Türkei: Oppositionelle vermuten Schein-Putsch
Die Opposition, einschliesslich der Kurden, hatte sich gegen den Militärputsch gewandt. Jetzt fürchtet sie sich vor Verfolgung.
Es begann am Freitag, 15. Juli, mit einem in jeder Beziehung sehr ungewöhnlichen Putsch, der eher einer Satire gleicht. Um den Verkehr der grössten türkischen Metropole Istanbul lahmzulegen, hatten laut offiziellen Angaben Truppen der Rebellen gegen 21.30 Uhr die zwei Brücken über den Bosporus gesperrt. In Wirklichkeit nicht ganz gesperrt, denn die jungen Soldaten, die mit Panzern aufmarschierten, sperrten den Verkehr nur auf der einen, auf der asiatischen Seite. Privatwagen oder Personen konnten von der europäischen Seite herkommend ungehindert die Brücken befahren oder ... besetzen.
Gleich danach flogen Jets der Luftwaffe im Tiefflug über Istanbul und Ankara, durchbrachen die Schallmauer, liessen Wände und Scheiben zittern, als bezweckten sie bewusst gleich Millionen von Bürgern in Angst und Schrecken zu versetzen. Schliesslich rollten Panzer auf Strassen der zwei Grossstädte, die Flughäfen des Landes gerieten unter Kontrolle der Putschisten. Alles mutete also zunächst wie ein ganz «normaler» Staatsstreich an.
Dreimal (1960, 1971 und 1980) hatte die türkische Armee mit Waffengewalt die verfassungsmässige Ordnung des Landes gestürzt. Seltsamerweise haben die Rebellen vom 15. Juli die Erfahrungen ihrer Vorgänger ignoriert. Sie agierten jedenfalls anders: Die Politiker, die sie mit ihrer Aktion doch hätten stürzen wollen, interessierten die Putschisten offensichtlich nicht. Weder in Ankara noch in Istanbul wurde auch nur ein einziges Regierungsmitglied oder ein einziger Oppositionspolitiker festgenommen oder in den Hausarrest gesetzt.
Anders als ihre Vorgänger, die traditionell um die «Legalität» ihrer Aktion bemüht waren und die Gunst zumindest eines Teils der Bevölkerung für ihre «Sache» zu gewinnen suchten, schienen sich die Rebellen diesmal kaum um die Meinung der Bürger zu kümmern. Als wollten sie vielmehr von Beginn an alle gegen sich aufbringen, liessen sie das Parlament bombardieren. Soldaten stürmten das Gebäude der öffentlichen Radio- und Fernsehanstalt und deklarierten ihre Absicht, «Rechtsstaatlichkeit und den Respekt der Menschenrechte» in der Türkei wieder herzustellen. Sie verkündeten eine landesweite Ausgangssperre.
Zur selben Zeit rief Präsident Recep Tayyip Erdoğan aus dem Ferienrort Marmaris über FaceTime den Privatsender CNN Türk an und rief das Volk so auf, auf Strassen und Plätzen die «Demokratie zu verteidigen». Dann konnte der Präsident offenbar ungestört, rund eine Stunde lang, nach Istanbul fliegen, obwohl die Flugwaffe gemäss offiziellen Angaben bei diesem Streich führend war. Auch sein Regierungschef Yildirim Binali konnte über die Medien ungehindert einen Aufruf an die Nation verkünden: Die Putschisten seien eine kleine Gruppe von zweitrangigen Offizieren, beschwichtigte er seine Zuhörer über den zweitwichtigsten Privatsender NTV.
Dann warfen Erdoğan und Yildirim sogleich dem Prediger Fethullah Gülen und seiner islamischen Bewegung vor, den Militärputsch von den USA aus eingefädelt zu haben.
Fethullah Gülen war nicht bekannt für Beziehungen zur Armee
Der inzwischen 75-jährige Prediger Fethullah Gülen lebt seit 1999 in den USA. Kurz zuvor war er von der noch mächtigen Generalität angeklagt worden, in der Türkei die Bewegung des politischen Islam zu leiten und die säkuläre Staatsordnung stürzen zu wollen. Noch vor Beginn seines Prozesses konnte Fethullah Gülen nach Pennsylvania fliehen. Seine Bewegung, die Fethullahis, verfügen aber nach wie vor über ein wirtschaftlich-religiöses Imperium, dem Wohlfahrtseinrichtungen und Unternehmen von Albanien bis Zentralasien unterstehen. Sie besitzen Hunderte von Schulen und Dutzende von Universitäten rund um den Globus. Nach dem ersten Wahlsieg der AKP 2002 führten Erdoğan und Gülen in enger Zusammenarbeit die Regierungsgeschäfte, bis das grosse Zerwürfnis in der Bewegung des politischen Islam 2013 die zwei Ex-Alliierten zu erbitterten Feinden machte. Die Fethullahis blieben einflussreich in den Medien und im Erziehungsministerium, in der Justiz und in der Polizei. Zur Armee aber hatten sie, so weit bekannt, keinerlei Verbindung.
Samstags, bei Tagesanbruch, wurde bekannt gegeben, der Putschversuch gegen die türkische Regierung sei gescheitert.
Erbarmungslose Verhaftungswelle
Seit dem dilettantischen Putschversuch am letzten Wochenende liess Präsident Erdoğan verhaften:
- 6'308 Armeeangehörige, darunter 103 Generäle, mehrere Admirale und Brigadiers.
- 755 Richter sowie Staatsanwälte.
Absetzen oder suspendieren liess Erdoğan:
- weitere 2'745 Richter – das entspricht fast einem Fünftel der schätzungsweise 15'000 Richter des Landes.
- über 15'000 Lehrer, Lehrerinnen und andere Angestellte unter dem Bildungsministerium (gemäss der unabhängigen Presseagentur Bianet).
Am Mittwoch, 20. Juli, hat Erdoğan allen Akademikern in Hochschulen verboten, ins Ausland zu reisen.
Die Hochschulverwaltung (YÖK) hat fast 1'600 Dekane und Rektoren aller Universitäten aufgerufen, ihren Rücktritt einzureichen. Insgesamt soll die Zahl der Suspendierungen aus dem öffentlichen Dienst innerhalb weniger Tage auf rund 30'000 angestiegen sein.
CNN meldete am Mittwoch insgesamt bereits 50'000 Entlassungen und Verhaftungen im Land.
Eine seltene Gelegenheit zur Versöhnung vertan
Für einen kurzen geschichtlichen Moment hätte sich Erdoğan eine seltene Gelegenheit geboten, den «Putsch» zu einer nationalen Versöhnung zu nutzen und als Präsident des gesamten türkischen Volks aufzutreten. Denn aufgeschreckt vom vermeintlichen Putschversuch hatten sämtliche Parlamentsfraktionen, einschliesslich der Kurden, in Einmütigkeit eine Machtübernahme durch die Armee scharf verurteilt. Das war einmalig in der Türkei, widerspiegelte aber die Stimmung im Land. Nach dem Putsch von 1980 und der Ära der unermesslichen Repression, die danach folgte, will die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nicht noch einmal von einer Generalität regiert und herumkommandiert werden.
Kemal Kilicdaroglu, Chef der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), erklärte letzten Samstag im Parlament, das Land brauche nicht weniger, sondern mehr Demokratie. In die gleiche Kerbe schlug Selahattin Demirtas von der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP): Seine Partei wolle und könne «einen Putsch unter keinen Umständen akzeptieren. Aus Prinzip nicht.»
Zur gleichen Zeit hatten auch die religiösen Führer des Landes den Putschversuch verurteilt: «Terror und Gewalt können niemals als legitim betrachtet werden», hiess es in einer Erklärung, welche der Vorsitzende des (hauptsächlich für türkische Sunniten zuständigen) Amts für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) Mehmet Görmez, der in Istanbul residierende ökumenische Patriarch der Orthodoxen, Bartholomeus, der höchste Rabbi der jüdischen Gemeinde in der Türkei, Rav Izak Haleva, der amtierende Patriarch der Armenier der Türkei, Aram Atesyan sowie der Vorsitzende der Assyrischen Katholischen Gemeinde, Yusuf Cetin, gemeinsam unterzeichnet haben. Tausende Bürger folgten dem ersten Aufruf Erdoğans und gingen auf die Strassen «für die Demokratie».
Doch Erdoğan und seine Regierung wollten diese seltene Gelegenheit zur Versöhnung offensichtlich nicht nutzen. Erdoğan fühlt sich als Sieger. Die Ereignisse hatten mit einer Putsch-Komödie begonnen und enden nun zunehmend in einer Tragödie.
Schwerwiegende Folgen
«Nach dem 15. Juli wird nichts mehr so sein wie früher», erklärte Ministerpräsident Binali Yildirim vor einer grossen Menschenmenge auf dem Kizilay-Platz im Zentrum Ankaras letzten Sonntag. Und: «Lasst uns diesen Feiertag auskosten.» Seit Samstagnachmittag feiern die Menschen fast ohne Unterbruch landesweit wie in Trance den «Sieg über die abtrünnigen Militärs», «ihren Sieg der Demokratie». Viele tragen türkische Fahnen bei sich und skandieren: «Die Türkei gehört uns» und ... «Allah ist gross». Es sind in ihrer absoluten Mehrheit Anhänger der regierenden AKP-Partei.
Auch Präsident Erdoğan pries ausschliesslich die AKP-Anhänger als Verteidiger der Demokratie und forderte sie letzten Montag einmal mehr zur Wachsamkeit auf. Die Gefahr durch die Putschisten sei noch nicht gebannt, sagte er. Und: «Aufhören gilt nicht. Wir lassen die öffentlichen Plätze nicht leer.» «Wir wollen die Todesstrafe, die Putschisten an den Galgen», skandierte die Menschenmenge. Erdoğan versprach, ihre Forderung genauestens zu berücksichtigen: «In einer Demokratie darf die Forderung des Volkes nicht ignoriert werden.»
Die Folgen dieser seltsamen Ereignisse sind schwerwiegend. Aussenpolitisch gilt der Ruf der Türkei als stabilisierender Faktor an den Toren eines kriegserschütterten Nahen Ostens als gefährdet. Die Beziehungen zur USA sind gespannter denn je zuvor, seit der türkische Arbeitsminister öffentlich erklärte, die USA stünden hinter dem Putsch. Ankara fordert vehement Gülens Auslieferung in die Türkei. Sollte die Türkei, wie von Erdoğan versprochen, die Todesstrafe wieder einführen, wäre auch das (bisher positive) Verhältnis zur EU dahin.
Gefährlicher dürften die innenpolitischen Risiken sein: Der inhaftierte Vier-Sterne-General, der die zweite Armee kommandierte, war zuständig für die Grenzregion zu Syrien und dem Irak. Wird er nun von einem Erdoğan-treuen und womöglich religiösen General ersetzt? Die Offiziere der türkischen Armee, der zweitgrössten in der Nato, waren bislang als Verfechter des Säkularismus bekannt. Die Fernsehbilder von Dutzenden Offizieren, die in Handschellen abgeführt werden, sowie die Bilder von offensichtlich misshandelten Soldaten sind demütigend für eine Armee, die traditionell im Ruf stand, die bestorganisierte und meist respektierte Institution des Staates zu sein. Und eine gedemütigte Armee ist kein gutes Omen für die Zukunft.
Graben in der Gesellschaft weitet sich aus
Seit der Gründung der Republik Türkei 1923 war die Gesellschaft zwischen Islamisten und ihren Gegnern gespalten. Der Graben scheint nach dem letzten Wochenende wieder unüberbrückbar: Rund die Hälfte der türkischen Bevölkerung, die das Lager um Erdoğan bilden, ist fest davon überzeugt, dass abtrünnige Offiziere gemeinsam mit «ihren westlichen Alliierten» wie 2013 in Ägypten nun auch die demokratisch gewählte türkische Regierung stürzen wollten. Sie fühlt sich bedroht und ist bereit, die vermeintliche Gefahr mit fragwürdigen Mitteln wie der Wiedereinführung der Todesstrafe abzuwenden.
Die zweite Hälfte der Bevölkerung ist genauso überzeugt, dass der «Putsch» von Erdoğan und seinem engsten Kreis inszeniert worden sei, um alle kritischen Stimmen ein für allemal zum Verstummen zu bringen. Angst vor diesem Erdoğan-Kreis geht nun um. Die für ein demokratisches Regime beispiellose Hexenjagd der letzten Tage bestätigt sie in dieser Angst. Liberale, Demokraten, Linke, Kemalisten und Fethullahis: Sie alle fühlen sich bedroht von einem Präsidenten, dem sie alles zutrauen. Gab es letzten Freitag einen Putsch der Militärs oder war es ein von Erdoğans Hof inszeniertes Spiel? Vieles ist den jetzt Bedrohten unklar.
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Amalia van Gent war von 1988 bis 2009 Türkei-Korrespondentin der NZZ und beschäftigt sich seither intensiv mit dem Kurdenkonflikt. Im Rotpunktverlag ist ihr Buch «Leben auf Bruchlinien – die Türkei auf der Suche nach sich selbst» erschienen.
Weiterführende Informationen
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7 Meinungen
Meist bin ich auch enttäuscht von der Quaität der Nachrichtensendungen insbesondere im Infotainement-Stil.
Der Zischtigsclub war aber von hoher Qualität, eine Ausnahme, die sich hoffentlich verdichten möge!
Es gelang kompetente Leute in die Sendung zu holen :-)
Und wie will eigentlich Erdowahn die 15'000 Lehrer und Bildungsangestellte ersetzen, die angeblich Gülen-Symphatisanten sind, aber vermutlich, dank ihrer Aufgeklärtheit, seine Art von Demokratie ablehnen. Da muss ja ein ganzes Schulsystem zusammenbrechen. Oder standen da schon15'000 Salafisten Schlange? Wie sehr Aufklärung Not tut, kann man daran ersehen, dass auch noch im 21.Jahrhundert mit der bescheidenen Intelligenz eines Grossteils des Volkes effektive Politik betrieben werden kann.
Es geht nicht nur darum, die agressiven Muslime zu diskreditieren, alle Religionen müssen in die Schranken gewiesen werden. Sind etwa die Waffenexporteure und die Neokolonialisten in der 3.Welt vom christlichen Glauben beseelt?? Man kann mit dem Ausmisten auch bei uns beginnen, und das würde uns glaubwürdiger machen.
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