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«The Architecture of Transit»: Aufnahme aus dem Fotobuch von Sue Barr © Sue Barr

Pfade, Strassen … Autobahn!

Hans Steiger /  Sommer, Ferien – also auch Alpen. Hier zur Einstimmung eine vielseitige und kurvenreiche Buchbergtour samt Abfahrt in den Süden.

«Æther» ist ein Versuch, wissenschaftliche Inhalte auf neue Art zu vermitteln. Die dritte Ausgabe offeriert «Pfade durch die Alpen», eher historisch, oft etwas abseitig. Begonnen hat die Exkursion einer interdisziplinären ETH-Projektgruppe im Sommer 2018 «ohne Funktionskleidung und Reisegepäck» mit einem Museumsbesuch in Winterthur. Inspiriert von gemalten Berglandschaften tastete sie sich mit je eigenen Forschungsinteressen auf ungesichertem Terrain vor. «Wir suchten nach neuen Ansichten von bekannten Erzählungen sowie nach alternativen Formen des Erzählens von Alpengeschichte.» Material dazu ist an Zürcher Hochschulen reichlich vorhanden.

Alpenmoral plus Gletscherspiritus

Nachdem ich davor ein paar Bücher lang mit Alexander von Humboldt global unterwegs gewesen war, wurde nun Albrecht von Haller zum Begleiter. Dieser war neben Gessner und de Saussure um 1750 herum prägend, wenn es um Gebirgiges in unseren Breiten ging. Selten nur fehlt sein Name in den insgesamt elf Versuchen, den damaligen Natur-, Lebens- und Wirtschaftsraum ausleuchten. Nicht brav von A bis Z, sondern sprunghaft von A bis K, wo als Finale gezeigt wird, wie im 19. Jahrhundert mit dem Wettkampf um Erstbesteigungen der höchsten Gipfel ein von Tourismusinteressen befeuertes Medienspektakel begann.

Montan-Welten: Alpengeschichte abseits des Pfades. Æther 03 – Mai 2019. Intercom, Zürich, zirka 170 Seiten, 15 Franken. Digital via aether.ethz.ch
Der erste der mehrheitlich von Frauen verfassten Beiträge würdigt «Hallers politische Pflanzen». Alina Ragoni hinterfragt die verquere Moral, welche der Universalgelehrte im berühmten Sinngedicht «Die Alpen» vertrat, sowie die Hierarchien in seiner botanischen Poesie. Da – zum Beispiel – «ragt das hohe haupt am edlen Enziane weit übern niedern chor der pöbelkräuter hin», «ein ganzes blumenvolk dient unter seiner fahne». Weiter hinten wundern sich Sascha Müller und Tina Asmussen, dass der gebildete Mediziner sich höchst prominent als Werber für «Gletscher-Spiritus» zitieren liess, einem Mix aus geschmolzenem Eis und Salz aus den Berner Alpen. Glaubte er tatsächlich, dass das bei «gefährlichsten und langwierigsten Krankheiten» helfe? Haller, «der gemeinhin als eine der grossen Lichtgestalten der Aufklärung gilt», gab einem durchaus umstrittenen Produkt seinen Segen. Hat er vielleicht beim lukrativen Handel mitverdient? Immerhin amtete er zeitweilig als Direktor von Berner Salzbergwerken. Aber das sei «womöglich eher ein Problem für uns heutige Leserinnen und Leser». Jedenfalls war «Alpenfaszination» schon damals vermarktbar.

Im weiteren geht es etwa um das Rind zwischen Realität und Romantik, die komplexen Strukturen traditioneller Alpwirtschaft sowie deren Mobilität, oder um das Echo, welches nicht nur «als Scherz der spielenden Natur» genommen, sondern so ernsthaft erforscht wurde wie die verschiedenen Blautöne des Himmels. Ganz entzaubern konnte all dies die Alpen, den auch mit Schrecken verbundenen Inbegriff «göttlicher Schöpfung», nicht. Vieles ist eben einfach prachtvoll, weckt paradiesische Gefühle. Ja, die Emotionen sind ebenfalls Stoff eines Essays und in den Texten spürbar. Nicht zuletzt darum las ich die nur «in limitierter Auflage» gedruckte Zeitschrift gern. Eher ungern gestehe ich, dass die kostenlose digitale Version attraktiver ist. Da gibt es Bilder in Farbe, bezüglich Echo gar Töne. Und ein Link zum Echotopos Schweiz führte zum mir bisher unbekannten «Echo mit einem eigenen Weg» – in Wald, unserer Nachbargemeinde!

Heiditum – gut illustriert analysiert

Auch nicht sehr weit weg liegt «Heidiland». Thomas Barfuss präsentiert es exemplarisch in seinem Buch über «Authentische Kulissen». Da komme ich mit Garantie nie hin, aber es war gut, die «alpine Idylle» einer Autobahnraststätte wenigstens einmal im Bild und detailliert beschrieben zu sehen: Bei einem Turm mit edlem Ambiente öffnet sich auf halber Höhe von Zeit zu Zeit eine Tür. «Auf unsichtbaren Schienen fährt dann über dem Gehege mit der überfütterten Zwerggeiss und der grünen Marché-Kuh ein hölzernes Heidi vor und ruft über den Parkplatz nach seinen Lieblingsgeissen.» Dazu schmetternd die Schnulze aus den 1970er-Jahren: «Deine Welt sind die Be-her-ge.» Schnellimbiss mit internationalem Personal und Swissness-Akzent, natürlich Messer, Uhren, touristischer Ramsch. Dem reportageartig locker gehaltenen Bericht über die Visite folgt ein Abriss der von viel Streit geprägten Entstehungsgeschichte. In der tiefer schürfenden Analyse wird das «Heidi auf der Autobahn» dann zum typischen, doch gestrigen Modellfall erklärt, selbst «völkische Folklore» ins Spiel gebracht. Ideologisch führe zwar «kein direkter Weg von Hitler zu Heidi», aber der nationalsozialistische Nationalstrassenbau habe einst «die Integration des deutschen Volkes via Verkehr» vorantreiben und «die unterschiedlichen Stammeseigenschaften» neu konturieren wollen, wird aus einer Studie über die Inszenierung der «Strassen des Führers» zitiert …
Abwegig? Zuweilen wirkt die Argumentation auch im Ton abgehoben. Es handelt sich hier halt gleichfalls um eine Studie, publiziert vom Bündner Institut für Kulturforschung. So gesehen erscheint das Ganze dann wieder erstaunlich lesbar, anschaulich und frech. Insgesamt geraten sechs kantonale Fälle von Inszenierungen verschiedenster Art ins Visier. Hinzu kommt noch der «Schellen-Ursli im Walliser Dorf», eine speziell schräge Exportkreation für den Europapark Rust. Heiditum mit wechselnden Versatzstücken ist fast überall zu finden. Im zur gesichtslosen Alpen-Agglo gehörenden Landquart sollte das Fashion Outlet, eine bieder durchgestylte, verkehrsbefreite Shopping-Strasse, gemäss Architekten-Projekt «ein authentisches Dorfgefühl vermitteln». Folklorismus als pure Fassade, lautet die Bilanz von Barfuss.

Thomas Barfuss: Authentische Kulissen. Graubünden und die Inszenierung der Alpen. Verlag Hier und Jetzt, Baden 2018, 286 Seiten, 50 Abbildungen, 39 Franken
Ein randständiges Bergdorf probierte es quasi andersherum: Samnaun Dorf offeriert «Lokalkolorit als Warenbühne». Mit seiner Zollfreiheit als Trumpf hatte es in den 60er-Jahren spürbar Erfolg; die Zufahrtsstrasse musste wiederholt nachgebessert werden. Sie stammte nämlich aus der Zeit, als in Graubünden – immerhin bis 1925 – ein Autoverbot galt. Heute ist das vom motorisierten Verkehr bestimmte Modell nur noch absurd. Besonders beim Benzin, das Tanklaster ins Gebirge transportieren, «wo es von den automobilen Schnäppchenjägern tankweise gekauft und wieder zu Tal gebracht wird». Ganz allgemein räumt der Autor dem Auto als einem entscheidenden Faktor für Fehlentwicklungen viel Platz ein. Das einst als Grenzort ebenfalls durchaus lebendige Campocologno, wo sich bald nur noch der Durchgangsverkehr bewegt, markiert für ihn den «Nullpunkt der Inszenierung».

«Bauen in verletzlicher Umgebung»

Ebenfalls ins Bündnerland, vorwiegend ins Engadin, führt ein Brocken von Buch, dessen Titel mir lang rätselhaft blieb. «Close-up» sei ein «spezifisch architektonisches Thema», heisst es in einer Anmerkung. «Nah-, Grossaufnahme» erläutert der Duden. Präsentiert werden Bauten, vor allem Umbauten, die das mit Sitz in St.Moritz regional verankerte Büro Ruch & Partner von 1994 bis 2018 realisierte. Warum mich so etwas interessierte? Mich köderte wohl das imposante Bild auf dem Cover, und die erste kleine Zeichnung des bilderreichen Werkes bescherte mir ein Aha-Erlebnis. Obschon sie nichts damit zu tun hat, erinnerte sie mich an den Hügel des Castelgrande in Bellinzona, wo mich vor langer Zeit ein keck in den Fels gefügter Lift irritierte, faszinierte und erstmals mit dem Problem der Kombination von sehr alt und sehr neu konfrontierte.

Close-up. Hrsg. von Ruch & Partner Architekten. Fotografien: Filippo Simonetti. Scheidegger & Spiess, Zürich 2019, 424 Seiten mit gegen 600 Abbildungen und Plänen, 150 Franken
Dies ist das zentrale Thema. Hans-Jörg Ruch spricht es im Vorwort kurz an, Beispiele schaffen den Praxisbezug, und in der abschliessenden Würdigung wird es von Franz Wanner ausführlich beleuchtet. Lange habe gerade das Engadin als von der modernen Zivilisation verschonter Lebensraum gegolten. Was war hier architektonisch möglich und vertretbar? Eine der heikelsten Aufgaben sei die Erweiterung einer Bergunterkunft im Bernina-Massiv gewesen, wo sich wirklich noch letzte Rückzugsorte unberührter Natur befinden. «Bauen in dieser verletzlichen Umgebung bedeutet für die Architekten eine entsprechend grosse Herausforderung.» Sie ist zu meistern, wie die der Chamanna da Tschierva gewidmeten acht Seiten zeigen. Ein frisches Holzhaus, perfekt verknüpft mit klassischem SAC-Hütten-Gestein.
Befremdlich kalt fand ich den zuerst vorgestellten Bau, ein Kirchgemeindezentrum in Grono. Für die kleine evangelische Minderheit der Region sei es «eine lang ersehnte Heimat» geworden, Zeichen der «Selbstständigkeit und Selbstverständlichkeit». Das für mich schlicht schöne Umschlagbild entpuppte sich als Detailaufnahme eines von fern klein wirkenden Elektrizitätswerk-Zweckbaus. Eine vielfältige, überraschungsreiche Mischung.
Bei privaten Projekten dominiert Herrschaftliches. Oft geht es um Gebäude, die bereits im Mittelalter von überdurchschnittlichem Reichtum zeugten, danach landwirtschaftlich weiter genutzt und über Jahrhunderte mit allerlei Zusätzen ergänzt wurden. Nun galt es, das Ursprüngliche hervorzuholen, dann sorgfältig zu restaurieren, um- und auszubauen. Die aufgezeigten Probleme sind überzeugend gelöst. Alles beeindruckend, auch schön. Auffallend häufig wurden zusätzliche Räume für Kunstpräsentationen geschaffen. Sie sind in der Fotodokumentation meist leer, wie die Wohnzimmer. In wenigen Fällen, wo dort bereits etwas steht oder hängt, leise Zweifel: Ist das nicht Kitsch? Nie der Gedanke: Hier möchte ich wohnen. Doch! Einmal, ein paar Tage im Gasthaus «Krone». Auf der Website sah ich die Preise. Sonderangebot mit Golf in St.Moritz, Samedan, Zuoz … Nein, kein Neid. Aber beim «Refugio», einem Neubau, der in Roticcio seit 2014 «wie ein massiver Felsblock im Hang» liegt, mit «sparsamen» Fensteröffnungen, «jedoch gezielt gesetzt, um die jeweils spektakulärsten Ausblicke zu rahmen», konnte ich mir die Anmerkung nicht verkneifen: Refugio für wen, für was? Und wo «Wohnhäuser» sich in der Beschreibung als Feriendomizile erwiesen, dämpfte das die Freude an der Form. Bemerkenswert die manchmal originellen Verstecke für störende Elemente: «Für die Autos fanden wir Platz im ehemaligen Viehstall; die Garage ist direkt mit beiden Wohnungen verbunden.» Selbstverständlich hat Filippo Simonetti als mehrfach ausgezeichneter Architekturfotograf für autofreie Bilder gesorgt.

Landschaft und Leben überfahren

Architekturaufnahmen waren auch die Spezialität von Sue Barr, als die mit Fotokunst heute international präsente Britin vor bald zwanzig Jahren in Italien unterwegs war. Sie sei eine begeisterte Benutzerin der Autostrade gewesen, lässt sich dem Nachwort von «The Architecture of Transit» entnehmen, und sie habe die Ingenieurleistungen und die «irrwitzige Topografie von Stadt, Bergen und Meer» bewundert. Doch kaum Bilder davon gemacht. Teils aus rein technischen Gründen. Später, als der Job des Hausporträtierens langsam zu langweilig geworden sei, hätten dann diese komplexeren Motive sie sowie David Heathcote, ihren nun darüber schreibenden Begleiter, als neue Herausforderung mehr und mehr beschäftigt. «Irgendwann begannen wir, über die Ästhetik von Stassen nachzudenken, da sie riesige, nicht enden wollende Konstruktionen sind, etwas völlig anderes als die klar begrenzte Form eines Gebäudes.» Interessant wurde auch das Darunter, von dem Fahrende wenig mitbekommen. Vorab diese kaum bunten, meist eher dunklen, wirr wirkenden Zonen rückt dieses Fotobuch ins Licht.

Sue Barr: The Architecture of Transit. Texte (deutsch-englisch-italienisch) von David Heathcote und Davide Papotti. Hartmann Books, Stuttgart 2019, 104 Seiten, 45 Abbildungen, 51 Franken
«Faszination und Abscheu» könnten beim Durchblättern des Buches wechseln, heisst es im Vorwort. Für mich als Nichtautomobilist, der den denkbaren Rausch des Überfahrens nicht kennt, durchschneidet das Band die Landschaft, als Dach bedrückt es Leben. Die ersten Aufnahmen, wo kurz noch die Wucht der Alpen mit den gewaltigen Bauwerken konkurriert, enthalten mehr Gleichgewicht. Doch danach: «Die Autostrade um Neapel und in Süditalien treffen mit einer grandiosen Missachtung auf den existenten urbanen Raum.» Sie erzeugt das Chaos und die Störungen, welche Barr einzufangen versucht. Spätestens die Aufnahme des Quartiers unter dem inzwischen eingestürzten Polcevera-Viadukt verwandelt Abscheu in Entsetzen. Die vor Ort nach dem Architekten als Ponte Morandi benannte Brücke sei zuvor «Anlass tiefen Staunens und nationalen Stolzes» gewesen. Seit dem 14. August 2018 haben wir jene anderen Bilder im Kopf.
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Dieser Text erscheint auch in der P.S.-Sommer-Buchbeilage.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine, aber der Autor ist ausgebildeter «Buchhandlungsgehilfe», wie das damals hiess, und er war lange Zeit in Bewegungen gegen Autobahnbauten und für Alpenschutz aktiv.

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