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Religionszugehörigkeit soll strikt zur Privatsphäre gehören © rbl.redpicture/flickr/cc

Religionsfreiheit nach dem Mohammed-Video (1.Teil)

Ludwig A. Minelli /  Das Menschenrecht auf freie Ausübung einer Religion ist der Aufklärung zu verdanken. Mit der Migration braucht es neue Regeln.

Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist, wie andere Menschenrechte auch, eine Errungenschaft der Aufklärung. Es räumte damit auf, dass alle Bewohner eines Landes nur jene Religion annehmen und ausüben durften, welcher der jeweilige Fürst angehangen hat und setzte damit den jahrhundertealten Grundsatz «cuius regio, eius religio» ausser Kraft: Es sollte nicht mehr der Fürst sein, welcher die Religion seiner Untertanen bestimmt. Jeder Mensch soll seine Religion frei wählen, ändern oder auch keiner Religion angehören können.

Sicherung des Religionsfriedens

Dies war nicht zuletzt auch ein Postulat, von dem angenommen wurde, es sichere den Religionsfrieden: Wenn nicht mehr ganze Landstriche und Staaten nur einer und die jeweiligen Nachbarn einer anderen Religion an gehören, würden die vor allem im 17. Jahrhundert so verheerend aufgetretenen Religionskriege nicht mehr möglich sein.
Die einzelnen Staaten selbst entwickelten unterschiedliche Positionen in ihrem Verhältnis zur Religion. Noch ist es nicht lange her, dass Artikel 1 der Verfassung des Kantons Tessin – noch bis Ende 1997! – den Wortlaut hatte: «Die katholische apostolische römische Religion ist die Religion des Kantons». Auch andere Kantone kannten ähnliche Bestimmungen.

ARTIKEL 9 DER EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention)

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken, Gewissens und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.
(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Neue Herausforderungen

Doch seit einiger Zeit haben sich in diesem Bereich neue Herausforderungen ergeben. Sie sind einerseits darauf zurückzuführen, dass auf dem ganzen Globus im Zeitalter der Globalisierung der Wirtschaft und der aus den dadurch hervorgerufenen Verwerfungen grosse Migrationsströme entstanden sind, die viele Angehörige von vorher gebietsfremden Religionen in andere Weltgegenden verfrachtet haben. So etwa ist in Deutschland durch die starke Nachfrage nach türkischen Arbeitskräften gleichzeitig die Islamfrage in ein Gebiet «importiert» worden, das bisher als überwiegend von Christen bewohnt galt.

Veränderung bei Kinderrechten und Privatsphäre
Durch das Anwachsen bisher Gebiets fremder religiöser Minderheiten haben sich insbesondere Probleme beim öffentlichen Schwimmunterricht für Mädchen, in der Frage des Tragens von Kopftüchern oder gar von Burkas und ähnlichen verschleiernden Kleidungsstücken für Frauen ergeben.

Anderseits sind diese neuen Herausforderungen dadurch entstanden, indem die Anschauungen und das Verhalten der Menschen sich in anderen Bereichen verändert haben. So etwa wird heute den Rechten von Kindern ungleich mehr Bedeutung als früher zugemessen; daher die Debatte über die Zulässigkeit religiöser Beschneidung von Knaben in einem Alter, in welchem sie unfähig sind, ihren diesbezüglichen Willen zu äussern.
Oder die paradoxe Entwicklung, dass die Religionszugehörigkeit eines Menschen eine «besonders schützenswerte Tatsache» sei, wogegen anderseits das Privatleben eines Menschen immer öffentlicher zu werden scheint.

Dies alles zwingt dazu, die Frage zu prüfen, ob die bisherige Auffassung von Religionsfreiheit noch richtig oder aber in einigen Punkten zu ändern ist.

Festzustellen ist, dass die Religion jener Bereich ist, der seit längerem zu den heftigsten Auseinandersetzungen in aller Welt führt, nicht nur im Ausland. Und dies, obschon in unserer Gesellschaft der Anteil jener, die keinem religiösen Bekenntnis mehr anhängen, kontinuierlich steigt.

Als «absolute Wahrheit» betrachtet

In kaum einem anderen Bereich menschlichen Denkens und Fühlens besteht eine so starke Neigung, die eigene Auffassung für die absolute Wahrheit zu halten und jede Infragestellung dieser «Wahrheit» als Angriff auf die eigene Identität zu erleben.

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Menschen in der Regel religiöse Inhalte schon sehr früh in ihrem Leben vermittelt werden. Nur den wenigsten ist es im späteren Leben dann noch möglich, zu diesen Inhalten eine kritische Einstellung zu gewinnen. Dazu sagt der grosse deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (17881860):
«So stark ist die Gewalt früh eingeprägter religiöser Dogmen, dass sie das Gewissen und zuletzt alles Mitleid und alle Menschlichkeit zu ersticken vermag. Willst du aber, was frühe Glaubeneinimpfung leistet, mit eigenen Augen und in der Nähe sehn, so betrachte die Engländer. Sieh diese von der Natur vor allen andern begünstigte und mit Verstand, Geist, Urteilskraft und Charakterfestigkeit mehr als alle übrigen ausgestattete Nation, sieh sie, tief unter alle andern herabgesetzt, ja, geradezu verächtlich gemacht durch ihren stupiden Kirchenaberglauben, welcher zwischen ihren übrigen Fähigkeiten ordentlich wie ein fixer Wahn, eine Monomanie, erscheint.
Das haben sie bloss dem zu danken, dass die Erziehung in den Händen der Geistlichkeit ist, welche Sorge trägt, ihnen sämtliche Glaubensartikel in frühester Jugend so einzuprägen, dass es bis zu einer Art partieller Gehirnlähmung geht, die sich dann zeitlebens in jener blödsinnigen Bigotterie äussert, durch welche sogar übrigens höchst verständige und geistreiche Leute unter ihnen sich degradieren und uns an ihnen ganz irre werden lassen.»

Vernunft gegen Unbeweisbares

Religiöse «Wahrheiten» sind in aller Regel unbeweisbar und widersprechen vielfach unumstösslichen Naturgesetzen und «Wahrheiten» anderer Religionen. Sie sind deshalb von vornherein ungeeignet, gesellschaftliche Grundlage für jedermann zu sein.
Deshalb muss der Staat, der für alle Menschen da ist, sorgsam darauf achten, dass religiöse Inhalte und deren Wirkungen dem öffentlichen Bereich tunlichst ferngehalten werden. Der Staat hat auch darauf zu achten, dass durch die Ausübung einer Religion und die Praktizierung ihrer Bräuche nicht etwa wesentliche andere Menschenrechte beeinträchtigt werden. Dies kann letztlich nur in der Weise gelingen, dass Religion und Religionsausübung so stark wie nur immer möglich ganz in den privaten Bereich verwiesen werden. Auch jegliche Privilegierung irgendwelcher Religionen ist konsequent zu beseitigen.

WELCHES IST IHRE MEINUNG? SIE INTERESSIERT UNS.

Dieser Beitrag erschien im September 2012 in «Mensch und Recht»

Es folgt ein zweiter Teil: «Bürgerinnen und Bürger sollen wissen, welchen weltanschaulichen Überzeugungen öffentliche Personen anhängen.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist verantwortlicher Redaktor der Quartalszeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention «Mensch und Recht». Minelli ist auch Gründer und Verantwortlicher der Lebens- und Sterbehilfevereinigung Dignitas.

Zum Infosperber-Dossier:

FRANCE-GAY-MARRIAGE-DEMO

Toleranz gegenüber Fundamentalisten?

Forderungen nach präventiver Überwachung der Bürger, nach Verboten von Waffen oder der Burka stehen im Raum.

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