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Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern ist nach wie vor ein Wunschdenken. © Pixabay

Ausbildung lohnt sich für Frauen weniger

A. Doris Baumgartner /  Eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) propagiert den Wert der Bildung. Doch sie vergisst die Frauen.

Red. A. Doris Baumgartner ist Soziologin und freiberuflich in Wissenschaft, Lehre und Beratung tätig. Schwerpunktmässig befasst sie sich mit der Vielfalt von Lebens- und Arbeitsformen und ihrer sozialen Absicherung im Lebenslauf. Sie ist Mitherausgeberin eines Buches mit dem Titel «Sozialstaat unter Zugzwang? Zwischen Reform und radikaler Neuorientierung».

Lohnt sich Bildung? Oder präziser ausgedrückt: Welchen Wert hat die Ausbildung gemessen am Arbeitseinkommen? Diese Frage stellen sich nicht nur junge Erwachsene bei der Wahl des Studiengangs, wenn sie von Hochschulen regelmässig auf die hohe «Bildungsrendite» der jeweiligen Ausbildung hingewiesen werden. Nein, diese Frage ist von allgemeinem Interesse. Entsprechend hoch ist die Erwartung an eine Studie mit dem Titel «Der Wert von Ausbildungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt».

Die kürzlich veröffentlichte Studie, welche vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Auftrag gegeben worden ist, geht der Frage nach, «wie sich die individuellen Chancen und Risiken auf dem Schweizer Arbeitsmarkt für Personen mit unterschiedlichen Bildungsverläufen bzw. -abschlüssen unterscheiden» und wie sich diese in den letzten 20 Jahren entwickelt haben. Es handelt sich um eine detailliert aufgeschlüsselte ökonomische Studie, die den Wert der Bildung entlang von Veränderungen in der Bildungsstruktur, der Bevölkerungszusammensetzung und der Erwerbs- und Bildungsbeteiligung von Frauen analysiert. Die drei Autoren gelangen zum Schluss, dass sich deutliche Unterschiede im Medianlohn wie in den Tief- und Hochlöhnen erkennen lassen, die vom Bildungsweg, der Branche sowie von den «relativen Verschiebungen in der Qualifikationsstruktur» abhängen, wobei sich die Entwicklung zwischen 1998 und 2018 äusserst gleichförmig präsentiert. Kurz gesagt: Eine Ausbildung lohnt sich auf jeden Fall. Doch je höher eine Ausbildung rangiert, desto höher ist die Bildungsrendite.

Geschlechterunterschiede ignoriert

Die Studienautoren Aepli, Kuhn und Schweri räumen zwar ein, dass sich der Wert der Ausbildung nur beschränkt an «objektiven» Faktoren wie der Beschäftigungs- und Lohnsituation messen lässt und die Zufriedenheit stattdessen wesentlich von «subjektiven» Faktoren abhängt. Das Geschlecht, den wichtigsten «objektiven» Einflussfaktor für die Lohnsituation ignorieren sie jedoch weitgehend bzw. rücken andere Faktoren wie Branche und Führung in den Vordergrund.

Tatsächlich unterscheidet sich der Wert derselben Ausbildung oder desselben Bildungswegs sehr deutlich, je nachdem, ob er für eine Frau oder einen Mann berechnet wird. Und zu jedem beobachteten Zeitpunkt erhält in der Schweiz ein Mann deutlich mehr für seine Bildungsanstrengungen als eine Frau. Um das Lohngefälle sichtbar zu machen, habe ich die einzige Darstellung dazu, die im Anhang der Studie zu finden ist, neu arrangiert.

Zur besseren Vergleichbarkeit werden die beiden Teilabbildungen für Männer und Frauen, die überdies mit je unterschiedlicher Skala der Lohnhöhe versehen sind, zusammengefasst. Sofort wird das grosse Lohngefälle bei gleicher Ausbildung zwischen Männern und Frauen augenfällig. Männer verdienen auf jedem Bildungsniveau deutlich mehr als Frauen. Im Extremfall erzielt die Hälfte der Frauen mit einem Universitätsabschluss ein ähnlich hohes Erwerbseinkommen wie die Hälfte der Männer mit einer höheren Berufsbildung. Oder anders gesagt: Der universitäre Abschluss bringt den Frauen rund 20 Prozent weniger Lohn ein als den Männern mit einer gleichrangigen Ausbildung.

Bildung zahlt sich für Frauen (rot) weniger aus als für Männer (blau). © BFS 2020, Schweizerische Lohnstrukturerhebung; eigene Darstellung.

Der Male Bias lässt sich in dieser Studie wohl kaum von der Hand weisen. Er bezieht sich einerseits auf den Entscheid, die Lohnlücke zu verschleiern, andererseits auf die Entscheidung, darauf zu verzichten, systematisch nach Geschlecht zu differenzieren. 

Stutzig machen sollte allerdings auch der Befund, dass sich in den letzten zwanzig Jahren nahezu nichts am Gender-Wage-Gap, der Kluft zwischen Männer- und Frauenlohn, verändert hat. Also, unabhängig von den Veränderungen in der Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung bleibt der Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern sogar bei gleichem Ausbildungsweg bestehen. Eine Ausbildung «lohnt» sich für Frauen mit ein und demselben Bildungsweg wesentlich weniger als für Männer.

Der im Fazit der Studie gezogene Schluss, dass die «in der Vergangenheit gewählten Bildungswege» die Beschäftigten «bislang offenbar gut auf die Herausforderungen des Arbeitsmarktes vorzubereiten» vermochten, müsste daher dringend ergänzt werden. Für die Frauen bedeutet die Konstanz in der Entwicklung des Wertes von Ausbildungen, dass sich die Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern eingependelt und in den letzten zwanzig Jahren kaum noch bewegt hat. Die Lohnlücke bleibt trotz Aufholen der Frauen in ihrem Bildungs- und Erwerbsverhalten unvermindert weiter bestehen.

Auf die Frage nach dem Warum gibt die Studie keine Antwort. Ebenso wenig gerät die volkswirtschaftlich erwünschte Entwicklung, dass sich eine Ausbildung für eine «weibliche Person» wie für eine «männliche Person» gleichermassen auszahlt, in den Blick. Das Ausklammern der Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern ist umso bedauerlicher, als die Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft verfasst worden ist und damit einen gewissen Referenzcharakter erhält. Aber der Ball bleibt beim Seco, sich aktiv der Herausforderung zu stellen, weshalb Frauen trotz gleicher Ausbildungswege und stärkerer Erwerbsbeteiligung beim Lohnniveau unverändert hintanstehen. Auf die Vergabe spezifischer Studien darf man gespannt sein.

Das sagen die Studienautoren

Die Ende Oktober erschienene Studie «Der Wert von Ausbildungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt» wurde von drei Autoren der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB in Zollikofen im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) verfasst. Auf Anfrage von Infosperber nimmt Mitautor Jürg Schweri zum Vorwurf, man habe die Frauen vergessen, Stellung: «Es trifft nicht zu, dass wir die Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern übersehen oder gezielt ausklammern», sagt er. Schweri verweist auf verschiedene Passagen in der Studie, welche auf die Zunahme der Erwerbsarbeit und das veränderte Ausbildungsverhalten von Frauen hinweisen. «Wir schreiben explizit, dass die Medianlöhne der Frauen in allen Bildungsgruppen unter jenen der Männer liegen, und verweisen an dieser Stelle auf weiterführende Literatur.»

Es ist allerdings zu bezweifeln, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern «für alle Leserinnen und Leser deutlich» werden, wie Schweri schreibt. Denn im Teil zu den Löhnen, der hauptsächlich interessiert, verschwinden die Frauen fast gänzlich aus der Betrachtung. Es wird nach Führung und Branche differenziert, jedoch nicht für jedes Geschlecht separat analysiert. Zudem wurde die einzige Abbildung, die nach Geschlecht differenziert, in den Anhang verbannt und erst noch an der Darstellung gefeilt, so dass die Lohnunterschiede völlig verschleiert werden (bereinigte Darstellung siehe Haupttext).

Schweri gibt zu, dass der Hauptfokus der Studie nicht auf der Analyse von Lohnunterschieden zwischen Frauen und Männern lag. «Unser Ziel bestand darin, die Veränderungen im Wert von Ausbildungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt in den letzten zwanzig Jahren nachzuzeichnen.» Der Gender-Wage-Gap gehöre zu einer Reihe von Aspekten, die eine vertiefte Analyse verdienen würden, die man im Rahmen der Studie jedoch nicht habe leisten können. Es sei «methodisch und in Bezug auf die Datenerfordernisse sehr anspruchsvoll» herauszufinden, welche Faktoren die Veränderung in den Lohnverteilungen nach Ausbildung treiben. Solches müssten künftige Studien mit adäquaten Daten und Methoden vertiefen.

Offenbar war es von Anfang geplant, dass Geschlechterungleichheit nicht oder nur am Rande thematisiert werden sollte. Denn gemäss Schweri habe man nach Absprache mit der Begleitgruppe, also allen voran dem Seco, auf weiterführende Interpretationen und Aussagen zu Geschlechterunterschieden verzichtet.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Gleiche Rechte für Frauen und Männer

Gleichstellung und Gleichberechtigung: Angleichung der Geschlechter – nicht nur in Politik und Wirtschaft.

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4 Meinungen

  • am 18.12.2021 um 16:36 Uhr
    Permalink

    Chapeau, Frau Baumgartner. Ihre Ausführungen bekehren mich in meiner Bewertung des Gender Pay bzw. Wage gaps, als größtenteils feministisches Propaganda-Instrument für Frauen, die «könnten aber nicht wollen».

  • am 19.12.2021 um 08:41 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank für diesen starken Beitrag. Kritik an Studien, besonders wenn sie von offizieller Seite veröffentlicht werden, ist bei solch gesellschaftlich relevanten Themen besonders dringend. Weitere Überlegungen, die interessant sein könnten:
    – Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn Angestellte einen tieferen Lohn erhalten, als gerechtfertigt wäre? Landen diese Beträge (als kausale Annäherung der Wirklichkeit) mehrheitlich bei Aktionären anstelle in den Budgets des Mittelstands? Falls dies zutrifft, gehen diese Lohnunterschiede direkt eine gesellschaftliche Mehrheit an (3/5 Personen in der Schweiz).
    – Die steigende Erwerbsquote von Frauen hat gesellschaftliche Umverteilungswirkungen (vermutlich mehrheitlich: von oben nach unten) – bei ungerechtfertigten Lohnungleichheiten werden diese nicht vollständig ausgeschöpft.

  • am 20.12.2021 um 14:20 Uhr
    Permalink

    Bei all den Vergleichen müsste man berücksichtigen, dass sich in den letzten 20 Jahren auch die Studienwahl bzw die Studienabschlüsse nicht stark bewegt haben. Die Frauen haben allgemein aufgeholt bis ca. 2000 und seither sind die Verteilungen z.B. in Phil I Fächern im Vergleich zu Ingenieurausbildungen gleich. Frauen dominieren zu ca. 80% in Sprachen, Geschichte, Psychologie etc. und Männer bei den Ingenieuren. Abgesehen von Einzelfächern gab es in den meisten reichen Ländern keine grossen Verschiebungen mehr. Das von Frau Baumgartner erwähnte « Aufholen der Frauen im Bildungs- und Erwerbsverhalten» ist da nicht wirklich zu erkennen, obwohl die wenigen Unterschiede medienwirksam hervorgehoben werden. Es könnte sein, dass eine Zusatzausbildung sich primär in typischen, gut bezahlten Männerberufen auswirkt und wenigen in den typischen Frauenberufen, zumindest bei universitären Ausbildungen. Das würde sich dann in der Gesamtstatistik entsprechend zeigen.

    • am 24.12.2021 um 15:07 Uhr
      Permalink

      Seh ich auch so: die „frauentypischen“ Fächer der höheren Bildung sind von den Frauen doch selbst gewählt. Oder gibt es da ein „strukturelles Problem“ (Soziologie-Jargon)? Gar einen patriarchalen Druck? Die Analyse im Text bleibt leider auf halbem Weg stehen.

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