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Gret Haller © Andreas Zimmermann

Souveränität kann man teilen – mit Gewinn

Jürg Müller-Muralt /  In der Europäischen Union wird eine neue Form von Staatlichkeit erfunden: Gret Haller über Europa als Ort der Freiheit.

Es ist nicht die Zeit der grossen europapolitischen Würfe, eher umgekehrt: Die Europäische Union ist im Selbstverteidigungsmodus. Der Brexit nagt am Selbstverständnis, die EU-Skepsis erfasst immer breitere Bevölkerungsschichten, der Nationalismus feiert Auferstehung. Doch gleichzeitig ist die EU auch ein funktionierendes Gebilde – aber eben kein fertiges. «Vielmehr ist diese, biologisch gesprochen, etwa im Zustand eines Pubertierenden, der seinen Eltern schlaflose Nächte macht. Sie ist auch kein Staat, aber doch ein staatsähnliches Gebilde, ein Bündnis von autonomen Demokratien, die einander keineswegs nur grün sind», schrieb der Literaturwissenschaftler Peter von Matt jüngst in der NZZ.

«Mühsam von Krise zu Krise»

Auch für den Historiker Karl Schlögel ist die EU «nicht ein ‹finales›, perfektes Europa, sondern ein sich mühsam von Krise zu Krise, von Stresstest zu Stresstest tastendes, sich immer neu behauptendes Gebilde, nicht logisches Resultat eines einmaligen Gründungsaktes». Es bilde sich in der EU «eine Realität, für welche Historiker künftiger Generationen den angemessenen Namen noch finden werden» (Süddeutsche Zeitung, 12.09.2016).

In Europa entwickelt sich also nicht einfach ein neuer Staat, vor allem kein neuer allmächtiger, gar diktatorischer Superstaat, wie viele EU-Gegner meinen. Denn wäre die EU so bedrohlich mächtig, wäre ein Brexit gar nicht möglich, und es gäbe nicht die bunte politische Vielfalt in den Mitgliedstaaten. Es entwickelt sich vielmehr eine völlig neue Form der Staatlichkeit, deren Ausprägung sich erst allmählich und langsam entwickelt.

An diese offene Entwicklung knüpft auch Gret Haller in ihrem neuen Buch an («Europa als Ort der Freiheit: Die politische Rolle des Individuums in Zeiten des Nationalismus»). Die frühere SP-Politikerin, Nationalratspräsidentin, Botschafterin, Publizistin und heutige Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik verfolgt zwei historische Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert, die einiges zum Verständnis der in der EU entstehenden politischen Kultur beitragen können: Die Entwicklung des demokratischen Nationalstaats und des föderalistischen schweizerischen Bundesstaates.

Individuelle Freiheit statt Gruppenidentität

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Zeit reif für eine neue Form der Staatlichkeit, eben des Nationalstaats. Die bisherigen Loyalitäten zu Religion, Volksstämmen, Sippe, Familie, Ständen und damit letztlich zur Monarchie gerieten ins Wanken. Mit der Aufklärung begann sich ein individualistisches, universalistisches und egalitäres Menschenbild durchzusetzen. Es ist die Geburtsstunde des Staatsbürgers (die Staatsbürgerin stösst erst später dazu).

Gruppenidentitäten und -abhängigkeiten wurden zurückgedrängt zugunsten individueller Freiheit. Diese politische Individualisierung ist gemäss Haller die Voraussetzung dafür, dass sich Staatsbürger ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Standes, ihrer religiösen Verankerung und ihrer gesellschaftlichen Stellung von Gleich zu Gleich begegnen können. «Dieser Austausch bildet die Grundlage für den demokratischen Pluralismus, also für die Demokratie als solche.» Jeder Bürger, jede Bürgerin handelt politisch selbstverantwortlich, selbst wenn sie sich freiwillig zu Parteien und Bewegungen zusammenschliessen. «Politische Individualisierung schlägt sich bis heute nieder in der Trias von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.»

Erweiterte Unionsbürgerschaft?

Die EU hat den Denkansatz der politischen Individualisierung mit der individuellen Unionsbürgerschaft bereits im Vertrag von Maastricht 1992 aufgegriffen und mit der europäischen Bürgerinitiative im Vertrag von Lissabon 2007 erweitert. Alle Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten besitzen die EU-Unionsbürgerschaft. Daraus folgt eine Reihe von Rechten auch in anderen EU-Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit sie nicht haben. Haller macht auf die kaum bekannte Tatsache aufmerksam, dass der Gedanke der politischen Individualisierung mit dem Brexit gar eine Erweiterung erfahren hat: Es sind nämlich in dieser Sache zwei europäische Bürgerinitiativen hängig. Die eine Initiative verlangt, im Hinblick auf den Brexit die Unionsbürgerschaft von der Staatsangehörigkeit abzukoppeln. Das zweite Begehren will Bürgern eines aus der EU austretenden Staates ihre Rechte als Unionsbürger weiterhin garantieren. Das ist gemäss Haller deshalb von Bedeutung, «weil damit der Gedanke der politischen Individualisierung erstmals auf einen neuen Bereich ausgeweitet worden ist», nämlich auf das Verhältnis zwischen der EU und jenen Europäerinnen und Europäern, deren Herkunftsland der Union nicht mehr angehört.

Nationalismus will wieder Gruppenidentität

Das ist zwar Zukunftsmusik, aber es zeigt doch, dass auch Kräfte am Werk sind, welche die europäische Integration vorantreiben wollen. Doch im Augenblick scheinen diese auf einigermassen verlorenem Posten zu kämpfen. Der verstärkt um sich greifende Nationalismus richtet sich gegen die politische Individualisierung und versucht, den Staatsbürger, die Staatsbürgerin wieder in irgendwelche Gruppenidentitäten hineinzuzwingen. Nicht mehr alle Staatsbürger bilden im Verständnis von Populisten und Nationalisten das Volk, sondern sie verstehen unter dem «Volk» die Gemeinschaft der ethnisch-kulturellen Herkunft: «Ein Volk von Staatsbürgern besteht aus Individuen, die ganz unterschiedlichen Kulturen und Religionen angehören können und deren ethnisch-kulturelle Herkunft keineswegs übereinstimmen muss», schreibt Haller. Für populistische Regierungen dagegen gehören nur noch jene Bürger zum Volk, «die ihren moralisch begründeten Alleinvertretungsanspruch anerkennen und zur homogenen Masse werden».

Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsteilung

Nationalisten betonen auch eine möglichst absolute nationale Souveränität. Es ist ein Anspruch, der längst nicht mehr den realen Gegebenheiten entspricht. In Zeiten der Globalisierung nimmt die Abhängigkeit gerade des Kleinstaates von Entscheiden der Grossmächte, von internationalen Organisationen, Staatengruppen und vor allem global agierenden Konzernen zu. Nationale Souveränität gibt es schon lange nur noch in Teilbereichen. Vor allem ist das absolute Souveränitätsdenken geschichtsblind: Die Schweiz ist ein Musterbeispiel dafür, dass kluge Souveränitätsteilung zu einem Souveränitätsgewinn führt.

Das ist der zweite wichtige Argumentationsstrang von Gret Haller. Sie publiziert zwei längere Beiträge des Schweizer Kulturphilosophen Denis de Rougemont von 1965 und des Schweizer Staatsrechtlers Alfred Kölz von 2002, die sich beide mit Fragen des Souveränitätsgewinns durch Souveränitätsteilung beschäftigen. Beide Texte bilden einen Brückenschlag zur heutigen Entwicklung der Europäischen Union. Denis de Rougemont vergleicht die Schweiz von 1815 ganz direkt mit dem Europa von 1965, als er seinen Text schrieb: «Die Kantone waren souverän und damit Herr über ihre eigene Wirtschaftspolitik. Man zählte damals in der Schweiz elf verschiedene Grössen für den Fuss, 60 verschiedene Arten von Ellen, 87 verschiedene Masse für Getreide, 81 für Flüssigkeiten und 50 verschiedene Gewichte.»

Das Paradox der Bundestaatsgründung

De Rougemont bezeichnet die Gründung des schweizerischen Bundesstaates als eigentliches Paradox: Man habe nicht nur von den Kantonen keinen Verzicht auf ihre Souveränität verlangt, sondern man habe diese Souveränität sogar garantiert: «Und wer ist die Garantiemacht? Es ist gerade jene Macht, die aus dem Zusammenschluss eines Teiles der garantierten Souveränitäten entsteht!» Mit anderen Worten: Kluge Souveränitätsteilung vermehrt die Souveränität statt sie zu vermindern.

Identität ist nicht nötig

Oft wird gegen eine weitere europäische Integration ins Feld geführt, Europa sei viel zu vielfältig, um weiter zusammenzuwachsen, es gebe keine europäische Identität. Das ist auch nicht nötig. Man kann so etwas wie eine politische Gemeinschaft bilden, ohne auf die wechselseitige Fremdheit, die auf völlig unterschiedlicher historischer Entwicklung beruht, aufzugeben. Die Schweiz hat es vorgemacht. Und noch heute ist es so: Die meisten Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich zunächst als Berner oder Genfer oder Tessiner und erst in zweiter Linie als Schweizer, schreibt auch Peter von Matt im bereits erwähnten Text: «Ein deutscher Diplomat, der auch in der Schweiz tätig war, hat mir einmal erzählt, dass er eine vornehme Waadtländerin als ‹Schweizerin› angesprochen habe, worauf sie erwiderte: ‹Monsieur, je suis Vaudoise!› Was ihn sehr verwunderte.»

Denis de Rougemont wiederum bringt 1965 das schöne Beispiel: «Ein jodelnder Appenzeller Bauer, ein sozialistischer Arbeiter aus Bern und ein anglomaner Bankier aus Genf hätten einander nicht viel zu sagen und verstünden einander nur mit Mühe», wenn sie einander zufällig träfen. Sie sind allein verbunden durch die eidgenössischen Institutionen, die ihnen garantieren, ihre Unterschiedlichkeit zu leben. Auch sie, schreibt Gret Haller, «sind Vorfahren der Europabürger, die trotz gegenseitigem Fremdbleiben gemeinsam Verantwortung tragen für die europäischen Institutionen».

Ein wichtiger Zwischenruf

Gret Hallers Buch ist ein wichtiger Zwischenruf in der in Ritualen und Stereotypen erstarrten schweizerischen Europadebatte, eben gerade weil es kein Beitrag zur aktuellen europapolitischen Agenda ist. Hallers Werk bewegt sich vielmehr auf staatstheoretischer und staatsphilosophischer Ebene. Und es ruft zudem in Erinnerung, dass das blosse Starren auf den derzeitigen Zustand der EU dem Prozesscharakter der europäischen Einigung nicht gerecht wird. Es braucht mitunter etwas Abstand von der Aktualität. Peter von Matt meint gar, uns sei «das Gefühl für die Dauer in der Politik abhandengekommen». Deshalb müsse man, «wenn es um die Organisation des modernen Europa geht, darauf achten, ob die Diskussionspartner ein Grundwissen haben von der wahren Geschwindigkeit in der Geschichte», denn die «wirklichen Abläufe geschehen gletscherhaft langsam in der Tiefe». Diesen hohen Anspruch erfüllt Gret Haller.


Gret Haller: «Europa als Ort der Freiheit: Die politische Rolle des Individuums in Zeiten des Nationalismus». Stämpfli Verlag, Bern 2018, 112 Seiten, CHF 29.-

Weiterführende Informationen


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5 Meinungen

  • am 5.04.2018 um 13:45 Uhr
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    Ohne das Buch von Gret Haller bereits gelesen zu haben (es liegt auf dem Nachtisch):

    "Das Paradox der Bundestaatsgründung» mit Denis de Rougemont als Zeitzeuge ist für mich eines der heikelsten Kapitel des Schweizer Bundesstaats überhaupt. Denn:
    – Wir haben jenes Kraft-lose Konstrukt in Vielem bis heute nicht überwunden.
    – Wir haben die Bundesverfassung grosso modo auf dem Stand von 1848 (inzwischen 170 Jahre lang) stehen lassen. Die Total-Revision steht aus + ist für mich überfällig.
    – Wir haben den Mut nicht, zur gesellschaftlichen Entwicklung seither zu stehen.

    In diesem Sinn würde ich mir heute (viel) mehr Mut wünschen als damals bei der Gründung. Ich hoffe, dass der bevorstehende Abgang von Blocher per Ende 2019 von der politischen Bühne uns diese Freiheit endlich gibt, nachdem er die Entwicklung der Schweizer Gesellschaft zu einer echten Demokratie nun über 30 Jahre lang aufhielt.

  • am 5.04.2018 um 16:35 Uhr
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    Noch habe ich das Buch von Gret Haller nicht gelesen. Aber bereits die Zusammenfassung von Jürg Müller-Muralt erlaubt einen kritischen Kommentar ohne einen Hüftschuss zu riskieren.
    Der Europa-Parlamentarier Alexander Graf Lambsdorff äusserte in seinem Vortrag von Juni 2017 in Bern einige hoffnungsvolle Erwartungen für die Entwicklung der EU.

    Meine an ihn gerichtete Frage, über die Rolle der Schweiz in Europa und insbesondere, ob er sich EU-Bürgerechte, vergleichbar mit den Bürgerrechten eines Schweizerbürgers, vorstellen könne, beantwortete Hr. Lambsdorff unsicher. Verständlich! Ich hätte wissen müssen, dass er die Bürgerrechte eines Schweizers gar nicht kennt. Hierin liegt auch das Problem der angeblich «pubertierenden» EU, dem «Bündnis autonomer Demokratien».
    Ein heutiger Schweizerbürger hat Souveränitätsrechte in der Gemeinde, im Kanton und auf Landesebene. Welche dieser Rechte würde er als «Europäer» aufgeben müssen oder welche allenfalls dazu gewinnen? Und wer würde darüber bestimmen? Nicht alle Kräfte in der heuteigen EU sind an europäischen Bürgerrechten eines Schweizers interessiert. Aber kein Schweizer wird diese Rechte ohne Not und ohne demokratische Abstimmung aufgeben. Gleiches gilt wohl für alle Bürger europäischer Nationalstaaten. Die EU ist eben noch nicht das «Europa der Freiheit», das Gret Haller vorschwebt. Ob sie es überhaupt werden will? Das sind wohl die Zweifel der künftigen Bürger Europas! Die EU müsste Europa der Bürger werden wollen.

  • am 5.04.2018 um 22:51 Uhr
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    Die EU wird die Pubertät nicht überstehen. Die Pubertät kann nur überstanden werden, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Ein intaktes Elternhaus u. eine solide finanzielle Grundlage. Beides ist im heutigen Europa nicht vorhanden! Unter dem Stichwort der „politischen Individualisierung“ sollen sich kranke Staaten-Glieder zu einer Schicksalsgemeinschaft weiter zusammenfinden. „Nie mehr Krieg“ lautete der Hilferuf vor 65 Jahren, als die Montanunion geschaffen wurde. Das „Friedensprojekt“ EU soll dazu führen, dass selbstständige, unabhängige Staaten sich selbst aufgeben, zu Gunsten der „individuellen Unionsbürgerschaft“. Dies ist ein Widerspruch in sich selbst, die individuellen Rechte sollen gefördert werden, indem die bisherigen Rechte, gewährleistet durch ein funktionierendes Staatswesen, aufgegeben werden! Mit der EMRK geniesst das Völkerrecht Vorrang und der Staat und seine Gewaltentrennung werden obsolet. Die schlechten Elemente können nicht unter Kontrolle gehalten werden, sie erhalten gar zusätzliche Rechte, weil das Recht des Individuums über das Recht des Nationalstaates gesetzt wird. Gemäss Art. 8 der EMRK geniesst ein krimi-nelles Element Schutz (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens). Der Krimi-nelle darf also kriminell sein, niemand hindert ihn daran. Die Unionsbürgerschaft führt zur Verwässerung von Pflichten aufgrund der uneingeschränkten indiv. Rechte, welche der Unionsbürger erhalten soll! So kann kein staatsähnliches Gebilde auf Dauer bestehen.

  • am 7.04.2018 um 15:36 Uhr
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    Ja, da freut sich Carlos Puigdemont als Unionsbürger, da steht das Post-Franco Spanien plötzlich im Abseits, aber auch Brüssel muss hi nter die Bücher, siehe auch heutiger Leitartikel NZZ.

  • am 8.04.2018 um 22:46 Uhr
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    „Europa als Ort der Freiheit“, die EU als „Friedensprojekt“: das kam mir immer wie eine Art Religion vor. Weshalb steht dieses Europa dann mit der NATO an den Grenzen Russlands? Ist das vielleicht „Freiheit“ oder „Frieden“? Oder vielleicht ist Russland einfach ein ganz bōser Feind der europāischen Friedens- und Freiheitsideologie? Ich versteh das nicht. Und der Jugoslawienkrieg? Das war auch ein europāisches Friedens- und Freiheitsprojekt? Die NATO: eine Friedens- und Freiheitsunion? Eine Frage des richtigen Glaubens?

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