Kommentar

kontertext: Claude Lanzmann (†2018) – Nachtrag zum Nachrufwesen

Rudolf Walther © zvg

Rudolf Walther /  Nachrufe sind ein heikles Genre zwischen grobschlächtiger Heuchelei und inhaltsarmem Abklatsch.

Medienkritisch gesehen hat sich das Nachrufwesen, dem generellen, qualitätssenkenden Beschleunigungstrend im Journalismus folgend, rapid nach unten bewegt, zu einem Genre der Instant-Verwertung von Wikipedia-Einträgen. Die allgemeine Beschleunigungstendenz hat die Todesberichterstattung allerdings schon früher erreicht. Bekanntlich hatte der Blick den Tod des langsam sterbenden Roncalli-Papstes Johannes XXIII. vom 3.6.1963 einen Tag zuvor gemeldet – wegen des «Missgriffs» eines notorisch unbekannten Bleisetzers. Das Boulevard-Typische von gestern ist heute dank der Mithilfe von Wikipedia Branchenstandard – natürlich nicht, was die Vordatierung von Todesfällen betrifft, aber allemal, was die Verdünnung von Leben und Werk unter dem Diktat der Beschleunigung angeht. Der Tote steht auf verlorenem Posten im Wettlauf mit dem Tempo der Nachrufpublikation. Keynes‘ weiser Hinweis, dass wir à la longue alle tot sind, wird unterboten von der Einsicht, dass Wikipedia schon zu Lebzeiten «weiss», was in den Nachrufen stehen wird.
Aktuell ist das nachprüfbar an den Nachrufen für den am 5. Juli verstorbenen Filmemacher Claude Lanzmann. In gut zwei Dutzend Nachrufen in deutschen, schweizerischen, französischen, spanischen und italienischen Zeitungen konnte man mehr oder weniger nachlesen, was Wikipedia vorspurte. Eine vor allem im Umfang abweichende Ausnahme bildete Le Monde, der gleich eine achtseitige, reich bebilderte Beilage zu Lanzmanns Tod lieferte. Die war zwar vom üblichen Klatsch nicht frei, wonach Lanzmann Simone de Beauvoir besonders ihrer «Nasenlöcher» halber liebte. Was Frauen betraf, kannte der Mann im Filmemacher Lanzmann bei öffentlichen Äusserungen bekanntlich keine Peinlichkeitsgrenzen. Sind sie gerade deshalb nachruftauglich?
Aber Le Monde erwähnte auf den acht Seiten immerhin auch Lanzmanns künstlerischen Absturz mit seinem Film «Tsahal» (1994) auf zehn Zeilen als «sehr diskussionswürdig». In den meisten Nachrufen fehlt jeglicher Hinweis auf den Film, oder er wird zur «Dokumentation» (Berliner Zeitung) verharmlost. In der NZZ wird «Tsahal» zu einem Film, «in welchem Lanzmann aufzeichnet, inwiefern der Holocaust das Selbstbild der israelischen Armee noch immer zeichnet». Das ist so informativ wie der Nachruf in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung, die nur den Filmtitel nennt – wie Wikipedia. An den Wikipedia-Standard hielten sich denn auch die meisten Nachrufer – etwa im Tages-Anzeiger und in der Weltwoche, in der sogar der Filmtitel fehlt, bis zur albernen Bemerkung bei Spiegel-online: «Aber ‹Tsahal› ist im Grunde nur eine überlange Fussnote zu ‹Shoah›».
Zugegeben, über «Tsahal» zu schreiben, ist ungefähr so schwierig, wie eine ausgestorbene Nashornart zu fotografieren, denn der Film wird seit 24 Jahren so gut wie nirgendwo gezeigt. Und dafür gibt es gute Gründe. Ich sah den Film bei seinem Erscheinen im Dezember 1994 in einem kleinen Pariser Kino, zusammen mit einem guten halben Dutzend Zuschauern und etwa doppelt so vielen Leuten von der sécurité in Zivil im Saal. Vor dem Kino standen acht uniformierte Polizisten.
Das spricht nicht gegen den Film, belegt aber, warum «Shoah» und «Tsahal» zwar vom gleichen Autor, aber nicht von gleichem Kaliber sind. Der als Dokumentarfilm über die israelische Armee gedachte, aber schlecht getarnte heroisierende Propagandafilm über diese, interessierte nicht das Publikum, sondern vor allem Sicherheitskräfte.

«Caesar schlug die Helvetier in die Flucht»

Als man die Geschichte noch für eine von grossen Männern hielt, konnte man sie als Kriegsgeschichten aufschreiben. Solche Geschichten behandelten das letzte taktische Scharmützel und kolportierten Gerüchte aus den Offizierscasinos, aber was Krieg bedeutet oder gar warum er «ausbrach» – wie die einfältige Schulbuchformel früher lautete –, lag jenseits jener anachronistischen Unternehmen. Es war deshalb ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen, wenn der französische Dokumentarist Claude Lanzmann die Geschichte Israels als die seiner Armee darstellen wollte. Nicht einmal die Geschichte dieser Militärdemokratie, die sich seit ihrer Gründung praktisch im permanenten Kriegszustand mit ihren Nachbarstaaten befindet, geht in Armee- und Kriegsgeschichte auf.
Der Titel des fünfstündigen Films «Tsahal» besteht aus den Anfangsbuchstaben des hebräischen Wortes für den offiziellen Namen der «Armee der Verteidigung Israels». «Verteidigung» (hebräisch: haganah) hiess auch die jüdische Geheimarmee, die in der Zeit des britischen Mandats mit terroristischen Mitteln kämpfte. Um jede Erinnerung daran zu tilgen, sprach der ehemalige Ministerpräsident Begin meistens nur von der «Armee Israels» (so Amnon Kapeliouk, Le Monde diplomatique, November 1994).
Die reale Tsahal ist, wie aus der Geschichte des Staates hervorgeht, mehr als einfach eine bewaffnete Macht wie jede andere Armee. Sie ist eine der drei Säulen israelischen Selbstverständnisses (zusammen mit der jüdischen Religion und der Erinnerung an die Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nazis). Die Armee ist ein entscheidender gesellschaftlicher und politischer Integrationsfaktor. Der Film «Tsahal», soweit er mit dem Anspruch, ein Dokumentarfilm zu sein, auftritt, hätte die historische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verflechtung der Armee mit dem Staat und mit der Gesellschaft mit filmischen Mitteln zu zeigen. Daran scheitert Lanzmann inhaltlich und ästhetisch total.

Distanzlose Heroisierung der Armee

«Tsahal» ist ein heroisierender Monumentalfilm, der den Zuschauer minutenlang dem zweifelhaften Charme von Militärmaschinen aussetzt und dazu keine besseren Mittel findet als das Abfilmen von Panzern, die mit ohrenbetäubendem Lärm durch die Wüste donnern, oder Flugzeugen und Helikoptern, die ihre Motoren aufheulen lassen. Ikonographisch transportiert das langweilige Abfilmen militärischer Kulissen und Requisiten über wenigstens eine Stunde gar nichts Wissenswertes, aber viel stählerne Prächtigkeit. Die Kameraführung dokumentiert in ihrer Haltung zum Sujet die gleiche heroisierende Unterwürfigkeit und anbiedernde Distanzlosigkeit, wie man sie aus der Geschichte des Propagandafilms kennt. Ein Fall von Spurwechsel: von der anstrengenden Wahrheitssuche mit Kopf und Kamera in «Shoah» zur medialen Parolenpracht der fernsehgerecht-schäbigen «Doku».
Zum Rohrkrepierer, um im Genre zu bleiben, wird das Unternehmen «Tsahal» für den kritischen Intellektuellen Lanzmann. Gegenüber jungen Männern, die von ihren Panzern sagen, diese vermittelten ein «powerful feeling», hätten eine «Seele», die ihnen «bei guter Pflege … Liebe und alles andere» spenden würden, hat die Kamera kein Gegenmittel und Lanzmann selbst nicht einmal eine Frage, geschweige denn eine kritische. Über weite Strecken dominiert der reine Militärkitsch, womit jede Armee und jede Räuberbande wirbt.
Ein Panzerfahrer bezeichnet die enge Kabine als «sein Zuhause», das er «wie eine Wohnung mit privaten Gegenständen» einrichte, einem anderen tönt Schiesslärm und Kanonendonner wie «richtige Musik», ohne dass Kamera und Autor auch nur sachte zuckten. Die Darstellung der israelischen Strategien und der Kriege seit dem Sechs-Tage-Krieg durch blutjunge Offiziere hört sich so klippschülerhaft an («wie töten, ohne getötet werden?»), dass eine Pariser Zeitung mit Recht schrieb, dem Film mangle es schlicht an «vertiefenden Recherchen» – ein Todesurteil in zwei Worten für einen Dokumentarfilm. Und wo höhere Offiziere und Politiker zu Wort kommen, wird der Film nicht informativer, sondern nur ideologischer, z.B. durch Anleihen aus der Bibel, die als Grundlage des militär-strategischen Denkens in Israel herhalten müssen.
Ganz ungerecht behandelt der Film die Rolle der Armee in den besetzten Gebieten. Da werden Steine aus den Händen palästinensischer Kinder zu «Waffen», aber wie viele Kinder erschossen wurden, erwähnt Lanzmann nicht, obwohl er zu den Verhältnissen im Gaza-Streifen auch kritische Stimmen dokumentiert (Avigdar Feldmann, Amos Oz und David Grossmann). Deren Gesamtanteil am fünfstündigen Film ist allerdings grotesk gering.
Die einzige längere Passage, in der der Film über das affirmative Abfilmen hinausgeht, handelt von den Verhältnissen am Grenzübergang über den Jordan an der Allenby-Brücke. Die bürokratischen Schikanen an den ehemaligen innerdeutschen Grenzen erscheinen geradezu als Bagatellen, wenn man sieht, mit wieviel infamem Perfektionismus Palästinenser erniedrigt werden. Und ausnahmsweise meldet sich in diesen Sequenzen auch der kritische Autor Lanzmann für ein paar Einstellungen zurück. Ganze drei Fragen gehen an Opfer. Dann fällt er wieder in biedere Offizierscasino-Gemütlichkeit zurück, als ihm ein Palästinenser auf die Frage nach der Zahl seiner Kinder mit seinem Alter antwortet.
Die israelische Zeitung Haaretz (21.10.94) sprach von «einseitiger und tendenziöser Propaganda», die «am Rassismus, an der Gewalt, an den Erniedrigungen, die es in den besetzten Gebieten gibt», einfach vorbeifilme. Die kurze und klare Kritik Avigdar Feldmanns an der Folterung palästinensischer Delinquenten, die das offizielle Israel «gemässigten physischen Druck» nennt, kontert der Film mit ebenso langatmigen wie entmutigenden Rechtfertigungskapriolen aus dem Munde hoher Militärs.
Der Film Lanzmanns scheitert aber nicht nur an dem, was er zeigt, sondern vor allem auch daran, was er verschweigt. Der Krieg der realen Tsahal im Libanon wird zweimal ganz kurz erwähnt, aber ohne ein Wort darüber, was die Armee dort angerichtet hat bei der Bombardierung von Flüchtlingslagern oder bei der Abriegelung der Lager von Sabra und Schatila, als die israelische Armee einem Massaker «christlicher» Falange-Milizen an unbewaffneten Palästinensern teilnahmslos zusah, obwohl sie es hätte verhindern können. Ariel Scharon, der «Held» im Libanonkrieg, wird ausführlich interviewt, ohne dass vom Libanon die Rede wäre.
Nachrufe müssen glätten, aber müssen sie gleich so drastisch verschweigen, verdrängen und planieren?

Postskriptum: Ohne die Einleitung über die Lanzmann-Nachrufe und die Schlussfrage erschien dieser Text in der Süddeutschen Zeitung vom 3./4. Dezember 1994. Der Text erregte Josef Joffe, den damaligen Leiter des Ressorts Aussenpolitik (und heutigen Herausgeber der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit». Red.), so sehr, dass er umgehend nach Paris flog und mit einem Artikel zurückkam, in dem Lanzmann auf vier Spalten Gelegenheit bekam, für seinen Film «Tsahal», für die israelische Armee und die israelische Politik die Werbetrommel zu rühren (Josef Joffe, Schoah und Wiedergeburt im Panzer, Süddeutsche Zeitung vom 28. Dezember 1994).


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Rudolf Walther: Historiker, freier Journalist für deutsche und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften, wohnhaft in Bad Soden a.T. in der Nähe von Frankfurt.

    Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion und Koordination), Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.

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