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Zu früher und unkontrollierter Medienkonsum birgt diverse Risiken für die Entwicklung von Kindern. © Jessica Lewis (Pexels)

Schweden streicht Bildschirmzwang für Kleinkinder

Pascal Sigg /  Die Risiken früher Digitalmediennutzung sind immer besser belegt. Kinderärztinnen geben deshalb strengere Empfehlungen ab.

Obligatorische Tabletnutzung für Einjährige in den öffentlichen Kitas. Dies sah die Digitalstrategie der schwedischen Schulbehörde Skolverket teilweise noch dieses Jahr vor (Infosperber berichtete). Vor einem Monat nun kam die Kehrtwende: Die Kitas sollen stattdessen frei von Bildschirmnutzung werden. «Wir hören auf die Wissenschaft und die Lehrpersonen», sagte Regierungsvertreter Johan Pehrson, der auch Präsident der Partei «Die Liberalen» ist.

Strengere Nutzungsempfehlungen schwedischer KinderärztInnen

Wissenschaftliche Forschung bewegte auch den schwedischen Verband der KinderärztInnen vor wenigen Tagen zu strengeren Empfehlungen zur Mediennutzung von Kindern. Bis zum Alter von zwei Jahren sollten Kinder gar keine Bildschirme nutzen. Danach höchstens eine Stunde pro Tag mit klaren Regeln. So sollten Bildschirme nie benutzt werden, um abzulenken, zu trösten oder Wutausbrüche zu verhindern. Bei Videoinhalten sollten schnelle Schnitte und Werbeunterbrüche vermieden, Inhalte mit deutlicher Sprache und langsamem Tempo bevorzugt werden.

Ulrika Ådén ist Professorin für Kindermedizin an der Uni Linköping und Präsidentin des Verbands. Sie sagt, neue wissenschaftliche Befunde würden klar zeigen, dass frühe Bildschirmnutzung die Entwicklung von Kindern hemmt. Besonders deutlich ist zum Beispiel, dass Kinder aufgrund eines sogenannten Transferdefizits schlechter von Videos lernen als von Menschen. Dies belegten Forschende bereits 2015.

Wenn sie beispielsweise einen Teich nur auf einem Bildschirm sehen, verstehen Kinder unter Umständen nicht gleich gut und schnell, dass dieser Wasser beinhaltet, einen Grund hat und Fische darin schwimmen.

Diverse kognitive Auswirkungen

Immer mehr Studien deuten zudem darauf hin, dass starke frühe Bildschirmnutzung Erinnerungsvermögen, Konzentrationsfähigkeit und Impulskontrolle beeinträchtigt. «Kinder brauchen viel Zeit, um zu lernen, wie sie Gefühle regulieren, auf Belohnungen warten und Impulse hemmen können», schreiben die schwedischen Kinderärztinnen. Eine US-Studie hat zum Beispiel gezeigt, dass mobile Endgeräte Probleme in diesem Bereich eher verstärken. Wenn Smartphones oder Tablets gezielt benutzt werden, um Kinder ruhigzustellen, wirkt sich dies langfristig in vielerlei Hinsicht negativ auf ihr Verhalten aus.

Eher später, nicht täglich, am besten begleitet

Schweizer und deutsche KinderärztInnen und MedienpsychologInnen empfehlen gar, Kinder bis drei Jahren von Bildschirmen fernzuhalten. Der deutsche Verband kommunizierte erst vor wenigen Wochen neue, deutlich strengere Empfehlungen: gar keine Bildschirmnutzung bis drei Jahre, höchstens 30 Minuten an einzelnen Tagen und immer in Begleitung bis sechs Jahre, danach höchstens 45 Minuten bis 9 Jahre. Von neun bis zwölf Jahren: höchstens 45 bis 60 Minuten in der Freizeit vor einem Bildschirm und nur beaufsichtig­ter Internetzugang.

Die deutsche Kinderärztin Gesine Hansen sagte dazu dem Magazin Spiegel (Paywall) unlängst: «Kinder, die sehr viel Zeit vor dem Fernseher, Tablet oder Smartphone verbringen, sind häufiger übergewichtig als andere, haben Probleme, sich zu konzentrieren, zu schlafen, im schlimmsten Fall entwickeln sich Süchte wie die Computerspielsucht. Zu viel Bildschirmzeit schadet also klar. Ein anderer Aspekt ist, dass Medienkonsum ein Zeiträuber ist. Kinder, die viel vor dem Bildschirm ­sitzen, haben weniger Zeit für Freunde, Sport, Kunst, Musik oder andere Dinge in der realen Welt. Sie haben weniger Möglichkeiten zu entdecken, was ­ihnen Spass macht und wo ihre Begabungen liegen.»

Diese Befunde und Empfehlungen haben auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie digitale Medien in der Bildung genutzt werden. Wie Infosperber berichtete, fand ein grosser UNESCO-Bericht zum Thema vor wenigen Monaten, dass die wichtige Begleitung durch Erwachsene eher mehr Lehrpersonal erfordert als die Nutzung analoger Medien.

Auch Strahlung birgt diverse Risiken für Kinder

Nicht berücksichtigt ist bei all diesen Empfehlungen, dass die Kinder bei drahtloser Nutzung digitaler Medien möglicherweise durch elektromagnetische Strahlung beeinträchtigt werden. In einer Übersichtsstudie forderten prominente US-amerikanische Forschende kürzlich, dass Kinder vor jeglicher elektromagnetischer Strahlung, die ihnen nicht direkt nützt, geschützt werden sollen. Kinder seien nicht einfach kleine Erwachsene. Es sei nachgewiesen, dass die vielerorts benutzten Strahlengrenzwerte insbesondere Kinder nicht genügend vor Gesundheitsrisiken schützten. Dies könnte besonders die Entwicklung des Hormon-, Immun- und des Reproduktionssystems im Kindesalter beeinträchtigen.

Ähnlich hatten 2019 Michael Kundi und Hans-Peter Hutter von der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin der Medizinischen Universität Wien argumentiert. Konkret wiesen sie darauf hin, dass

  1. sich bei Kindern und Jugendlichen im Schädelknochen noch rotes Knochenmark befindet und eine Schädigung hämatopoetischer Stammzellen daher nicht ausgeschlossen ist
  2. die Ohrmuschel etwa 5 Prozent und die Kopfhaut sowie der Schädelknochen etwa 70 Prozent dünner sind als im Erwachsenenalter, weswegen die Strahlungsquelle näher an den Kopfeingeweiden liegt als bei Erwachsenen
  3. die Ausbildung der Nervenscheiden (Myelinisierung) bei Kindern noch nicht abgeschlossen ist und das Gewebe einer starken Entwicklungsdynamik unterliegt. Solche Gewebe seien gewöhnlich gegenüber externen Einflüssen empfindlicher.

Kundi und Hutter folgerten zum Schluss: Angesichts ihrer noch in Entwicklung befindlichen Physiologie, der Länge der vor ihnen liegenden Lebenszeit sowie der Verhaltensprägung im Kindesalter sei dringend Umsicht und Vorsicht geboten. Da es sich im Regelfall um einfache Massnahmen handle, könne dies auch nicht als «zu viel verlangt» abgetan werden.

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Vater zweier kleiner Kinder.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.