Kommentar

kontertext: Gegen die ideologische Genitalverstümmelung

Martina Süess ©

Martina Süess /  Warum die weibliche Anatomie uns alle etwas angeht.

«Tamara Funiciello schlägt vor, Klitoris-Plakate in Männer-WCs aufzuhängen», war am 27. September in der Gratiszeitung «20 Minuten» zu lesen. Ein grossartiger Vorschlag, der leider bisher kein mediales Echo fand. Vermutlich wurde er als Witz missverstanden. Dabei ist das mangelnde Wissen über die weibliche Anatomie eine ernsthafte Angelegenheit, nein: ein riesiges Problem. Es betrifft nicht nur das Sexualleben heterosexueller Frauen, es betrifft uns alle. Solange es kein wirkliches Wissen über die Beschaffenheit der weiblichen Sexualorgane gibt, bleibt der weibliche Körper ein ideologisches Schlachtfeld für (männliche) Phantasmen.

Politik der Auslöschung

Hintergrund von Funiciellos Vorschlag war ein Video der Organisation Sexuelle Gesundheit Schweiz, das laut «20-Minuten» «erschreckende Wissenslücken» zum Thema Sex sichtbar machte. Befragt wurden junge Politikerinnen und Politiker, und mehrere von ihnen liess das Modell einer Klitoris offenbar völlig ratlos. Das ist wenig erstaunlich: Tatsächlich wurde die Klitoris in ihrer anatomischen Gesamtform erst vor einundzwanzig Jahren, das heisst: im Jahr 1998 (!) entdeckt. Wenn man bedenkt, wie auffällig sich das Organ seit eh und je bemerkbar macht, ist das unfassbar. Tatsächlich hat die Unsichtbarkeit der Klitoris nichts mit Ignoranz und Desinteresse zu tun. Sie ist im Gegenteil die Folge einer aggressiven Politik der ideologischen Auslöschung. Das eigentliche Problem ist nicht, dass es zu wenig Wissen gibt, sondern dass es eine lange Tradition gibt, die auf die Verstümmelung der gesamten weiblichen Genitalien abzielt. Wer sexuelle Aufklärung betreiben will, muss deshalb auch diese Tradition mit in den Blick nehmen.

Vom Teufelsmal zur Rassentheorie

Zum Einstieg empfiehlt sich ein Buch der Politikwissenschaftlerin und Illustratorin Liv Strömquist. In der Graphic Novel «Der Ursprung der Welt» gibt sie einen erhellenden Überblick über die Geschichte der Vulva. Das Buch ist gut recherchiert und macht auf leicht verständliche Weise sichtbar, wie die ideologische Vereinnahmung der weiblichen Geschlechtsteile unsere Geschlechterordnung bis heute bestimmt. Auf die wahnwitzigen Theorien aus der Zeit der Hexenverfolgungen, in denen die weiblichen «Ausstülpungen» als Teufelsmale galten, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Zu leicht kann man sie auf eine längst überwundene Schreckensherrschaft der katholischen Kirche abschieben. Brisanter sind die Fälle aus Wissenschaft und Philosophie. So hat zum Beispiel der einflussreiche französische Zoologe Georges Cuvier sich intensiv mit der Vulva einer Frau aus Südafrika auseinandergesetzt. Saartje Baatrman war zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Sklavin nach London gebracht worden und wurde dort für ihre grossen inneren Schamlippen berühmt. Sie wurde ausgestellt und konnte gegen Eintritt bewundert werden. Als sie starb, konservierte Cuvier ihre Schamlippen für Forschungszwecke. Laut seiner Theorie waren grosse Schamlippen ein Zeichen für «rassische Unterlegenheit und allgemeine Verderbtheit». Züchtige weisse Frauen zeichneten sich ihm zufolge durch unscheinbare Geschlechtsteile aus.

Ursprung allen Übels

Der amerikanische Arzt und Erfinder der Cornflakes, John Harvey Kellogg, vertrat einige Jahrzehnte später die Idee, dass die Klitoris und insbesondere die «Klitorisstimulation» Ursache und Ursprung aller möglicher Leiden war – von Krebs bis Wahnsinn. Als medizinische Massnahme empfahl er, die Klitoris mit Karbolsäure wegzuätzen. In England ging man noch einen Schritt weiter. Der britische Arzt Isaac Baker-Brown war nur einer von vielen, die gegen alle möglichen Leiden die Kliteriodektomie propagierten. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die operative Entfernung der Klitoris eine verbreitete Praxis in Europa.

Die Frau soll das Gegenstück zum Mann bilden

Dieser Blick auf die Frau bestimmte auch das 20. Jahrhundert. So war Jean-Paul Sartre, der in gewissen Kreisen bis heute als intelligenter Denker wahrgenommen wird, in anatomischen Angelegenheiten komplett verwirrt. In seinem wichtigsten Werk, «Das Sein und das Nichts» (1943), schreibt er, das «Sexualorgan der Frau» sei «vor allem ein Loch», weshalb «die Frau ihre Lage als einen Ruf» empfinde, eben weil sie «durchlöchert sei»: «Die Frau an sich ruft nach dem fremden Fleisch, mit dem sie durch Eindringen und Auflösen in Seinsfülle verwandelt werden soll.» Eine seltsame Idee, die mit der materiellen Wirklichkeit des weiblichen Körpers, mit den zahlreichen Falten, Drüsen und Ausstülpungen wenig zu tun hat. Aber Sartres Phantasie macht auf plumpe Art deutlich, warum die Materialität der weiblichen Sexualorgane so vehement geleugnet und attackiert wird: Die Frau soll das Gegenstück zum Mann bilden. Die männlichen Organe sind das Mass aller Dinge, die Frau hingegen soll nur in Beziehung zum Mann, ihre Sexualität nur in Beziehung zur männlichen Sexualität gedacht werden.

Sigmund Freuds fixe Idee

Wer in Strömquists Gruselkabinett der Genitalverstümmelung fehlt, ist Sigmund Freud. Er gehört aber unbedingt dazu, auch weil sein Einfluss auf unser Denken bis heute so prägend ist. Ausgerechnet Freud, der zeigte, dass die sexuelle Identität nicht angeboren, sondern erlernt ist. Ausgerechnet Freud, der die Erotik aus dem biologistischen und moralischen Korsett des 19. Jahrhunderts befreite. Ausgerechnet dieser Freud war von der Idee des Phallus so besessen, dass er für alles andere blind war. Seine Schnapsidee vom Penisneid schwirrt noch heute in vielen – auch in wenig belesenen – Köpfen herum. Die weibliche Identität ist bei ihm zutiefst vom Mangel bestimmt. Der Penisneid ist sogar die Ursache für den weiblichen Kinderwunsch, denn der erwünschte Sohn kann der Mutter zumindest kurzfristig den fehlenden Penis ersetzen.

Flechten und Weben

Das klingt skurril, aber noch skurriler ist folgende Phantasie, die Freud in einer Vorlesung von 1933 mit dem vielsagenden Titel «Über die Weiblichkeit» formulierte: Die Frau sei so beschämt von der Tatsache, dass sie keinen Penis habe, dass sie diesen Ort des Mangels – eben die weibliche Scham – unbedingt bedeckt halten wolle. Seit Urzeiten. Aus dieser Not sei sie, die eigentlich auf Grund ihres Penismangels gar nicht zu Erfindungen fähig sei, ausnahmsweise erfinderisch geworden: «Man meint, dass die Frauen zu den Entdeckungen und Erfindungen der Kulturgeschichte wenig Beiträge geleistet haben, aber vielleicht haben sie doch eine Technik erfunden, die des Flechtens und Webens.» Während ein echter Penis als Voraussetzung für Innovation und Kreativität gilt, so ermöglicht der Penisneid immerhin noch einen klitzekleinen Beitrag. So stellt sich der Erfinder der Psychoanalyse die Welt vor. Und vor seinem rein männlichen Publikum kommentiert er seine Spekulation kokett: «Wenn Sie diesen Einfall als phantastisch zurückweisen und mir den Einfluss des Penismangels auf die Gestaltung der Weiblichkeit als fixe Idee anrechnen, dann bin ich natürlich wehrlos.»

Schamlippen statt Scham: Her mit den Plakaten!

Heute wissen wir, dass auch Menschen ohne Penis sehr wohl zu kreativen Erfindungen fähig sind. (Maria Beasley: Das Rettungsboot, Alice Parker: Die Zentralheizung, Melitta Benz: der Kaffeefilter etc. etc.). Es ist also an der Zeit, den selbstgeflochtenen Lendenschurz fallenzulassen und sich einmal anzuschauen, was dann wirklich zum Vorschein kommt. Deshalb wären die von Funiciello vorgeschlagenen Plakate ein enormer Gewinn: Einfach mal zu wissen, wie Menschen eigentlich gebaut sind. Einfach mal den eigenen Horizont etwas zu erweitern. Einfach mal zu akzeptieren, dass es neben den Penis-Menschen auch noch andere, interessante Varianten gibt. Allerdings sollten diese Plakate nicht nur in Männer-WCs aufgehängt werden. Und warum sollte man sich auf die Klitoris beschränken? Ein bisschen Aufklärung in Sachen Geschlechtsteile wäre auch für Frauen und Mädchen aufschlussreich und könnte vielleicht sogar der zunehmenden Mode der Schamlippen-Verkleinerungen – dieser neusten Variante der Genitalverstümmelung – etwas entgegensetzen. Wäre es nicht schön, wenn wir uns statt an Prinzessin Elsa, Barbie und Wonder Woman an der keltischen Superheldin Morrigan orientieren würden, von der es heisst, dass ihre Schamlippen so lang waren, dass sie ihr bis zu den Knien hingen?
Ach nein – es kommt natürlich nicht auf die Länge an. Das haben wir doch mittlerweile kapiert!
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    Martina Süess ist Literaturwissenschaftlerin und Autorin des Buches «Führernatur und Fiktion. Charismatische Herrschaft als Phantasie einer Epoche». Sie arbeitet als Dozentin, Journalistin und Radiomacherin. Interessensbindung: Martina Süess ist eine Frau.

      Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Robert Ruoff, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Matthias Zehnder.

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    4 Meinungen

    • am 5.11.2019 um 12:29 Uhr
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      Danke für die zusätzlichen Gedanken und Informationen. Ich hatte den Vorschlag von Frau Tamara Funiciello in der Presse auch erst mit Unverständnis zur Kenntnis genommen.

    • am 5.11.2019 um 16:41 Uhr
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      Ein grossartiger, bereits seit Jahrhunderten überfälliger Artikel! Nicht nur aber besonders für Männer jeglichen Alters, besonders aber für die Jüngeren, die von ihrem natürlichen Sexualtrieb – sehr oft ungewollt oder aus Unwissenheit – zu Vergewaltikern werden.
      Sexualkunde als Unterrichts- Pflichtfach unter Einschluss der Klitoris-Funktion bei normal entwickelten Mädchen – wovon die allermeisten Männer bis ins hohe Alter keine oder nur unzureichende Ahnung haben – beginnend bereits in der Primarstufe, müsste längst und überall eine Selbstverständlichkeit sein!
      Dieser Meinung ist ein soeben 86 Gewordener – zumindest seit rund 50 Jahren!

    • Portrait_Gnther_Wassenaar
      am 6.11.2019 um 13:58 Uhr
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      Der Artikel zeigt mir vor allem eines – die grenzenlose Dummheit, insbesondere in den westlchen Ländern. Als Kind der DDR, in der der Biologie-Unterricht ab 1959 genereller Bestandteil JEDER Schulausbildung war, wurde auch über die Geschlechtsorgane unterrichtet. Hinzu kam, dass in diesem Land z.B. FKK allgegenwärtig war, sich immer mehr ausbreitete, Nacktheit nichts anstößiges war und als Normalität angesehen wurde.

      Demgegenüber haben in der westlichen Welt sogenannte «Feministinnen» um zweifelhafte «Gleichberechtigungen gestritten – so auch für den Puff für Frauen – was mit Gleichberechtigung der FRAU absolut nichts zu tun hat, die bei gleicher Bezahlung und gleichen Rechten der Frau beginnt und endet.
      Bei einer Vergewaltigung wurde der Verdächtige mit sofortiger Wirkung in U-Haft genommen – dann auch zeitnah verurteilt. Erfahrungen in diesem Zusammenhang zeigen mir, dass die Gesetze in diesem Staat immer noch männlich sind.

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