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Geschlechtergerecht oder «Verschandelung von Sprache» © Lukas Plewnla/flickr/cc

Betet, freie Schweizerinnen, betet!

Jürgmeier /  Die ÖsterreicherInnen sind (wieder einmal) schneller als die Schweizer; seit 2012 besingen sie neben den Söhnen auch die Töchter.

Am ersten August wird er gesummt und gebrummt, an unzähligen Feiern zwischen Genf und Diessenhofen, Basel und Ranzo, Zürich und Allmendingen – der Schweizer Psalm. Aus Zehntausenden von eidgenössischen Männer- und Frauenkehlen erklingt das «Trittst im Morgenrot daher… Betet, freie Schweizer, betet! … Gott, den Herrn, im hehren Vaterland.» Bei unseren östlichen AlpennachbarInnen wäre so eine maskuline Ode nicht mehr möglich; seit zwei Jahren singen die Österreicher und Österreicherinnen die Nationalhymne geschlechtergerecht, allerdings nicht ganz einstimmig.

«Rund 800 Sprachfachleute, darunter landesweit bekannte Personen aus den Bereichen Kultur, Forschung und Medien», berichtet «FrauenSicht – Das führende Portal für engagierte Frauen und Männer» am 21. Juli dieses Jahres, «verlangen in einem offenen Brief an Bildungs- und Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) und an Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner (ÖVP), den ‹Wildwuchs durch das sprachliche Gendern› in offiziellen Texten zu beenden.» Ihr Protest richtet sich gegen einen Leitfaden des Frauenministeriums, in dem «Doppelformen (Schülerin und Schüler), geschlechtsneutrale Ausdrücke, unpersönliche Formulierungen und mit Einschränkungen Schrägstrich und Binnen-I» empfohlen werden.

Ähnliche Reaktionen wären auch in der Schweiz – wo das Stichwort «Gender» aus dem Schullehrplan 21 gestrichen werden musste – denkbar, wenn aus dem von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft lancierten Wettbewerb für eine neue Landeshymne ein Textvorschlag hervorginge, der solchen Empfehlungen genügte.

Frauen inklusive
Gerne wird darauf verwiesen, die explizite Erwähnung des anderen Geschlechts sei unnötig; allen, insbesondere auch selbstbewussten Frauen, sei doch klar, dass mit Formulierungen wie «die Lehrer», «die Politiker», «die Maurer», «die Künstler» oder «die Mörder» immer auch «die Frauen» mitgemeint seien. Diese Argumentation unterschlägt gegenteilige historische Erfahrung. Das Frauenstimmrecht musste 1971 per Volksabstimmung ausdrücklich in der Bundesverfassung verankert werden, nachdem alle vorausgehenden Versuche gescheitert waren, die Frauen «auf dem Wege einer zeitgemässen Interpretation des Begriffes ‹Schweizer›», u.a. im damaligen Gleichheitsartikel, zu Bürgerinnen mit allen politischen Rechten zu machen (www.parlament.ch). 1928, zum Beispiel, erklärte der Bundesrat auf eine entsprechende Petition, wer behaupte, der Begriff «Stimmbürger» solle auch die Frauen einschliessen, überschreite «die Grenzen der zulässigen Interpretation und begeht damit einen Akt, der dem Sinne der Verfassung widerspricht… Die Beschränkung des Stimmrechts auf die männlichen Schweizer Bürger ist ein fundamentaler Grundsatz des eidgenössischen öffentlichen Rechts» (u.a. www.frauennet.ch). In der neusten Bundesverfassung von 1999 werden Frau und Mann nun gleichermassen sowie gleichberechtigt genannt. Hätten die Frauen mit dem Stimmrecht warten sollen, bis alle beim Begriff «Stimmbürger» Frauen mit-denken?

Sprachliche Feinheiten
Immer wieder wird die sprachliche Sichtbarmachung beider Geschlechter – Die Überwindung der simplen Geschlechterdualität durch Geschlechtervielfalt auch in der Sprache ist noch reine Utopie, auch wenn im Schwedischen eben gerade ein drittes Geschlecht eingeführt worden ist («Tages-Anzeiger», 30.7.2014) und Australien das schon Anfang Jahr getan hat. – lächerlich gemacht oder als «Verschandelung von Sprache» gegeisselt. Die Doppelformen (Politikerinnen und Politiker) werden als zu schwerfällig verworfen – weil sie Texte um ein paar Zeichen, mündliche Äusserungen um einige Sekunden verlängern, und das im Twitter-Zeitalter –, das schlanke Binnen-I (DiebInnen) als grammatikalisch falsch und unlesbar, ja, als sprachzerstörerisch bezeichnet.

Die offiziellen Hüterinnen (die Hüter sind natürlich mitgemeint) sprachlicher Korrektheiten sind da gelassener. Zwar stufte die Duden-Sprachberatung 2001 das Binnen-I noch als Verstoss gegen die Regel ein, «dass es Grossschreibung nur am Wortanfang (eines Substantivs) geben kann», 2013 aber erklärte der Rat für deutsche Rechtschreibung, das Binnen-I sei «weder richtig noch falsch, da es einen graphostilistischen Charakter habe und sich somit im Bereich der Textgestaltung bewege» (zitiert nach https://de.wikipedia.org/wkiki/Binnen-I).

Werden juristisch abgesicherte Verträge erst wegen gendergerechter Formulierungen unverständlich, wissenschaftliche Terminologie kompliziert und literarische Texte schwer erschliessbar – nur als Folge des Versuchs, alle Geschlechter ins Spiel zu bringen? Und wo sind die gegenderten Sprachästhetinnen, wenn die gemeine Amtssprache Sachverhalte zur Unkenntlichkeit umschreibt, Wissenschaftlerinnen so reden beziehungsweise schreiben (nicht etwa in Latein) und Literatur Aussagen so verdichtet, dass die meisten kaum etwas verstehen? Und im Übrigen: Wo immer Sprache sperrig wird, irritiert und einen stocken lässt, vermittelt sie den Inhalt fast besser, als wenn wir Texte (scheinbar) mit grosser Leichtigkeit verstehen, ohne ihren Inhalt (mühsam) reflektieren zu müssen.

Wenn die Grammatik die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt
Was erstaunt, ist die emotionale Heftigkeit vieler Sprachfreundinnen, in einer Frage, die einige immer wieder für längst erledigt erklären. Als die Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek den Volksmusiksänger Andreas Gabalier per Facebook an die in die österreichische Nationalhymne aufgenommenen Töchter erinnert – «weil dieser sich geweigert hatte, den neuen Text zu singen» –, erhält sie sogar Morddrohungen («FrauenSicht»). Geht es tatsächlich nur um unterschiedliche sprachästhetische Empfindungen? Warum dann die Aufruhr gegen die an sich elegante Variante mit dem grossen «I»? Weil sie gegen traditionelle Grammatik verstösst?

Sprache ist auch Denken, und wo Gedanken beziehungsweise gesellschaftliche Verhältnisse sich ändern, muss auch die Sprache eine andere werden, im Voraus oder im Nachhinein. Andernfalls werden sprachliche Ästhetik und Grammatik zu Ideologien, die soziale Veränderungen verhindern oder sabotieren. Ist das die beabsichtigte Nebenwirkung sprachästhetischer Proteste gegen gendergerechte Schreibweisen? Geht es in letzter Konsequenz weniger um den Schutz «gewachsener» (männlicher) Sprachformen, sondern um die Erhaltung beziehungsweise Wiederherstellung traditioneller Geschlechter-Verhältnisse? Hebammen bleiben Frauen, und Fussballer sind Männer.

Wenn es den Empörten ausschliesslich um sprachliche Eleganz und grammatikalische Korrektheit ginge, müssten sie ohne Wenn und Aber damit einverstanden sein, die traditionelle Variante durch die sprachästhetisch gleichwertige, generell weibliche Form – welche die Männer mit-meint – zu ersetzen, so dass es (für die nächsten paar hundert Jahre) nur noch Journalistinnen, Parlamentarierinnen, Ärztinnen, Diebinnen und Päpstinnen gäbe.

Genau das plante der Wädenswiler Gemeinderat 1993 mit einer neuen Gemeindeordnung, die nur noch weibliche Formulierungen enthielt. Die Stimmbürgerinnen stoppten den Versuch in einer Volksabstimmung. Ein auf der Website «http://board.gulli.com» veröffentlichtes Experiment ergibt kein wirklich überraschendes Resultat. «Lehrer sagt: ‹Alle Schüler stehen bitte auf.› Die ganze Klasse steht auf. Lehrer: ‹OK setzt euch wieder hin. Jetzt stellen sich alle Schülerinnen auf den Stuhl.› Nur die Mädchen stellen sich auf die Stühle. Ein Junge wollte sich auch auf den Stuhl stellen, wurde dann aber ausgelacht.» Und Berufsschülerinnen von mir protestierten dagegen, von mir als Winzerinnen bezeichnet zu werden; die Winzerin, erklärten sie mir, sei die Frau des Winzers, sie aber wollten als Berufsleute ernst genommen und deshalb Winzer genannt werden.

Mann sein heisst, nicht Frau sein
Diese Beispiele machen deutlich, noch ist es eine uneingelöste Vision, dass bei der Nennung des einen Geschlechts das andere ganz selbstverständlich mit-gemeint ist. Insbesondere Männer fühlen sich durch weibliche Begriffe nicht angesprochen. Weil Männlichkeit wesentlich durch die Formel «Mann sein heisst, nicht Frau sein» konstituiert wird. Weil «dem Mann» bei der Befreiung auf das traditionell «Weibliche» hin der Verlust von Privilegien und gesellschaftlicher Macht sowie die Entwürdigung zum «schwachen Weib» droht, während die Befreiung «der Frau» auf das traditionell «Männliche» hin mehr sozioökonomische(n) Einfluss und Macht verspricht.

Erst wenn wir uns beim Begriff «Hausfrau», ohne intellektuelle Anstrengung, Frauen und Männer vorstellen, bei den Worten Winzer oder Maurerin, Informatiker oder Hebamme, Päpstin oder Präsident an sie, ihn, hen (das schwedische Pronomen für Transsexuelle oder Menschen mit unbestimmtem Geschlecht) oder viele andere Geschlechtervarianten denken, wird es bedeutungslos sein, welche Begriffe wir verwenden. Nicht länger nötig, alle anderen dauernd mit zu nennen. Weil ganz selbstverständlich immer alle mitgemeint sind. Bis dahin aber – betet, freie Schweizerinnen und Schweizer, betet!


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Gleiche Rechte für Frauen und Männer

Gleichstellung und Gleichberechtigung: Angleichung der Geschlechter – nicht nur in Politik und Wirtschaft.

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4 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 3.08.2014 um 11:43 Uhr
    Permalink

    800 meist österreichische Akademiker, darunter mehrheitlich Frauen, verwahren sich in einer Petition gegen die genderideologische Misshandlung der Sprache, vgl. den Artikel von heute in der «Sonntagszeitung".

  • am 3.08.2014 um 14:29 Uhr
    Permalink

    Zum Artikel «Betet, frei Schweizerinnen, betet":
    "Schweizerinnen, Schweizer, betet» (statt «Betet, freie Schweizer, betet")
    So einfach wäre das!
    Hubert Spörri, Wettingen

  • am 4.08.2014 um 16:32 Uhr
    Permalink

    @Hubert Spörri: elegant, wirklich.

    Nun aber: wie integrieren Sie die Göttin ohne dem Monotheismus abzuschwören. Oder bringen Mutter, Vater, Sohn und Tochter nicht DEN (männlich?, trans?) heiligen Geist zum verzweifeln. Wie deklinieren Sie Trinität weiter?
    Dann müssen Sie das Vaterland ausweiten ohne mit einem Mutterland den Kolonialismus zu legitimieren.

    Vielleicht wäre die Lösung doch, die heilige Familie Privatsache werden zu lassen und Lennos IMAGINE zu übernehmen, sobald das (c) abgelaufen ist – um eine genuin schweizerische Überlegung ins Spiel zu bringen.

    Dann bringt das Singen endlich die Synthese aller Nationalhymnen-Konflikte:
    "…Imagine there’s no countries
    It isn’t hard to do
    Nothing to kill or die for
    And no religion, too…"

    Werner T. Meyer

  • am 28.12.2014 um 18:09 Uhr
    Permalink

    Haben wir den keine anderen Sorgen? Haben wir Frauen so wenig Sebstwertgefühl?

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