Marokko: Anhaltende Unruhen in der Berber-Region
In Nordmarokko entlädt sich der Frust der wirtschaftlich vernachlässigten Berber. Das Regime reagiert mit wachsender Repression.
Seit Ende Oktober letzten Jahres befindet sich die Rif-Region im Norden Marokkos in wachsendem Aufruhr. Damals hatten Polizisten in der Stadt Al Hoceima die Ware eines Fischhändlers beschlagnahmt und entsorgt. Der verzweifelte Mann kletterte auf einen Müllwagen, um seine Habe zu retten und wurde von dessen Pressen zermalmt. Der Vorgang erinnert fatal an die Selbstverbrennung eines tunesischen Strassenhändlers, mit der der arabische Frühling Anfang 2011 ausgelöst wurde. Marokko blieb damals von ähnlichen Protesten verschont, weil das Regime von König Mohammed VI. sein Volk mit oberflächlichen Reformen zu beschwichtigen versuchte. Ausgerechnet die seit jeher vernachlässigte Bergregion des Rif blieb davon freilich einmal mehr ausgeschlossen.
Berber in Marokko: Diskriminiert und geächtet
Seit Jahrhunderten wurden die Berber im Rif von ihren arabischen Landsleuten diskriminiert und geächtet. Weil ihre religiösen Riten vom orthodoxen Islam abweichen, gelten sie als Ungläubige und unzuverlässige Patrioten. Schon die arabischen Erobererheere benutzten sie beim Vorstoss auf die iberische Halbinsel als Kanonenfutter. Auch die spanischen Kolonisatoren lieferten ihnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei blutige Kriege mit Zehntausenden von Toten, ohne das Gebiet wirklich unter Kontrolle zu bekommen. Ihr damaliger Anführer Abdelkrim proklamierte gar eine selbständige Rif-Republik, die von Spaniern und Franzosen gemeinsam gebodigt wurde. Nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 erstickte König Mohammed V. einen weiteren Aufstand unter dem Kommando seines Kronprinzen Hassan, dem Vater des heutigen Königs. Der spätere Hassan II. hatte sich im Rif damit so verhasst gemacht, dass er sich während seiner ganzen Amtszeit nie mehr dorthin wagte.
Die Berber-Stadt Chefchaouen im Rif-Gebirge
Nach seiner Thronbesteigung vor 18 Jahren versprach Mohammed VI. auch den Berbern einen Neuanfang und versuchte sich mit der Familie Abdelkrims demonstrativ auszusöhnen. Weil auch diesmal den Worten keine Taten folgten und die Diskriminierung der Berber nie aufhörte, wirkte der Tod des Fischhändlers in Al Hoceima einmal mehr wie ein Funke am Pulverfass. Die spontanen Proteste dagegen wurden von der königlichen Gendarmerie wie üblich brutal niedergeknüppelt, die örtlichen Verantwortlichen von der Regierung gedeckt, die offizielle «Untersuchung» der Vorfälle als Farce inszeniert. Was der berberischen Volksbewegung Hirak al-Shabi nur noch mehr Zulauf bescherte. Als deren Anführer Nasser Zafzafi Ende Mai einen Imam während des Freitagsgebetes in der Moschee von Al Hoceima als «Büttel des Königs» beschimpfte und verhaftet wurde, geriet die Lage endgültig ausser Kontrolle. Al Hoceima steht seither faktisch unter Ausnahmezustand mit Ausgehverbot. Aber in der übrigen Region gehen die Proteste unvermindert weiter.
Das Regime setzt auf Repression
Das Regime wird immer nervöser, findet aber ausser seinen eigenen, korrupten Funktionären keine Ansprechpartner mehr und reagiert deshalb wie stets mit wachsender Repression. Im restlichen Marokko wie der übrigen Welt stiess der Konflikt bisher auf wenig Echo. Die Regierung in Rabat wird von gemässigten Islamisten kontrolliert. Willigen Erfüllungsgehilfen des Königs, die wie ihre radikalen Gesinnungsfreunde den «ungläubigen» Berbern nur Verachtung und Misstrauen entgegen bringen. Zwar stellen die Berber rein ethnisch betrachtet fast die Hälfte der marokkanischen Bevölkerung, was aber von vielen Berbern in den von Arabern dominierten Landesteilen verdrängt wird. Dass der König in Marokko nicht nur weltliches Oberhaupt, sondern als «Führer aller Gläubigen» auch höchste religiöse Autorität geniesst, kompliziert die Verhältnisse zusätzlich.
So setzt das Regime einmal mehr auf die Isolation des Protestes in den abgelegenen Bergen des Nordens und versucht auch die europäische Öffentlichkeit mit der Drohung neuer Flüchtlingsströme über die Meerenge von Gibraltar einzuschüchtern, falls es an der «Wiederherstellung der Ordnung» im Rif gehindert werde. Einer Drohung, die im Nachbarland Spanien wie in Brüssel erfahrungsgemäss auf offene Ohren stösst. Zumal die Berber auch dort keinerlei Lobby haben und nur als unerwünschter Störfaktor wahrgenommen werden. Widersetzen sie sich doch seit Jahrzehnten den auch von der europäischen Union mitfinanzierten «Zivilisationsversuchen», mit denen man ihnen ihre traditionellen Schmuggel- und Drogengeschäfte – die Rif-Region ist eines der weltgrössten Cannabis-Anbaugebiete – auszutreiben versucht. Dabei sind auch diese nichts anderes als verzweifelte Überlebensstrategien einer seit jeher vernachlässigten Minderheit.
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Alexander Gschwind war von 1978 bis 2013 Auslandredaktor und Korrespondent von Radio SRF für Iberien und Nordafrika. In seinem Buch «Diesseits und jenseits von Gibraltar», Blaukreuzverlag Bern 2015, hat er der Geschichte des Rifgebirges und seiner Berber-Bevölkerung ein ausführliches Kapitel gewidmet.
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