Kommentar

Schöne neue Schulwelt

Linda Stibler © Claude Giger

Linda Stibler /  Konkurrenzkampf und Wettbewerb dienen der Bildung nicht und verhindern Chancengerechtigkeit. Warum nur glauben trotzdem alle daran?

Es ist grotesk: Vier Mütter organisieren sich in einer WhatsApp-Gruppe, um zu überwachen, ob ihre Kinder zu Hause sämtliche Hausaufgaben ehrlich deklarieren. Abwechselnd geht eine der Mütter in die Schule und fotografiert mit dem Handy die Wandtafel. Dort sind die Hausaufgaben aufgelistet. Die «Beweisfoto» schickt sie dann an die anderen Mütter. (So geschildert in einem Artikel der «Tageswoche»).
In den Siebzigerjahren haben sich Eltern verbündet, um eine engagierte Lehrperson zu unterstützen oder sich gegen autoritäre Schulstrukturen zu wehren. Heute geht es darum, die eigenen Kinder vorwärtszubringen, sie fit zu machen für den Konkurrenzkampf in der Erwachsenenwelt, sie anzupassen an die Bedürfnisse des Arbeitslebens. Die Geschichte mit den vier Müttern – so seltsam sie anmuten mag – ist symptomatisch für eine gravierende Veränderung, die sich in die Gesellschaft eingefressen hat.
«Arbeit schändet nicht»
Nicht dass früher alles besser war. Immer verband sich schulischer Erfolg mit der Hoffnung auf sozialen Aufstieg. Doch es war nicht das dominierende Ziel, umso mehr als «höhere Bildung» nicht automatisch zu höherem Einkommen führt. Handwerk hatte seine eigene Wertigkeit, die mit Anerkennung und Ansehen verbunden war. Spätestens nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen und den damit verbundenen sozialen Verwerfungen war die Einsicht gewachsen, dass Lohnarbeit den Menschen ihr Auskommen sichern müsste. Das galt auch für sogenannt niedrige Arbeit. Es gehörte zum Selbstverständnis der modernen westlichen Gesellschaften. «Arbeit schändet nicht» war ein stolzer bürgerlicher Leitspruch.
Eltern verhiessen ihren Kindern, dass sie ihr Glück im Leben und im Beruf finden würden und dass Bildung ihnen dabei helfen werde. Lehrer hofften, dass sie ihren Schülern das Nötige für ein zukünftiges Erwachsenenleben beibringen und ihr Selbstvertrauen stärken könnten. Bildung müsse den Menschen emanzipieren, sagten Pädagogen unverschämt. Und eine möglichst breit gestreute Allgemeinbildung sei die unverzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie – das war eine ebenso breit gestreute wie unwidersprochene Meinung. Das alles sind bescheidene Wünsche und Hoffnungen, sie sind aber zweitrangig geworden, seitdem der Konkurrenzwahn Einzug gehalten hat.
Fragt man heute Eltern, Lehrer, Pädagogen, Politiker oder auch nur seinen Nachbarn, warum Kinder zur Schule gehen sollen, dann kommt die Antwort postwendend: Sie müssen möglichst gute Leistungen bringen, sie sollen später einen möglichst guten Job finden – und auch möglichst viel verdienen. Letzteres sagt man selten offen. – Und noch etwas? Meistens kommt keine oder eine verunsicherte Antwort zurück.
Sieger und Verlierer
Was ist nur in den letzten zwanzig Jahren passiert? Es hat sich eine völlig neue Ideologie verfestigt – einem religiösen Glauben gleich: Der Zauberschlüssel heisst Konkurrenz. Im Wettbewerb zwischen Personen, zwischen Firmen, zwischen Staaten setzt sich immer der Beste durch. Also muss man nur den Wettbewerb organisieren, dann findet man die besten Lösungen, von denen alle profitieren. Das jedenfalls ist die Verheissung. In der Wirtschaft hat sich diese Ideologie bereits etabliert, man hat den Wettbewerb organisiert, d.h. jene haben ihn organisiert, die davon zu profitieren hoffen. Nicht ein Naturgesetz oder ein unsichtbarer Markt hat ihn geschaffen, sondern Menschen haben Regeln aufgestellt, die dem Tüchtigen den Sieg versprechen.
In der Tat hat sich die Wirtschaftswelt verändert – nicht zugunsten von allen, denn wo es Sieger gibt, gibt es auch Verlierer, und die sind meistens zahlreicher. So werden die einen immer reicher, die andern jedoch sehen ihren sicheren Mittelstand bedroht oder gleiten gar in die Armut ab. Angst verbreitet sich. Das ist der Boden auf dem sich diese Ideologie langsam auf die Bildung überträgt – mit gezielter Absicht. Das Signal kam von der Wirtschaftswissenschaft (z.B. vom neoliberalen Vordenker Milton Friedman) und im Gefolge von mächtigen internationalen Wirtschaftsorganisationen wie der OECD.
Unseliger Vergleichswahn
PISA war das Startprojekt, das jenes Konkurrenzdenken implementieren sollte. Anhand von Leistungstests wurde der Bildungsstand von einzelnen Schulen und ganzen Ländern gemessen. Was gemessen wurde, bestimmten die Experten eben dieser Organisationen. Sie bestimmten damit auch, was die wichtigen Indikatoren von Bildung zu sein hatten. Die Ländervergleiche, die mit Hilfe eines grossen Propaganda-Aufwandes überall verbreitet wurden, lösten genau jenen psychologischen Schockeffekt aus. Die Resultate wurden zuerst ungläubig, dann aber mit Stolz oder Scham zu Kenntnis genommen. Neid und Angst verbreitete sich. Wurden ganze Regionen oder gar Länder abgehängt und deren kommende Generationen auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt? Was mussten Regierungen und Bildungspolitiker unternehmen, damit es nicht so weit kommen würde?
Top-down, also konsequent hierarchisch und meistens ohne demokratische Legitimation wurden hier Neuerungen durchgesetzt und mit falschen Versprechen verbrämt. Alle Kinder müssten Anspruch auf jene Bildung haben, die ihnen Zugang zur Arbeit sichere. Das sei gerecht. Doch Arbeit ist immer weniger garantiert; und Eltern hoffen mit mehr Bildung ihre Kinder von den Rationalisierungsschüben verschonen zu können. Wie diese Bildung auszusehen hat, wird in den Vergleichstests ermittelt. Das müsse man den Fachleuten überlassen und darüber könne man nicht demokratisch entscheiden. Die Tests wurden damit zum Instrument auch der nationalen Bildungsvergleiche.
Tests, Checks, Dauerstress
So geschehen auch in der Schweiz, zuletzt mit dem Lehrplan 21, dessen Inhalte nicht unumstritten sind, die aber sogleich mit Tests verknüpft wurden, denen alle Beteiligten unterworfen werden. Die Tests gehören jetzt überall zum Schulalltag, an manchen Orten kommen noch die Checks dazu, die unter dem Druck von Arbeitgeberverbänden eingeführt wurden.
Tests und Checks werden nicht situationsgerecht von den Lehrern für ihre Schüler gemacht, sondern sie sind standardisiert und stammen von privaten Experten oder darauf spezialisierten Firmen, die gut dafür bezahlt werden. Sie wollen nicht mehr als eine Standortbestimmung sein, damit alle doch auch wüssten, wo sie stehen: Schulleitungen, wie es um ihre Schule steht, Lehrerinnen, damit sie wissen, ob sie den Durchschnittswert geschafft und ihr Soll erfüllt haben, Eltern damit sie wissen, wie es um ihr Kind steht.
Kinder sind von den ständigen Tests gestresst. Alle aber, und das ist das Verheerende an der Geschichte, befinden sich in einem dauernden Vergleichen und Konkurrenzieren. Logisch, dass das dem Klima und dem Vertrauen zwischen Eltern und Lehrer, zwischen Lehrer und Schulen nicht förderlich ist. Kinder sind unglücklich, wenn sie nicht genügen oder nicht zu den Siegern gehören. Eltern versuchen, sie zu unterstützen, unter anderem indem sie noch mehr Leistungsdruck aufbauen.
Mehr als ABC und 1×1
Würde man Kinder vor dem Schuleintritt fragen, warum sie zur Schule gehen wollen, dann wäre die Antwort eine ganz andere. Entgegen der absurden Behauptung, dass man Kinder zum Lernen anhalten – ja zwingen – müsse, wollen Kinder das lernen, was die «Grossen» können, sie möchten, dass ihnen die Erwachsenen (und die LehrerInnen) die Welt erklären. In der Schule treffen Kinder andere Kinder. Und das ist ihr grösstes Glück. Sie finden dort vielleicht Freundinnen und Freunde und lernen eine Gemeinschaft ausserhalb der Familie kennen.
Das alles gibt es noch in den heutigen Schulen. Es gibt Lehrkräfte, die sich mit Leidenschaft einsetzen, es gibt Kinder, die mit Freude in die Schule gehen und sich dort aufgehoben fühlen. Und allen Unkenrufen zum Trotz können die meisten Schulabgänger noch einiges mehr als Sprache und Mathematik. Damit das alles nicht gefährdet wird, muss man sich gegen den Übergriff des rein ökonomischen Denkens auf die öffentlichen Schulen zur Wehr setzen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Linda Stibler ist Mitglied der Fachgruppe Bildung im Denknetz.

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2 Meinungen

  • Portrait_Bernhard_Bonjour
    am 6.12.2016 um 14:50 Uhr
    Permalink

    Das richtige Wort zur richtigen Zeit! Mögen es alle hören und darüber nachdenken.
    Pisa gebe Steuerungswissen, haben wir heute morgen Erziehungsdirektoren-Chef Eymann sagen hören. Steuern will eine um sich greifende Bildungsbürokratie und Bildungsindustrie: Die Lehrerinnen und Lehrer sollen nur noch Erfüllungsgehilfen sein. Als der Lehrplan 21 neu war, wurde uns gesagt, Lehrpersonen müssten den gar nicht lesen. Er sei für die Verfasser der Lehrbücher gedacht, die sich daran halten müssten. Die Lehrpersonen müssten lediglich das Lehrbuch gemäss den Richtlinien anwenden. Die Pädagogischen Fachhochschulen würden dann «forschen» (gemeint ist: messen und Kurven zeichnen, das ist ihr sehr beschränktes Verständnis von «Wissenschaftlichkeit") und aufgrund des gewonnenen «Steuerungswissens» neue Handreichungen für die Lehrpersonen ausarbeiten, welche diese dann umzusetzen hätten. Top-Down, wie Linda Stibler sagt. Das Gegenteil von Bildung.
    Danke für den Aufruf zum Widerstand, er ist bitternötig.

  • am 12.12.2016 um 15:01 Uhr
    Permalink

    @Linda Stibler: Vielen Dank für deine treffliche Analyse des aktuellen Zustands unseres Schulsystems. Ergänzt werden müsste noch ein weiterer Punkt: Es ist die zunehmende Akademisierung von Berufsausbildungen, die die verhängnisvolle Selektion der Schülerinnen und Schüler via Tests, Checks und messbaren Daten immer weiter vorantreibt. Das ist die Folge der OECD-Studien, die die Schweiz mit ihren im internationalen Vergleich unterdurchschnittlichen Maturitätsquoten im Hintertreffen wähnte – weil die Bildungsbürokraten das in der Schweiz erfolgreiche duale Bildungssystem nicht begriffen haben. Rudolf Strahm hat das dargestellt.
    Und in diesem Zusammenhang:
    @ B. Bonjour: Danke für die Unterstützung des Widerstands gegen die Tendenz einer – scheinbaren! – Verwissenschaftlichung von Bildung, wie sie sich im Lehrplan21 und im Anspruch von zunehmend kopflastigeren Ausbildungsinhalten auf allen Schulstufen manifestiert.

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