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Schädliche hormonaktive Stoffe stammen vor allem aus dem Pestizideinsatz in der Landwirtschaft © srf

Hormonaktive Stoffe: 150 Milliarden Folgekosten

Kurt Marti /  Laut einer internationalen Studie hat der Einsatz von hormonaktiven Chemikalien gravierende Folgen für die menschliche Gesundheit.

Hormone sind die Botenstoffe des menschlichen Organismus. Das endokrine System (Hormonsystem) regelt und steuert die Stoffwechselvorgänge von Mensch und Tier. Zum Hormonsystem gehören die endokrinen Drüsen: Zirbeldrüse, Hypophyse, Schilddrüse und Nebenschilddrüsen, Thymus, Nebenniere, Pankreas, Ovar und Hoden.

Hormonaktive Stoffe können auch von aussen in den Organismus gelangen. Sie wirken wie Hormone und können das Hormonsystem beeinflussen. Falls sie negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben, werden sie «endokrine Disruptoren» genannt, die hauptsächlich aus den Pestiziden der Landwirtschaft, aber auch aus Plastik-Chemikalien und Flammschutzmitteln stammen. Besonders schädlich sind die hormonaktiven Substanzen für den menschlichen Fötus und für Kleinkinder.

Hauptverursacher sind die Pestizide

Anfang März veröffentlichte ein internationales Forscher-Team eine alarmierende Studie über die gesundheitlichen und finanziellen Folgen von endokrinen Disruptoren. Die Resultate der Studie wurden im neusten «The Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism» veröffentlicht, das von der Endocrine Society herausgegeben wird, der weltweit über 18‘000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus über 120 Ländern angehören.

Aufgrund jahrzehntelanger Forschung kommen die Forschenden zum Schluss, dass die endokrinen Disruptoren in der EU zu gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgekosten von über 150 Milliarden Euro pro Jahr führen (siehe Link unten). Allein auf das Konto des Pestizideinsatzes gehen 120 Milliarden Euro, gefolgt von den Plastik-Chemikalien mit 26 Milliarden Euro und den Flammschutzmitteln mit 9 Milliarden Euro.

Die schädlichen Hormone können laut der Studie beispielsweise zur Störung der männlichen Fortpflanzungsfähigkeit, zu Diabetes, Übergewicht und reduzierter Intelligenz führen. Mit diesen erschreckenden wissenschaftlichen Erkenntnissen appellieren die Autoren der Studie an die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker und fordern eine bessere Kontrolle der schädlichen Hormonstoffe. Prävention sei sehr wichtig, weil damit ein substanzieller gesellschaftlicher Nutzen erzielt werden könne.

Europäische Chemie-Lobby macht massiv Druck

Der Publikations-Termin der Studie ist gut auf den politischen Prozess in Europa abgestimmt. Angesprochen ist dabei die Europäische Kommission, welche im September 2014 eine öffentliche Online-Konsultation gestartet hat, um die «Kriterien für endokrine Disruptoren zu definieren, so wie es die EU-Vorschriften zu Bioziden und Pflanzenschutzmitteln (Pestiziden) verlangen». Die Online-Konsultation der Kommission lief bis am 16. Januar 2015.

Die EU-Kommission hat alle Bürgerinnen und Bürger der EU zur Teilnahme an der Konsultation eingeladen. Doch der Fragenkatalog sei nur für «wenige Experten» verständlich, kritisiert Susanne Smolka vom internationalen Pesticide Action Network (PAN) in einem Interview. Eigentlich handle es sich nur um einen «Dialog zwischen Kommission und Industrie». Die Chemie-Lobby mache massiv Druck auf die EU-Kommission, um möglichst hohe Grenzwerte durchzuboxen und das Vorsorgeprinzip auszuhebeln. Dabei spiele die Industrie auf Zeit und die EU-Kommission komme ihr dabei noch entgegen. Denn laut den geltenden Verordnungen sei die «festgeschriebene Deadline vom 14. Dezember 2013 einfach ignoriert worden».

Zudem habe die Kommission im Interesse der chemischen Industrie ein Verfahren zur Folgeabschätzung initiiert. Dabei lasse sich der Eindruck nicht vermeiden, als ginge es der EU-Kommission «mehr darum, die negativen Folgen für die Industrie beim Wegfall einer Substanz als die damit verknüpften positiven Folgen für die Gesellschaft zu analysieren, die zum Beispiel durch Einsparungen im Gesundheitssystem oder beim Gewässerschutz erzielt werden könnten». Mehrere Nicht-Regierungs-Organisationen haben deshalb im letzten Dezember einen offenen Brief an die zuständigen deutschen Bundesministerien für Umwelt, Gesundheit und Landwirtschaft geschrieben und vor «erheblichen Verschlechterungen» gewarnt.

Schweizer Chemie-Lobby will keine spezielle gesetzliche Regelung

Ebenfalls im letzten Dezember hat Scienceindustries, der Schweizer Dachverband der Chemie-, Pharma- und Biobranche, ein Positionspapier «Hormonaktive Substanzen» veröffentlicht. Darin ist Scienceindustries der Ansicht, es sei «keine spezielle gesetzliche Regelung für hormonaktive Disruptoren nötig». Schweizer Alleingänge seien «zu vermeiden», ansonsten drohe «eine Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit des Forschungs- und Produktionsstandortes Schweiz». Die chemische Industrie minimiere schon jetzt «eigenverantwortlich das Risiko allfällig schädlicher Effekte für Mensch und Umwelt».

Auch die Schweiz ist «am EU-Verfahren massgeblich beteiligt», wie Martine Bourqui-Pittet, Leiterin der Sektion Risikobeurteilung im Bundesamt für Gesundheit BAG, bestätigt: «Vertreter des BAG und des BAFU nehmen aktiv an verschiedenen Experten-Gremien für endokrine Disruptoren der Europäischen Kommission und der Europäische Agentur für Chemikalien ECHA teil.» Wenn also in Zukunft die EU eine Substanz als endokrinen Disruptor identifiziert, werden laut Bourqui-Pittet anschliessend die Schweizer Behörden auf dieser Grundlage entscheiden, «ob die Liste der besonders besorgniserregenden Stoffe in der Chemikalienverordnung ChemV, respektive der zulassungspflichtigen Stoffe in der Chemikalien-Risikoreduktions-Verordnung ChemRRV angepasst werden soll».

BAG zur Studie: «Besorgnis erregend», aber «mit Vorsicht zu betrachten»

Zu den Resultaten der internationalen Studie der Endocrine Society nahm BAG-Sektionsleiterin Bourqui-Pittet gegenüber Infosperber wie folgt Stellung:

«Die Einschätzung der Krankheitskosten in dieser Studie basiert lediglich auf epidemiologischen Studien, die in Verbindung mit der Exposition eines Endokrinen Disruptoren (ED) stehen. Daraus hat man dann die Kosten errechnet. Die Wirkung von ED auf die Gesundheit und die daraus entstehenden Kosten ist sicherlich Besorgnis erregend. Trotzdem sollte diese Abschätzung vorsichtig bewertet werden. Diese Zahlen gehen aus Auswertungen hervor. Die Resultate basieren lediglich auf Korrelationsstudien und es gibt derzeit keine klaren Beweise. Nach den Kriterien für einen ED muss ein kausaler Zusammenhang zwischen schädlicher Wirkung eines Stoffes und dem hormonellen Wirkungsmechanismus gezeigt werden. Eine epidemiologische Studie ist deshalb ein Hinweis, aber kein Beweis dafür. Bei den meisten, der in der Studie genannten Substanzen (wie einige Organophosphat-Pestizide), wird die endokrine Aktivität nur vermutet. Zusätzlich, wie in der Studie beschrieben, werden diese Kosten nur zum Teil durch die EDs verursacht. Weitere Faktoren wie Ernährung, Rauchen, Mangel an Bewegung und hoher Stresslevel können auch zu diesen Beobachtungen führen und zu den Krankheitsfolgen beitragen. So lange es keine offiziellen harmonisierten Kriterien gibt, sind solche Studien mit Vorsicht zu betrachten

Nota bene: Das ist nicht die Stellungnahme des Lobbyverbandes Scienceindustries, sondern der BAG-Sektion Risikobeurteilung.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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2 Meinungen

  • am 17.03.2015 um 19:37 Uhr
    Permalink

    Hormonaktive Stoffe? Das trifft doch vor allem Kinder und Jugendliche. Davon hat es in der Classe politique ziemlich wenige… Entsprechende Inaktivitäten sind aus Bern, Bonn und Brüssel zu erwarten.

  • Pingback: Umweltgifte: Little Things Matter (2) | Heidis Mist,

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