soll als ein Pause oder eine Art Bremse wirken, um in Zukunft überlegter handeln zu können. Es ist keine Totalverweigerung.

Vier Schweizer haben unterzeichnet

Zu den Erstunterzeichnenden des Aufrufs gehören namhafte deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichen Alters wie der Medienpädagoge Ralf Lankau (geb. 1961), der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer (1958), die Strafrechtlerin Frauke Rostalski (1985) oder der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer (1976). Aus der Schweiz haben der Erziehungswissenschaftler Carl Bossard, der ETH-Mathematikprofessor Norbert Hungerbühler, der Mediziner Jürg Barben und der Psychologe und Erziehungswissenschaftler Beat Kissling unterschrieben.

Ihre Forderung begründen sie hauptsächlich so:

  1. Nutzen und Mehrwert digitaler Medien im Unterricht seien bis heute nicht belegt.
  2. Digitale Medien würden Bildungsungerechtigkeit sowohl national wie international fördern und verstärken.
  3. Über gelingenden Unterricht entscheide nicht die technische Ausstattung, sondern qualifizierte Lehrkräfte, ein gut strukturierter Unterricht und das gemeinsame, soziale Lernen im Klassenverband.

Grundsätzlich müsste die Pädagogik über die Technik gestellt werden: «Vorsicht ist in Erziehungs- und Bildungsfragen ethische Pflicht. Kinder und Jugendlichen brauchen ein menschliches Gegenüber, ihre Entwicklung und Förderung muss im Mittelpunkt von Bildungspolitik und -praxis stehen.»

«Das Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren»

«Ich erlebe ein einseitiges Denken, eine fast radikal geforderte Innovation oder Neuausrichtung der Schulen», sagt Carl Bossard auf Infosperber-Anfrage. Er war Rektor an Innerschweizer Gymnasien und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Gefragt sei das isolierte Lernen in der Atmosphäre eines digitalisierten Grossraum-Schulbüros. Das soziale Kollektiv im Klassenverband werde dabei abgewertet.

Bossard gibt sich nicht digitalisierungsfeindlich: «Gegen digitale Medien zu reden, ist so dumm wie aussichtslos, ihr schulischer Einsatz ist zu begrüssen und ist eindrücklich.» Doch er ist überzeugt, dass digitale Medien den Unterricht weder revolutionieren noch erleichtern könnten. «So lange wir Menschen Menschen sind, so lange bleibt Lernen Lernen. Wir lernen im Dialog mit anderen Menschen, im Austausch mit Menschen. Dieses Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren. Und jeder, der das behauptet und forciert, verkennt den Menschen und macht aus Menschen Maschinen.»

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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

2 Meinungen

  • am 6.12.2023 um 22:08 Uhr
    Permalink

    Ein begrüssenswerter Aufruf! Man kann nur hoffen, dass er auch gehört wird und das Zwischenmenschliche wieder mehr Gewicht bekommt.
    Die meisten LehrerInnen und KindergärtnerInnen, die ich kenne, sagen das übrigens schon lange. Oft mit dem Wunsch, weniger administrative Pflichten zu haben und dafür mehr Zeit für die Kinder.

  • am 7.12.2023 um 02:57 Uhr
    Permalink

    Ja, dem kann ich als frühere Gymnasiallehrerin zustimmen. Der persönliche Unterricht macht den Unterschied, aber die Digitalisierung ist nicht aufzuhalten. Aufsätze mit unlesbaren Schriften zu entziffern, wurde und wird für die Lehrer zu einer Tortur. Also, weshalb nicht akzeptieren, dass sich die Gesellschaft ändert? Die Handschrift wird wohl mit der Zeit zu einer archäologischen Entzifferung werden! Auch die PISA- Studien werden ihre Masstäbe ändern müssen. Aber trotz der technologischen Neuerungen bleibe ich überzeugt, dass der persönliche Unterricht den Schülern viel mehr bringt als die digitale Revolution: der Austausch, das kritische Denken, die Meinungsbildung bringt auch ChatGbt nicht hin!

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