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Über 70'000 Menschen leben im Lager Al Hol, darunter ausländische IS-Anhänger und ihre Kinder. © NYT

Die Kinder des IS haften für ihre Eltern

D. Gschweng /  Viele Staaten scheuen sich, Staatsbürger aus IS-Gefangenenlagern zurückzunehmen. Besonders die Kinder sind derzeit akut bedroht.

Die Hälfte der Kinder in den Gefangenenlagern ist unter fünf Jahre alt, der Grossteil unter zwölf. Unter den Gefangenen in den Flüchtlingslagern Al Hol, Ain Issa und Roj im nördlichen Syrien sind nach Angabe von «Save the Children» etwa 9‘000 Kinder aus 40 Ländern. Ihre Eltern reisten vor wenigen Jahren in den Jihad, nun sitzen sie in kurdischen Lagern. Ein Teil der Kinder ist dort zur Welt gekommen, die meisten sind jünger als der Krieg in Syrien, dessen Auswirkungen sie täglich spüren. Etwa 300 Kinder sind dieses Jahr bereits verhungert oder an Infektionskrankheiten gestorben, weil es zu wenig Nahrung und Medikamente gibt. Im Lager Al Hol sind im vergangenen Winter mehr als 30 Kinder erfroren.

«Terroristenkinder» will keiner haben

Aufrufe der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) an die Herkunftsländer der Eltern, ihre Staatsbürger zurückzunehmen, waren bisher wenig erfolgreich. Die Bemühungen waren allenfalls halbherzig. Es fehle eine diplomatische Vertretung in Syrien, wehrte beispielsweise Deutschland ab. Andere Staaten prüften die Möglichkeit, IS-Angehörigen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Die USA wollten sich nicht erpressen lassen. Frankreich schlug vor, ausländischen IS-Kämpfern im Irak den Prozess zu machen, wo sie eventuell die Todesstrafe erwartet.

Kaum ein Staat wollte für die Kinder Verantwortung übernehmen. Von Anfang 2019 bis Mitte Oktober konnten weniger als 350 von ihnen Syrien verlassen, listet «Save the Children» auf. Fast die Hälfte nahm Kasachstan auf, 74 der Kosovo, 17 Kinder gingen nach Frankreich, noch weniger in andere europäische Länder. «Save the Children» hat einen dringenden Appell an alle Länder gerichtet, deren Staatsbürger in kurdischen Lagern gefangen gehalten werden. Kinder ausländischer Staatsbürger sollten in Sicherheit gebracht werden, so lange es eine Gelegenheit dazu gebe, argumentierte die Organisation. Am Krieg trügen sie keine Schuld, aber ihre Lage werde täglich unsicherer.


Angehörige von mutmasslichen IS-Kämpfern leben in den drei Lagern Ain Issa, Al Hol und Roj, von denen Al Hol das grösste ist. (BBC, grössere Auflösung)

Die SDF haben angekündigt, dass der Kampf gegen den islamischen Staat neben der Invasion der Türkei zur Nebensache werde. Zur Bewachung der IS-Gefangenen fehlen ihr die Ressourcen. Ob sich die Türkei oder die syrischen Streitkräfte zukünftig um die Gefangenen und ihre Kinder kümmern werden, ist unklar.

Aus dem Lager in Ain Issa, in dem sich laut «Save the Children» 249 Frauen und 700 Kinder befanden, die mit dem Islamischen Staat in Verbindung gebracht werden, sind nach Medienberichten fast 800 Gefangene entkommen, weil die SDF die Bewachung eingestellt haben. Eine britische Organisation, die von der «BBC» zitiert wird, spricht von etwa 100 Geflohenen.

Kinder haften für ihre Eltern

Wohin sie gegangen sind, ist unbekannt. Die Sicherheitsdienste der Herkunftsländer befürchten schon länger, dass IS-Angehörige im Nahen Osten untertauchen und womöglich unerkannt in ihre Heimatländer zurückkehren könnten. Auch wenn ihre Namen bekannt sind, zögerten die meisten Staaten bisher, sie aufzunehmen, und spielten auf Zeit.

Der Schweizer Bundesrat hat sich dagegen ausgesprochen, die geschätzt 20 erwachsenen Jihadreisenden in die Schweiz zurückkehren zu lassen. Die Trennung von Mutter und Kindern ist aber kaum praktikabel, die kurdischen Bewacher lehnen sie ab. In Folge muss das Kindeswohl hinter den nationalen Sicherheitsinteressen zurückstehen. Die Befürchtung ist, dass viele radikalisierte IS-Anhängerinnen und -Anhänger in Freiheit bleiben oder nur kurze Haftstrafen antreten, weil ihnen Straftaten nur schwer oder gar nicht nachzuweisen sind.

IS-Mitglieder radikalisieren sich in den Lagern weiter

Vom Islamischen Staat losgesagt haben sich nach Berichten nur wenige Gefangene, die damit ein grosses Risiko eingehen. Der Grossteil vor allem der weiblichen Gefangenen ist radikaler als je zuvor. «Abtrünnigen» drohen Gewalt, Folter und Tod. So wurde nach Angaben der deutschen «Tagesschau» im Lager Al Hol eine indonesische Frau ermordet, weil sie mit den Medien gesprochen hatte.

Was aus den Kindern des IS wird, wenn sie die kommenden Jahre überleben, ist nicht schwer zu erraten. Die Reportage der «Tagesschau» zeigt Erschreckendes: Kinder, die Hinrichtungen in Ordnung finden und zurück zum IS wollen, statt im Lager zu leben.


Reportage der «Tagesschau» aus dem Lager Al Hol.

Verschiedenen Ländern ist inzwischen aufgegangen, welches Risiko die Gefangenen darstellen. Belgien, Frankreich und Deutschland bemühen sich nach einem Bericht des «Guardian», zumindest einige Frauen und Kinder zurückzuholen. Gesicherte Daten scheint es jedoch wenig zu geben. So berichtete der «Guardian» am 18. Oktober von etwa 30 britischen Kindern, die in Syrien festgehalten werden.

Eine Woche später waren es – gemäss «Save the Children» – bereits doppelt so viele. Zwei, schreibt die britische Zeitung, seien inzwischen nach Grossbritannien gebracht worden. Besonders schwierig ist die Lage bei Waisenkindern, bei denen die Nationalität nur schwer festgestellt werden kann. Darüber, wie viele Angehörige von IS-Kämpfern sich in Syrien befinden, gehen die Schätzungen ebenfalls weit auseinander, die für diesen Bericht benützten Quellen gehen von 3‘000 bis zu 15‘000 Personen aus.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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4 Meinungen

  • am 27.10.2019 um 16:04 Uhr
    Permalink

    Es ist unverständlich, dass die reiche Schweiz nicht bereit und in der Lage ist, die rund 20
    Kinder von schweizerischen Eltern, oder mindestens einem Elternteil, in unser Land zurückzuholen. In vielen Fällen ist es besser die Kinder von den Eltern zu trennen, damit sie nicht weiter unter dem unkontrollierten schlechten Einfluss aufwachsen. Die Väter, aber auch die Mütter sind freiwillig dem IS beigetreten. Sie sollen dafür die Verantwortung übernehmen. Ob man sie in die Schweiz einreisen lässt, muss die politische Behörde oder ein Gericht entscheiden.
    Wie steht es eigentlich mit den Kirchen. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie sich für diese Problematik stark engagieren.

  • am 29.10.2019 um 09:07 Uhr
    Permalink

    … klassische Scheinargumentation, indem der emotionale Kinder-Mütter-Frame gesetzt wird, es jedoch darum geht den Frauen der IS-Terrororganisation einen Persilschein auszustellen und diese in die Schweiz zu holen.

    Entgegen den Vorbringen haben sich die weiblichen Mitglieder des IS nicht erst in Gefangenschaft radikalisiert, sondern schlossen sich aufgrund ihres radikalen Weltbild der IS-Terrororganisation an und gerieten deswegen in Gefangenschaft.

    Es ist jedoch zutreffend, dass Aussitzen keine Lösung ist. Formel zuständig wäre primär Syrien (s.o. Landkarte), sekundär die Schweiz, vgl. Art. 6 StGB Räumlicher Geltungsbereich gemäss staatsvertraglicher Verpflichtung verfolgte Auslandtaten.

    Siehe auch
    Telepolis: Lager al-Hol: Das Gewaltregime der IS-Anhängerinnen
    https://www.heise.de/tp/features/Lager-al-Hol-Das-Gewaltregime-der-IS-Anhaengerinnen-4544223.html

    Sonntagszeitung: Wichtige Schweizer Exponenten wollen IS-Frauen zurückholen
    https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/nicht-ohne-meine-mutter/story/27975298

    Infosperber: So durchschaut man politische Manipulationen
    https://www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Albrecht-Muller-Wir-man-Manipulationen-durchschaut

  • am 29.10.2019 um 09:13 Uhr
    Permalink

    Kinder sollten bei ihren Eltern bleiben dürfen – da keiner die Eltern haben will, haben auch die Kinder wenig Chancen. Mir scheint es unverständlich, das wir keine kleinen Kinder aufnehmen wollen. Wenn wir nicht wollen, dass diese Kinder weiterhin dem doch sehr starken Einfluss der Eltern ausgesetzt sind, müssen wir sie aber von ihren Eltern trennen und zurückholen!
    Ein böses Dilemma.

  • DSCF8389
    am 29.10.2019 um 09:54 Uhr
    Permalink

    @Peter Herzog Sie werfen mir vor, «den emotionalen Kinder-Mütter-Frame» zu setzen, wobei es mir in Wirklichkeit darum ginge «den Frauen der IS-Terrororganisation einen Persilschein auszustellen». Beides triff nicht zu.

    Ich stelle dar, dass es in Syrien (im Moment weitgehend rechtsfreier Raum) ausländische Staatsbürger gibt, die an Leib und Leben bedroht sind. Verbrechen haben sie nicht begangen, dazu sind sie zu jung. Diese Kinder haben Rechte, die sich nicht vom Status der Eltern ableiten.

    Von einem «Persilschein» (übrigens ein sehr starkes Framing) ist nicht die Rede. Kein einziger Staat hat bisher in Betracht gezogen, IS-Anhängerinnen straffrei davonkommen zu lassen.

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